Patriarchen und Propheten
Kapitel 19: Die Rückkehr nach Kanaan
Nachdem er den Jordan überquert hatte, “kam Jakob wohlbehalten zu der Stadt Sichem, die im Lande Kanaan liegt”. 1.Mose 33,18. Gott hatte sein Gebet bei Bethel, ihn in Frieden wieder in die Heimat zu bringen, erhört. Eine Zeitlang blieb Jakob im Tale von Sichem. Hier hatte ja vor über hundert Jahren Abraham sein erstes Lager aufgeschlagen und im Lande der Verheißung den ersten Altar errichtet. Jakob “kaufte das Land, wo er sein Zelt aufgeschlagen hatte, von den Söhnen Hemors, des Vaters Sichems, um hundert Goldstücke und errichtete dort einen Altar und nannte ihn ‘Gott ist der Gott Israels.’” 1.Mose 33,19.20. Wie Abraham errichtete er neben seinem Zelt einen Altar und versammelte um ihn alle Hausgenossen zum Morgen- und Abendopfer. Hier grub er den Brunnen, zu dem siebzehn Jahrhunderte später der Heiland kam, Jakobs Nachkomme, um in der Mittagshitze auszuruhen und seinen Zuhörern von dem Wasser zu erzählen, “das in das ewige Leben quillt”. Johannes 4,14. PP 178.1
Der Aufenthalt Jakobs und seiner Söhne bei Sichem endete mit Gewalttat und Blutvergießen. Über die einzige Tochter der Familie kam Schande und Kummer, zwei Brüder wurden in Mord verwickelt, eine ganze Stadt geriet in Verderben und Gemetzel, und das alles als Vergeltung für die Zügellosigkeit eines unbesonnenen jungen Mannes. Es begann damit, daß Jakobs Tochter Dina ausging, “die Töchter des Landes zu sehen”. 1.Mose 34,1. Sie wagte es, sich in Geselligkeit mit den Gottlosen einzulassen, und das hatte solche schrecklichen Folgen. Wer sein Vergnügen bei denen sucht, die keine Ehrfurcht vor Gott haben, begibt sich auf Satans Gebiet und fordert Versuchungen geradezu heraus. PP 178.2
Simeons und Levis hinterlistige Grausamkeit hatte schon ihren Grund. Aber in der Art und Weise, wie sie mit den Einwohnern Sichems verfuhren, begingen sie eine schwere Sünde. Wohlweislich hatten sie ihre Absicht vor Jakob geheimgehalten, so daß ihn die Nachricht von ihrer Rache mit Entsetzen erfüllte. Zutiefst getroffen von der Tücke und Gewalttätigkeit seiner Söhne sagte er nur: “Ihr habt mich ins Unglück gestürzt und in Verruf gebracht bei den Bewohnern dieses Landes ..., und ich habe nur wenige Leute. Wenn sie sich nun gegen mich versammeln, werden sie mich erschlagen. So werde ich vertilgt samt meinem Hause.” 1.Mose 34,30. Sein Kummer über diese Bluttat und sein Abscheu werden daran deutlich, daß er sich fast fünfzig Jahre später in Ägypten auf dem Sterbebett noch einmal darauf bezog: “Die Brüder Simeon und Levi, ihre Schwerter sind mörderische Waffen. Meine Seele komme nicht in ihren Rat, und mein Herz sei nicht in ihrer Versammlung ... Verflucht sei ihr Zorn, daß er so heftig ist, und ihr Grimm, daß er so grausam ist.” 1.Mose 49,5-7. PP 178.3
Jakob hatte Ursache, sich tief gedemütigt zu fühlen. Das Wesen seiner Söhne offenbarte Grausamkeit und Verlogenheit. Es gab falsche Götter im Lager, und bis zu einem gewissen Grade gewann der Götzendienst sogar in seiner Familie Boden. Würde der Herr nicht mit ihnen verfahren, wie sie’s verdienten, wenn er sie der Rache der umwohnenden Völker preisgab? PP 179.1
Dem gramgebeugten Jakob befahl der Herr, sich südwärts nach Bethel zu wenden. Dieser Ort erinnerte den Erzvater nicht nur an sein Gesicht von den Engeln und an Gottes gnädige Verheißungen, sondern auch an das eigene Gelübde, daß der Herr sein Gott sein solle. Ehe er aber nach diesem geheiligten Ort aufbrach, wollte er seine Familie vom Götzendienst reinigen. Er befahl deshalb allen Lagerbewohnern: “Tut von euch die fremden Götter, die unter euch sind, und reinigt euch und wechselt eure Kleider, und laßt uns aufbrechen und nach Bethel ziehen, daß ich dort einen Altar errichte dem Gott, der mich erhört hat zur Zeit meiner Trübsal und mit mir gewesen ist auf dem Wege, den ich gezogen bin.” 1.Mose 35,2.3. PP 179.2
