Patriarchen und Propheten
Kapitel 20: Joseph in Ägypten
Unterdessen war Joseph mit den Männern, die ihn erworben hatten, auf dem Wege nach Ägypten. Als sich die Karawane der Südgrenze Kanaans näherte, konnte der junge Mann in der Ferne die Hügel erkennen, zwischen denen die heimatlichen Zelte standen. Bei dem Gedanken an seinen gütigen Vater weinte er in seiner Einsamkeit und Not bitterlich. PP 187.1
Wiederum kam ihm das schlimme Geschehen bei Dothan in Erinnerung. Er sah die zornigen Brüder und ihre grausamen Blicke auf sich gerichtet. In seinen Ohren klangen noch die kränkenden Schimpfworte, mit denen sie seinem angstvollen Flehen begegnet waren. Er fürchtete sich vor der Zukunft. Wie war seine Lage doch so ganz anders geworden: aus dem liebevoll umsorgten Sohn war ein verachteter, abhängiger Sklave geworden! Und wie würde sich sein Los in der Fremde gestalten, in die er zog, allein und ohne Freunde? Eine Zeitlang überließ sich Joseph hemmungsloser Angst und Sorge. PP 187.2
Aber nach Gottes Vorsehung sollte selbst diese Erfahrung segensreich für ihn werden. In wenigen Stunden hatte er gelernt, was er sonst vielleicht in Jahren nicht begriffen hätte. So innig ihn der Vater liebte, hatte er doch mit seiner Nachsicht und Parteinahme nicht gut an ihm gehandelt. Seine unkluge Bevorzugung hatte die anderen Söhne verärgert und zu der grausamen Tat angestachelt, die ihn nun von der Heimat trennte. Die Folgen lagen auf der Hand und zeigten sich auch in seinem eigenen Wesen. Seine Charakterschwächen waren dadurch nur noch unterstützt worden und mußten nun abgelegt werden. Joseph war im Begriff gewesen, selbstzufrieden und anmaßend zu werden. Da er bis dahin nur die zärtliche Fürsorge seines Vaters gewohnt war, litt er jetzt besonders unter den Schwierigkeiten, denen er sich so unvorbereitet im Zusammenhang mit dem bitteren und ungeschützten Dasein eines Sklaven und Fremdlings gegenüber gestellt sah. PP 187.3
Dann aber gingen seine Gedanken zu dem Gott seiner Väter. Schon als Kind hatte man ihn gelehrt, diesen Gott zu fürchten und zu lieben. Wie oft hatte er im Zelt seines Vaters von dessen Gesicht gehört, das ihm geschenkt wurde, als er von zu Hause floh — nicht mehr als ein verbannter Flüchtling. Der Vater hatte ihm von Gottes Verheißungen und ihrer Erfüllung erzählt, wie in der Stunde der Not Gottes Engel gekommen waren, ihn zu unterweisen, zu trösten und zu schützen. Und so wußte er etwas von der Liebe Gottes, die einen Erlöser für die Menschen vorgesehen hat. Plötzlich standen alle diese kostbaren Belehrungen lebendig vor seinem geistigen Auge. Joseph glaubte nun fest, daß der Gott seiner Väter auch sein Gott sein werde. Darum verließ er sich zur Stunde ganz auf den Herrn und betete, daß der Hüter Israels auch in der Verbannung mit ihm sein möge. PP 188.1
Er war ganz durchdrungen von dem mutigen Entschluß, Gott treu zu bleiben und sich unter allen Umständen so zu verhalten, wie es sich für einen Diener des Königs der Himmel geziemte. Er wollte dem Herrn mit ungeteiltem Herzen dienen, Prüfungen und Schicksalsschlägen in seiner Lage standhaft begegnen und jede Pflicht treu erfüllen. Das Erlebnis dieses einen Tages war zum Wendepunkt in Josephs Leben geworden. Das furchtbare Elend hatte aus einem verwöhnten Jüngling einen besonnenen, tapferen und selbstbewußten Mann gemacht. PP 188.2