Tief bewegt erzählte ihnen Jakob noch einmal das Erlebnis seines ersten Aufenthaltes bei Bethel. Als einsamer Wanderer hatte er das Zelt des Vaters verlassen, um sein Leben zu retten. Hier war ihm der Herr in der Nacht erschienen. Während er so Rückschau auf die wunderbare Führung Gottes hielt, wurde er weich und auch seine Kinder ergriff ein besänftigender Einfluß. Es war ihm auf die wirksamste Weise gelungen, sie für die Zeit der Ankunft in Bethel auf die gemeinsame Anbetung Gottes vorzubereiten. “Da gaben sie ihm alle fremden Götter, die in ihren Händen waren, und ihre Ohrringe, und er vergrub sie unter der Eiche, die bei Sichem stand.” 1.Mose 35,4. PP 179.3
Gott ließ Furcht über die Einwohner des Landes kommen, daß sie nicht wagten, das Blutbad von Sichem zu rächen. Und so erreichten die Wanderer Bethel unbehelligt. Hier erschien der Herr Jakob abermals und erneuerte ihm die Bundesverheißung. “Jakob aber richtete ein steinernes Mal auf an der Stätte, da er mit ihm geredet hatte.” 1.Mose 35,14. PP 180.1
In Bethel hatte Jakob den Verlust einer Frau zu beklagen, die lange als geachtetes Mitglied der väterlichen Familie bei ihnen gewesen war, Rebekkas Amme Debora. Sie hatte ihre Herrin von Mesopotamien nach Kanaan begleitet. Diese betagte Frau empfand Jakob wie ein kostbares Band, das ihn mit der Jugendzeit verknüpfte und besonders mit seiner Mutter, die ihn so innig geliebt hatte. Debora wurde unter derart großen Trauerbekundungen bestattet, daß die Eiche, unter der man sie begrub, fortan Klageeiche genannt wurde. Das Andenken an ihren lebenslangen treuen Dienst und die Trauer über sie wurde für wert geachtet, im Wort Gottes festgehalten zu werden. PP 180.2
Von Bethel bis Hebron waren es nur zwei Tagereisen. Doch sie brachten durch Rahels Tod tiefes Leid über Jakob. Zweimal sieben Jahre hatte er um sie gedient, aber seine Liebe hatte ihm alle Mühsal leicht gemacht. Wie tief und beständig diese Liebe gewesen war, zeigte sich erst viel später, nämlich als Joseph seinen kranken Vater kurz vor dessen Tode besuchte. Da sagte der betagte Erzvater im Rückblick auf sein Leben: “Als ich aus Mesopotamien kam, starb mir Rahel im Land Kanaan auf der Reise, als noch eine Strecke Weges war nach Ephratha, das nun Bethlehem heißt.” 1.Mose 48,7. Aus seinem langen, mühseligen Leben rief er sich einzig den Verlust Rahels in die Erinnerung zurück. PP 180.3
Vor ihrem Tode schenkte sie einem zweiten Sohne das Leben. Mit verlöschendem Atem nannte sie das Kind “Ben-Oni”, Schmerzenskind. Sein Vater aber rief es “Ben-Jamin” (1.Mose 35,18), Sohn meiner rechten Hand oder meiner Stärke. Rahel wurde begraben, wo sie starb, und zu ihrem Gedächtnis über ihrem Grabe ein Denkmal errichtet. PP 180.4
Auf dem Wege nach Ephratha besudelte Ruben durch eine Untat Jakobs Familie mit einem Makel und verlor das Erstgeburtsrecht. PP 180.5
Schließlich war Jakob am Ende seiner Reise angelangt und “kam zu seinem Vater Isaak nach Mamre ..., das ist Hebron, wo Abraham und Isaak als Fremdlinge gelebt hatten”. 1.Mose 35,27. Hier blieb er während der letzten Lebensjahre seines Vaters. Für den gebrechlichen, blinden Isaak bedeuteten die freundlichen Aufmerksamkeiten des lange entbehrten Sohnes Trost in den Jahren seiner Einsamkeit und Hilflosigkeit. PP 181.1
Am Sterbebett ihres Vaters trafen sich Jakob und Esau wieder. Wie hatte der ältere Bruder einst auf diesen Augenblick gewartet! Das würde die Gelegenheit zur Rache sein. Aber inzwischen hatten sich seine Gefühle grundlegend gewandelt. Jakob war vollauf zufrieden mit dem geistlichen Segen des Erstgeburtsrechtes und überließ dem älteren Bruder den Reichtum des Vaters, das einzige Erbe, das Esau erstrebte und schätzte. Zwar waren sie einander nicht mehr durch Eifersucht oder Haß entfremdet, doch trennten sie sich: Esau zog zum Gebirge Seir zurück. Gott hatte Jakob reich gesegnet. Zu den höheren Gütern, die er erstrebt hatte, kam auch irdisches Gut. Der Besitz der beiden Brüder “war zu groß, als daß sie beieinander wohnen konnten; das Land, darin sie Fremdlinge waren, vermochte sie nicht zu ernähren wegen der Menge ihres Viehs”. 1.Mose 41.39.40.42.43. Diese Trennung lag in Gottes Absicht mit Jakob. Da sich die Brüder in ihrer Glaubenshaltung so sehr unterschieden, wohnten sie besser weit voneinander entfernt. PP 181.2
Esau wie Jakob waren in der Gotteserkenntnis unterwiesen worden, und beiden stand es frei, in Gottes Geboten zu wandeln und seine Gnade zu erfahren. Aber sie trafen nicht beide diese Wahl. Die Brüder waren von jeher verschiedenartige Wege gegangen, die sie innerlich immer weiter voneinander trennten. PP 181.3
Es war auch kein Akt der Willkür, daß Gott Esau von den Segnungen des Heils ausschloß. Die Gnadengaben durch Christus stehen allen Menschen offen. Es gibt keine Erwählung, sondern nur die eigene Entscheidung, zu leben oder zu verderben. Gott hat in seinem Wort die Bedingungen niedergelegt, unter denen jeder zum ewigen Leben erwählt werden kann: Gehorsam gegen seine Gebote durch den Glauben an Christus. Von Gott wird erwählt, wer wesensmäßig mit seinem Gesetz übereinstimmt und tut, was er fordert; solch ein Mensch kann in das Reich der Herrlichkeit eingehen. Christus selbst sagte: “Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Wer dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen.” Johannes 3,36. — “Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr! in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel.” Matthäus 7,21. Wo es um das Anliegen der ewigen Errettung geht, ist dies die einzige Erwählung, von der das Wort Gottes spricht. PP 181.4
Wer wird denn erwählt? Jeder, der aufrichtig um seine Errettung bemüht ist. Wer die Waffenrüstung anlegt und den guten Kampf des Glaubens kämpft. Wer wacht und betet, in der Heiligen Schrift forscht und die Versuchung flieht. Wer im Glauben beharrt und jedem Wort aus Gottes Mund gehorsam ist. Die Voraussetzung zur Erlösung ist für alle geschaffen, aber erleben werden sie nur diejenigen, welche die Bedingungen erfüllt haben. PP 182.1
Esau legte keinen Wert auf die Segnungen des Bundes. Er zog die zeitlichen Güter den geistlichen vor, und er bekam ja auch, was er erstrebte. Vorsätzlich trennte er sich vom Volke Gottes. Jakob dagegen erwählte das Erbteil des Glaubens. Er versuchte es zwar durch List und Falschheit zu erlangen, aber Gott fügte es, daß seine Sünde zugleich der Besserung diente. Und trotz allen bitteren Erfahrungen der späteren Jahre verlor Jakob weder das Ziel aus den Augen, noch traf er eine andere Wahl. Er hatte eingesehen, daß er gegen Gott stritt, als er sich mit menschlicher Geschicklichkeit den Segen sichern wollte. Aus jener Nacht des Ringens am Jabbok ging Jakob als ein anderer hervor. Sein Selbstvertrauen war zerbrochen. Fortan bemerkte man nichts mehr von der früheren Verschlagenheit. Statt von Trug und List war sein Leben nun von Klarheit und Wahrhaftigkeit gekennzeichnet. Er hatte gelernt, sich in kindlichem Vertrauen auf den Arm des Allmächtigen zu verlassen und sich in Prüfung und Leiden demütig unter den Willen Gottes zu beugen. Die unedlen Wesenszüge waren im Schmelzofen des Leidens vergangen, das echte Gold geläutert worden, bis der Glaube Abrahams und Isaaks hell aus Jakob leuchtete. PP 182.2