In Ägypten verkaufte man Joseph an Potiphar, den Hauptmann der königlichen Leibwache, in dessen Dienst er zehn Jahre blieb. Hier war er Versuchungen ungewöhnlicher Art ausgesetzt. Er lebte mitten im Götzendienst. Die Anbetung der falschen Götter war mit dem ganzen Pomp des Königshofes umgeben und wurde gestützt von dem Reichtum und der Kultur des damals höchst zivilisierten Volkes. Doch Joseph bewahrte seine Herzenseinfalt und Treue gegen Gott. Wohin er auch blickte und was er auch hörte, überall umgab ihn Verderbtheit. Aber er übersah und überhörte alles. Er beschäftigte sich nicht mit unerlaubten Dingen. Und auch der Wunsch, vielleicht die Gunst der Ägypter zu gewinnen, konnte ihn nicht dazu bewegen, seine Grundsätze zu verheimlichen. Hätte er das getan, wäre er den Verlockungen erlegen. Aber er schämte sich des Glaubens seiner Väter nicht und versuchte gar nicht erst zu verbergen, daß er ein Anbeter Jahwes war. PP 188.3
“Und der Herr war mit Joseph, so daß er ein Mann wurde, dem alles glückte ... Und sein Herr sah, daß der Herr mit ihm war; denn alles, was er tat, das ließ der Herr in seiner Hand glücken.” 1.Mose 39,2.3. Potiphars Vertrauen zu Joseph wuchs täglich, und schließlich machte er ihn zu seinem Verwalter mit uneingeschränktem Verfügungsrecht über alles, was ihm gehörte. “Darum ließ er alles unter Josephs Händen, was er hatte, und kümmerte sich, da er ihn hatte, um nichts außer um das, was er aß und trank.” 1.Mose 39,6. PP 189.1
Das auffallende Gedeihen für alles, was Joseph anvertraut war, beruhte nicht auf einem ausgesprochenen Wunder; vielmehr belohnte Gottes Segen hier Fleiß, Mühe und Tatkraft. Joseph selbst schrieb sein erfolgreiches Handeln der Gnade Gottes zu, und sogar sein heidnischer Herr hielt dies für das Geheimnis seines beispiellosen Wohlstandes. Ohne unentwegte, zielgerichtete Anstrengungen aber hätte auch Joseph nichts gelingen können. Die Treue seines Dieners verherrlichte zugleich Gott. Mit seiner Reinheit und Aufrichtigkeit sollte der an Gott glaubende Joseph einen auffallenden Gegensatz zu den Götzendienern bilden und dadurch das Licht der himmlischen Gnade mitten in der Dunkelheit des Heidentums aufleuchten lassen. PP 189.2
Josephs freundliches Wesen und seine Pflichttreue gewannen ihm bald das Herz des Obersten, der ihn schließlich mehr als Sohn und nicht als Sklaven ansah. Der Jüngling kam mit Männern von Rang und Gelehrsamkeit in Berührung und erwarb dabei Kenntnisse in Wissenschaften, Sprachen und Handelsgeschäften, alles in allem eine Bildung, wie sie der künftige Ministerpräsident Ägyptens haben mußte. PP 189.3
Aber Josephs Treue und Rechtschaffenheit sollten erst noch ihre Feuerprobe bestehen. Potiphars Frau versuchte den jungen Mann zur Übertretung des Gesetzes Gottes zu verleiten. Bis dahin hatte er sich von der in jenem heidnischen Lande üppig wuchernden Verderbtheit rein erhalten. Wie aber sollte er dieser Versuchung begegnen, die ihn so plötzlich und verführerisch überfiel? Dabei wußte Joseph wohl, welche Folgen sein Widerstand haben würde. Auf der einen Seite gab es Heimlichkeit, Gunst und Belohnung, auf der andern Ungnade, Gefängnis, vielleicht sogar Tod. Sein ganzes zukünftiges Leben hing von der Entscheidung eines Augenblicks ab. Würden die festen Vorsätze den Sieg behalten? Würde Joseph Gott noch treu bleiben? Voller Sorge sahen die Engel dem Geschehen zu. PP 189.4
Josephs Antwort zeigt die Kraft religiöser Grundsätze. Er wollte das Vertrauen seines irdischen Herrn nicht täuschen und auch seinem Herrn im Himmel treu bleiben, welche Folgen auch immer daraus entstehen würden. Unter den prüfenden Augen Gottes und heiliger Engel nehmen sich viele Menschen Freiheiten heraus, die sie sich in der Gegenwart anderer niemals erlauben würden. Aber Joseph dachte zuerst an Gott. “Wie sollte ich denn nun ein solch großes Übel tun und gegen Gott sündigen?” (1.Mose 39,9) sagte er. PP 190.1
Wenn wir doch immer daran dächten, daß Gott alles, was wir tun und sagen, wahrnimmt, daß wir das alles einmal verantworten müssen. Wir würden uns fürchten zu sündigen. Möge die Jugend bedenken, daß sie überall und bei allem Tun in Gottes Gegenwart ist. Nichts von unserem Verhalten bleibt unbeobachtet, wir können unsere Wege vor dem Allerhöchsten nicht verbergen. Auch menschliche Gesetze werden oft übertreten, zuweilen in grober Weise, ohne daß man es entdeckt und demgemäß bestrafen könnte. Anders ist es mit dem Gesetz Gottes. Die dunkelste Nacht ist kein Deckmantel für den Schuldigen. Er mag sich allein wähnen, aber bei allem, was er tut, gibt es einen unsichtbaren Zeugen. Gott kann also auch die Beweggründe des Herzens prüfen. Jede Tat, jedes Wort, jeder Gedanke wird so deutlich vermerkt, als gäbe es keinen weiteren Menschen auf der Welt, auf den sich die Aufmerksamkeit des Himmels richten könnte. PP 190.2
Joseph büßte für seine Anständigkeit, denn die Versucherin rächte sich und klagte ihn eines üblen Vergehens an, so daß er ins Gefängnis geworfen wurde. Wäre Potiphar überzeugt gewesen von dem, was seine Frau Joseph zur Last legte, hätte der junge Hebräer sein Leben verloren. Sein bescheidenes, rechtschaffenes Verhalten, das stets an ihm auffiel, bewies seine Unschuld. Aber um die Ehre des Hauses zu retten, fiel er in Ungnade und wurde ins Gefängnis geworfen. PP 190.3
Josephs Kerkermeister behandelten ihn anfangs sehr streng. Der Psalmist sagt: “Sie zwangen seine Füße in Fesseln, sein Leib mußte in Eisen liegen, bis sein Wort eintraf und die Rede des Herrn ihm recht gab.” Psalm 105,18.19. Aber Josephs wahres Wesen zeigte sich auch in der Trostlosigkeit des Kerkers deutlich. Er hielt standhaft an seinem Glauben fest. Wohl hatte man ihm seine jahrelangen treuen Dienste grausam genug gelohnt, doch wurde er deshalb nicht verbittert oder mißtrauisch. Er hatte den Frieden, den ein gutes Gewissen verleiht, und legte sein Anliegen in Gottes Hand. Er grübelte auch nicht weiter über das erlittene Unrecht nach, sondern überwand seinen Kummer, indem er die Sorgen anderer zu erleichtern suchte. In dieser Leidensschule bereitete Gott ihn für größere Aufgaben vor, und Joseph sträubte sich nicht gegen diese notwendige Erziehung. Im Gefängnis sah er die Folgen von Unterdrückung, Gewalt und Verbrechen. Daraus lernte er, gerecht, mitfühlend und barmherzig zu sein, so daß er zubereitet wurde, seine Macht später einmal mit Weisheit und Einfühlungsvermögen anzuwenden. PP 190.4
Allmählich gewann Joseph das Vertrauen des Gefängnisaufsehers. Schließlich übergab man ihm sogar die Betreuung sämtlicher Gefangener. Wie er diesen Dienst versah, seine Lauterkeit im täglichen Leben, Mitgefühl für sie, die in Kummer und Elend waren — das alles eröffnete ihm den Weg zum künftigen Erfolg. Das Licht, das wir auf andere ausstrahlen, fällt auf uns zurück. Jedes freundliche, teilnahmsvolle Wort zu Sorgenvollen, jede helfende Tat für Bedrückte und jede Gabe an Bedürftige wird dem Geber Segen bringen, wenn es aus aufrichtigem Beweggrunde geschah. PP 191.1
Auch der oberste Bäcker und der oberste Mundschenk des Königs waren wegen irgendwelcher Vergehen ins Gefängnis geworfen worden und kamen unter Josephs Aufsicht. Eines Morgens beobachtete er, daß sie sehr bedrückt waren, und erkundigte sich freundlich nach dem Grund. Er erfuhr, daß sie beide einen seltsamen Traum gehabt hätten, der sie beunruhigte und dessen Bedeutung sie gern wüßten. “Auslegen gehört Gott zu”, erwiderte Joseph, “doch erzählt mir’s.” 1.Mose 40,8. Nachdem jeder berichtet hatte, sagte er ihnen die Deutung. In drei Tagen sollte der Mundschenk wieder in sein Amt eingesetzt werden und Pharao den Becher reichen wie früher. Aber der oberste Bäcker würde auf des Königs Befehl getötet werden. In beiden Fällen trat ein, was Joseph vorausgesagt hatte. PP 191.2