Seine Sünde und die daraus entstehenden Ereignisse brachten leider auch eine Wirkung zum Bösen mit sich. In Charakter und Leben seiner Söhne wurde ihre bittere Frucht sichtbar. Als sie zu Männern herangewachsen waren, traten bei ihnen bedenkliche Fehler zutage. In der Familie wurden die Folgen der Vielehe offenbar. Dieses Übel läßt die Quellen der Liebe versiegen und lockert die heiligsten Bande. Die Eifersucht der verschiedenen Mütter verbitterte das ganze Familienleben. Die Kinder wurden streitsüchtig und wehrten sich gegen Aufsicht, so daß Sorge und Kummer das Leben des Vaters trübten. PP 182.3
Einer aber war so ganz anders — Rahels älterer Sohn Joseph. Seine ungewöhnliche körperliche Schönheit schien ein Spiegelbild seines Inneren zu sein. Rührig und fröhlich bewies der Junge auch schon früh sittlichen Ernst und Festigkeit. Er lauschte den Unterweisungen seines Vaters und gab sich alle Mühe, Gott zu gehorchen. Was später in Ägypten an ihm so angenehm auffiel, Freundlichkeit, Pflichttreue und Wahrhaftigkeit, spürte man schon jetzt im täglichen Leben. Weil seine Mutter tot war, hing er um so inniger am Vater. Und auch Jakob war diesem Sohn seines Alters besonders zugetan. Er “hatte Joseph lieber als alle seine Söhne”. 1.Mose 37,3. PP 183.1
Doch selbst dieses Glück sollte Kummer und Leid verursachen. Freilich war es unklug von Jakob, seine Vorliebe für Joseph so deutlich zu zeigen. Das erregte natürlich die Eifersucht der anderen Söhne. Joseph beunruhigte das schlechte Betragen seiner Brüder sehr. Darum wagte er es, ihnen freundliche Vorhaltungen zu machen. Aber dadurch erweckte er noch mehr Groll und Haß in ihnen. Er konnte ihr sündhaftes Verhalten nicht mit ansehen und sprach mit dem Vater darüber in der Hoffnung, daß seine Autorität sie zur Besinnung brächte. PP 183.2
Jakob war sehr darauf bedacht, weder durch Strenge noch durch Härte ihren Zorn zu reizen. Aber tiefbetrübt äußerte er, wie besorgt er wegen seiner Kinder sei. Er bat sie dringend, doch Rücksicht zu nehmen auf seine grauen Haare, seinem Namen keine Schande zu machen, vor allem aber Gott nicht durch solche Mißachtung seiner Gebote zu entehren. Scheinbar beschämt darüber, daß der Vater um ihre Bosheit wußte, erweckten die jungen Männer den Eindruck, als empfänden sie Reue. Doch verheimlichten sie nur ihre wahren Gefühle, die durch die Bloßstellung um so bösartiger wurden. PP 183.3
Daß der Vater Joseph auch noch einen kostbaren Überrock schenkte, wie ihn eigentlich nur Leute von Rang trugen, war ebenso unklug. In den Augen der Söhne war das ein erneuter Beweis seiner Parteilichkeit. Es weckte den Verdacht bei ihnen, er wolle die älteren Kinder übergehen und das Erstgeburtsrecht dem Sohne Rahels verleihen. Ihr Groll steigerte sich noch, als Joseph eines Tages von einem Traum erzählte, den er gehabt hatte: “Siehe, wir banden Garben auf dem Felde, und meine Garbe richtete sich auf und stand, aber eure Garben stellten sich ringsumher und neigten sich vor meiner Garbe.” 1.Mose 37,7. PP 183.4
“Willst du unser König werden und über uns herrschen?” (1.Mose 37,8) schrien seine Brüder ihn voll Zorn und Mißgunst an. PP 184.1