Der Mundschenk versicherte Joseph, er sei ihm für die ermutigende Auslegung seines Traumes und für die zahlreichen freundlichen Aufmerksamkeiten sehr dankbar. Als Gegenleistung erbat sich Joseph, er möge seinen Fall vor den König bringen. Dabei wies er in ergreifender Art und Weise auf die eigene ungerechte Gefangenschaft hin: “Gedenke meiner”, sagte er, “wenn dir’s wohlgeht, und tu Barmherzigkeit an mir, daß du dem Pharao von mir sagst und mich so aus diesem Hause bringst. Denn ich bin aus dem Lande der Hebräer heimlich gestohlen worden; und auch hier hab ich nichts getan, weswegen sie mich hätten ins Gefängnis setzen dürfen.” 1.Mose 40,14.15. Der Obermundschenk erlebte die Erfüllung des Traumes bis ins einzelne. Aber nachdem er des Königs Gunst wiedergewonnen hatte, dachte er nicht länger an seinen Wohltäter. Noch zwei Jahre blieb Joseph im Gefängnis. Die Hoffnung, die in ihm geweckt worden war, erlosch allmählich, und zu allen Anfechtungen kam noch der bittere Stachel des Undanks. PP 191.3
Aber Gottes Hand war im Begriff, die Gefängnistore zu öffnen. Ägyptens König hatte in einer Nacht zwei Träume, die sich offenbar auf dasselbe Ereignis bezogen und ein großes Unglück anzukündigen schienen. Er konnte sie sich nicht deuten, deshalb beunruhigten sie ihn fortwährend. Auch die Zauberer und Weisen seines Reiches vermochten ihm keine Erklärung dafür zu geben. Des Königs Unruhe und Bestürzung wuchsen dadurch nur noch, und Schrecken verbreitete sich im ganzen Palast. In der allgemeinen Aufregung entsann sich der Mundschenk seines eigenen Traumerlebnisses, und damit kam ihm die Erinnerung an Joseph. Jetzt plagte ihn doch Reue über seine Vergeßlichkeit und Undankbarkeit. Sofort meldete er dem König, wie sein Traum und der des Oberbäckers von einem hebräischen Gefangenen gedeutet worden war und sich die Voraussagen erfüllt hatten. PP 192.1
Es war beschämend für Pharao, sich nach den Zauberern und Weisen seines Reiches an einen Fremden wenden zu müssen und noch dazu an einen Sklaven. Aber wenn er nur von seiner Unruhe befreit würde, war ihm auch die bescheidenste Hilfe recht. Sofort schickte er nach Joseph. Dieser legte seine Gefängniskluft ab und ließ sein Haar scheren, da es in der Zeit der Haft lang geworden war. Dann führte man ihn zum König. PP 192.2
“Da sprach der Pharao zu ihm: Ich habe einen Traum gehabt, und es ist niemand, der ihn deuten kann. Ich habe aber von dir sagen hören, wenn du einen Traum hörst, so kannst du ihn deuten.” Joseph antwortete dem Pharao: “Das steht nicht bei mir; Gott wird jedoch dem Pharao Gutes verkündigen.” 1.Mose 41,15.16. Josephs Antwort verrät Demut und Glauben an Gott. Bescheiden weist er das Verdienst zurück, selbst höhere Weisheit zu besitzen. “Das steht nicht bei mir.” Gott allein kann diese Geheimnisse erklären. PP 192.3
Dann fuhr der Pharao fort und erzählte seine Träume: “Mir träumte, ich stand am Ufer des Nils und sah aus dem Wasser steigen sieben schöne, fette Kühe; die gingen auf der Weide im Grase. Und nach ihnen sah ich andere sieben dürre, sehr häßliche und magere Kühe heraussteigen. Ich hab in ganz Ägyptenland nicht so häßliche gesehen. Und die sieben mageren und häßlichen Kühe fraßen die sieben ersten, fetten Kühe auf. Und als sie die hineingefressen hatten, merkte man’s ihnen nicht an, daß sie die gefressen hatten, und waren häßlich wie zuvor. Da wachte ich auf. Und ich sah abermals in meinem Traum sieben Ähren auf einem Halm wachsen, voll und dick. Danach gingen auf sieben dürre Ähren, dünn und versengt. Und die sieben dünnen Ähren verschlangen die sieben dicken Ähren. Und ich habe es den Wahrsagern gesagt, aber die können’s mir nicht deuten.” 1.Mose 41,17-24. PP 193.1
Joseph antwortete dem Pharao: “Beide Träume des Pharao bedeuten das gleiche. Gott verkündet dem Pharao, was er vorhat.” 1.Mose 41,25. Es würden sieben Jahre des Überflusses kommen und Felder und Gärten weit mehr tragen als je zuvor. Auf diese Zeit sollten sieben Jahre Hungersnot folgen, “daß man nichts wissen wird von der Fülle im Lande vor der Hungersnot, die danach kommt; denn sie wird sehr schwer sein”. 1.Mose 41,31. Die Wiederholung des Traumes sollte seine Gewißheit und die Nähe der Erfüllung beweisen. Deshalb führte Joseph weiter aus: “Nun sehe der Pharao nach einem verständigen und weisen Mann, den er über Ägyptenland setze, und sorge dafür, daß er Amtleute verordne im Lande und nehme den Fünften in Ägyptenland in den sieben reichen Jahren und lasse sie sammeln den ganzen Ertrag der guten Jahre, die kommen werden, daß sie Getreide aufschütten in des Pharao Kornhäusern zum Vorrat in den Städten und es verwahren, damit für Nahrung gesorgt sei für das Land in den sieben Jahren des Hungers, die über Ägyptenland kommen werden, und das Land nicht vor Hunger verderbe.” 1.Mose 41,33-36. PP 193.2
Die Auslegung war so vernünftig begründet und folgerichtig, und auch die Maßnahmen, die durch sie nahegelegt wurden, waren so klar durchdacht und scharfsinnig, daß man ihre Richtigkeit nicht bezweifeln konnte. Aber wen sollte man mit der Durchführung dieses Planes betrauen? Von einer klugen Wahl hing ja die Rettung des Volkes ab. Der König geriet in ziemliche Sorge. Man überlegte eine Zeitlang hin und her. Durch den Mundschenk wußte der Herrscher von Josephs Klugheit und Umsicht, die er in der Verwaltung des Gefängnisses entwickelt hatte. Ganz offensichtlich verfügte er über hervorragende Fähigkeiten auf organisatorischem Gebiet. Der von Gewissensbissen geplagte Mundschenk tat jetzt sein Möglichstes, die frühere Undankbarkeit wiedergutzumachen, und empfahl seinen Wohltäter aufs wärmste. Außerdem bestätigten anderweitige Erkundigungen die Richtigkeit seiner Aussagen. Im ganzen Reich war Joseph der einzige mit solcher Weisheit begabte Mann, der auf die drohende Gefahr hinweisen und zugleich Maßnahmen nennen konnte, ihr zu begegnen. Der König gewann die Überzeugung, daß Joseph der Geeignetste sei, die von ihm vorgeschlagenen Pläne auch durchzuführen. Ganz offensichtlich stand er unter dem Einfluß einer göttlichen Kraft; jedenfalls war keiner der königlichen Beamten dazu fähig, in der bevorstehenden Krise die Staatsgeschäfte zu führen. Der Umstand, daß Joseph ein hebräischer Sklave war, bedeutete gegenüber seiner offenkundigen Weisheit und dem gesunden Urteilsvermögen nicht viel. “Wie könnten wir einen Mann finden, in dem der Geist Gottes ist wie in diesem?” (1.Mose 41,38) sagte der König zu seinen Ratgebern. PP 193.3
Pharao entschied sich für Josephs Ernennung und machte ihm die überraschende Ankündigung: “Weil dir Gott dies alles kundgetan hat, ist keiner so verständig und weise wie du. Du sollst über mein Haus sein, und deinem Wort soll all mein Volk gehorsam sein; allein um den königlichen Thron will ich höher sein als du.” Dann bekleidete er ihn mit den Abzeichen des hohen Amtes: “Und er tat seinen Ring von seiner Hand und gab ihn Joseph an seine Hand und kleidete ihn mit kostbarer Leinwand und legte ihm eine goldene Kette um seinen Hals und ließ ihn auf seinem zweiten Wagen fahren und ließ vor ihm her ausrufen: Der ist des Landes Vater!” 1.Mose 41,39.40.42.43. PP 194.1