Bald darauf hatte er einen anderen Traum von ähnlicher Bedeutung, den er ihnen ebenfalls erzählte: “Siehe, die Sonne und der Mond und elf Sterne neigten sich vor mir.” Dieser Traum ließ sich wie der erste mit Leichtigkeit auslegen. Vorwurfsvoll wies ihn sogar der gerade anwesende Vater zurecht: “Was ist das für ein Traum, den du geträumt hast? Soll ich und deine Mutter und deine Brüder kommen und vor dir niederfallen?” 1.Mose 37,9.10. Trotz der scheinbar strengen Worte war er jedoch überzeugt, daß der Herr Joseph die Zukunft offenbart habe. PP 184.2
Als der junge Mann so vor seinen Brüdern stand und sein schönes Gesicht von innerer Erleuchtung durch den Geist Gottes strahlte, konnten selbst sie ihre Bewunderung nicht verbergen. Aber sie wollten ihrem gottlosen Wandel nicht entsagen. Sie haßten diese Unschuld, die ihren Sünden ein Vorwurf war. Derselbe Geist, der bei Kain die treibende Kraft war, stachelte auch sie an. PP 184.3
Um Weideland für die Herden zu finden, mußten die Brüder umherziehen und waren oft alle monatelang von zu Hause fort. Nach den eben erzählten Vorfällen kamen sie in die Nähe von Sichem, wo ihr Vater Land gekauft hatte. Als aber nach geraumer Zeit kein Lebenszeichen von ihnen eintraf, wurde er um ihre Sicherheit besorgt. Er dachte an ihre Grausamkeit, die sie damals an den Einwohnern Sichems verübt hatten. Deshalb schickte er Joseph aus, um sie zu suchen und ihm Nachricht über ihr Ergehen zu bringen. Hätte Jakob die wahren Gefühle seiner Söhne für Joseph gekannt, hätte er ihn keinesfalls ihnen anvertraut. Aber darüber hatten sie wohlweislich geschwiegen. PP 184.4
Fröhlich schied Joseph von seinem Vater, und weder der alte Mann noch der Jüngling hätten sich träumen lassen, was bis zu ihrem Wiedersehen alles geschehen würde. Als Joseph nach langer, einsamer Wanderung nach Sichem kam, fand er seine Brüder und ihre Herden dort nicht mehr vor. Auf Befragen wies man ihn nach Dothan. Über 80 km war er bereits gelaufen und jetzt hatte er noch einmal 25 km vor sich. Aber der Gedanke an die Sorge des Vaters und das Treffen mit den Brüdern, die er trotz ihrer Unfreundlichkeit liebte, ließen ihn seine Müdigkeit vergessen, und er beeilte sich, weiterzukommen. PP 184.5
Seine Brüder sahen Joseph kommen. Aber keiner dachte an den langen Weg, der hinter ihm lag, bis er ihnen begegnen konnte; keinem kam es in den Sinn, daß er müde und hungrig sein mußte und das Recht auf ihre Gastfreundschaft und brüderliche Liebe hatte. Nichts von alledem milderte ihre gehässige Verbitterung. Statt dessen brachte sie der Anblick des Rockes, das Zeichen der väterlichen Liebe, zur Raserei. “Seht, der Träumer kommt daher!” (1.Mose 37,19) höhnten sie. Jetzt brachen Neid und Rachsucht durch, die sie schon lange in ihren Herzen genährt hatten. “So kommt nun und laßt uns ihn töten”, sagten sie, “und in eine Grube werfen und sagen, ein böses Tier habe ihn gefressen; so wird man sehen, was seine Träume sind.” 1.Mose 37,20. PP 185.1
Wäre Ruben nicht gewesen, hätten sie ihren Vorsatz wohl sogleich wahrgemacht. Er jedoch schreckte vor dem Brudermord zurück und schlug statt dessen vor, ihn lebend in eine Grube zu werfen und darin umkommen zu lassen. Insgeheim aber beabsichtigte er, ihn zu befreien und seinem Vater zurückzubringen. Nachdem Ruben alle von seinem Plan überzeugt hatte, ließ er sie stehen, weil er fürchtete, sich nicht mehr beherrschen zu können und so sein Vorhaben zu verraten. PP 185.2