“Er setzte ihn zum Herrn über sein Haus, zum Herrscher über alle seine Güter, daß er seine Fürsten unterwiese nach seinem Willen und seine Ältesten Weisheit lehrte.” Psalm 105,21.22. Aus dem Gefängnis heraus wurde Joseph zum Herrn über ganz Ägypten erhoben. Das war eine höchst ehrenvolle Stellung, jedoch mit Schwierigkeiten und Verantwortung verbunden. Man steht nicht gefahrlos in stolzer Höhe. Der Sturm kann der bescheidenen Blume im Tal nichts anhaben, wohl aber entwurzelt er den prächtigen Baum auf dem Berge. Wer sich in einem anspruchslosen Leben Redlichkeit bewahrt hat, kann doch durch Versuchungen, die irdischer Erfolg und Ansehen mit sich bringen, leicht zu Fall gebracht werden. Aber Joseph bewährte sich im Unglück ebenso wie im Glück. Er blieb Gott im Palaste Pharaos genauso treu, wie er es in der Gefängniszelle gewesen war. Dennoch war er ein Fremdling im heidnischen Land, getrennt von seinen Angehörigen, die Gott anbeteten. Aber er glaubte fest, daß Gottes Hand seine Schritte gelenkt hatte, und im anhaltenden Vertrauen auf ihn verrichtete er treulich seine Amtspflichten. Durch Joseph wurden der König und die Großen des Landes auf den wahren Gott hingewiesen. Und wenn sie auch an ihrem Götzendienst festhielten, so lernten sie doch die Grundsätze der Anbeter Jahwes achten, die sich in ihrem Denken und Handeln offenbarten. PP 194.2
Wie war es Joseph aber möglich, solche Charakterfestigkeit, Aufrichtigkeit und Umsicht zu erwerben? Lag es nicht daran, daß er sich schon in jungen Jahren daran gewöhnt hatte, mehr der Pflicht als seiner Neigung zu folgen? Und die Reinheit, der schlichte Glaube und der Edelmut des jungen Menschen trugen im Mannesalter Früchte. Eine einfache, keusche Lebensweise hatte die gesunde Entwicklung der körperlichen und geistigen Kräfte begünstigt. Durch die Verbindung mit Gott und das Versenken in die Wahrheiten, die Gott den Erben des Glaubens anvertraut hatte, waren Josephs Geisteskräfte in einem Maße entfaltet und verfeinert worden, wie das kein anderes Studium vermocht hätte. Gewissenhafte Pflichterfüllung in jeder Lage, in den kleinen wie auch großen Anliegen, hatten jede Fähigkeit zum besten Nutzen entwickelt. Wer in Übereinstimmung mit dem Willen des Schöpfers lebt, dient sich in der Entfaltung eines edlen Wesens selbst am besten. “Die Furcht des Herrn, das ist Weisheit, und meiden das Böse, das ist Einsicht.” Hiob 28,28. PP 195.1
Nicht viele machen sich klar, welchen Einfluß kleine Dinge im Leben auf die Charakterentwicklung haben. Nichts, womit wir zu tun haben, ist wirklich unbedeutend. Mit allem, was uns Tag für Tag begegnet, wird unsere Pflichttreue geprüft und werden wir zu größeren Aufgaben befähigt. Durch Grundsatztreue im Alltagsleben gewöhnen wir uns daran, die Pflicht über Neigung und Vergnügen zu stellen. Wer so erzogen ist, schwankt nicht wie ein Rohr im Winde zwischen Recht und Unrecht; er tut seine Pflicht, weil ihm Treue und Wahrheitsliebe zur guten Gewohnheit geworden sind. Indem er auch in den kleinsten Dingen zuverlässig handelt, empfängt er die Kraft, wichtigere Aufgaben zuverlässig zu erfüllen. PP 195.2
Ein aufrichtiger Charakter ist wertvoller als das Gold von Ophir. Ohne ihn kann keiner wirklich ehrenhaft werden. Er ist auch weder erblich noch käuflich. Hervorstechende Sittlichkeit und überragender Geist sind kein Zufallsergebnis. Denn die kostbarsten Gaben sind wertlos, wenn sie nicht angewendet werden. Charakterbildung ist das Werk eines ganzen Menschenlebens und wird nur mit Fleiß und Ausdauer erreicht. Gott schenkt uns Gelegenheiten; der Erfolg hängt davon ab, wie wir sie nutzen. PP 196.1