Joseph kam heran. Er war froh, daß er das Ziel seiner langen Reise endlich erreicht hatte, und ahnte nicht, welche Gefahr ihm drohte. Aber statt des erwarteten Grußes erschreckten ihn die zornigen, rachsüchtigen Blicke, die er wahrnahm. Die Brüder packten ihn und rissen ihm den Rock vom Körper. Hohn und Drohungen verrieten ihren grausamen Entschluß. Seine flehentlichen Bitten beachteten sie nicht. Er war völlig in der Gewalt dieser wütenden Männer. Roh schleppten sie ihn zu einer tiefen Grube und warfen ihn hinein. Nachdem sie sich überzeugt hatten, daß es daraus kein Entkommen gab, überließen sie ihn dem Hungertode, aber “sie setzten sich nieder, um zu essen”. 1.Mose 37,25. PP 185.3
Einigen von ihnen war jedoch unbehaglich zumute. Sie spürten nichts von der erwarteten Genugtuung über ihre Rache. Da sahen sie eine Schar Reisender näher kommen. Es war eine Karawane von Ismaeliten aus der Gegend jenseits des Jordans, die mit Gewürzen und anderer Handelsware auf dem Wege nach Ägypten war. Nun schlug Juda vor, Joseph diesen heidnischen Händlern zu verkaufen, statt ihn dem Hungertode preiszugeben. Während sie ihn auf diese Weise sicher aus dem Wege räumten, wurde sie doch nicht an seinem Blut schuldig. “Es ist unser Bruder”, betonte er, “unser Fleisch und Blut.” 1.Mose 37,27. Diesem Vorschlag stimmten alle zu, und schnell zogen sie Joseph aus der Grube. PP 185.4
Als er die Kaufleute sah, wurde Joseph die schreckliche Wahrheit blitzartig klar. Sklavenlos war ein Schicksal, das man mehr fürchtete als den Tod. In seiner furchtbaren Angst flehte er den einen und den andern Bruder an, aber vergebens. Einigen tat er wohl leid, aber Furcht vor dem Gespött der andern schloß ihnen den Mund. Alle hatten das Gefühl, daß sie schon zu weit gegangen waren, als daß sie jetzt noch den Rückzug antreten konnten. Verschonten sie Joseph, würde er zweifellos dem Vater alles über sie berichten, und der würde ihre Grausamkeit gegen seinen Lieblingssohn nicht ungestraft hingehen lassen. So verhärteten sie sich gegen seine Bitten und übergaben ihn den heidnischen Händlern. Die Karawane brach auf und war bald entschwunden. PP 186.1
Als Ruben zurückkam, war Joseph nicht mehr in der Grube. Voller Angst und Selbstvorwürfen zerriß er seine Kleider und fragte seine Brüder: “Der Knabe ist nicht da! Wo soll ich hin?” 1.Mose 37,30. Als er Josephs Schicksal erfuhr und begriff, daß dieser nicht zurückzuholen war, ließ er sich von den andern zu dem Versuch überreden, ihre Schuld zu verheimlichen. Sie töteten eine junge Ziege, tauchten Josephs Rock in das Blut und brachten ihn zu ihrem Vater. Ihm erzählten sie, sie hätten den Rock auf dem Felde gefunden und fürchteten, er gehöre ihrem Bruder. “Sieh”, sagten sie, “ob’s deines Sohnes Rock sei oder nicht.” Voller Unbehagen hatten sie diese Begegnung erwartet, aber auf solche herzzerreißende Seelenqual, solchen hemmungslosen Ausbruch des Schmerzes, wie sie ihn nun mit ansehen mußten, waren sie nicht vorbereitet. “Es ist meines Sohnes Rock”, rief Jakob, “ein böses Tier hat ihn gefressen, ein reißendes Tier hat Joseph zerrissen!” Vergeblich suchten Söhne und Töchter ihn zu trösten. Er “zerriß seine Kleider und legte ein härenes Tuch um seine Lenden und trug Leid um seinen Sohn lange Zeit”. Aber auch die Zeit schien seinen Gram nicht zu lindern. “Ich werde mit Leid hinunterfahren zu den Toten, zu meinem Sohn” (1.Mose 37,32-35), war sein Verzweiflungsruf. Die jungen Männer, entsetzt über ihre Tat, verbargen aus Furcht vor den Vorwürfen ihres Vaters das Bewußtsein ihrer Schuld, die selbst ihnen groß schien, tief im Innern. PP 186.2