Patriarchen und Propheten
Kapitel 72: Absaloms Aufruhr
“Er soll vierfach bezahlen” (2.Samuel 12,6), so urteilte David ahnungslos über sich selbst, als er Nathans Gleichnis lauschte; und nach seinem Spruch sollte er gerichtet werden. Vier seiner Söhne starben, und jedesmal war es eine Folge der väterlichen Sünde. PP 702.1
Das schändliche Verbrechen Amnons, des Erstgeborenen, ließ David ungestraft und ungesühnt durchgehen. Das Gesetz verlangte für den Ehebrecher die Todesstrafe, und Amnons unnatürlicher Frevel ließ ihn doppelt schuldig werden. Aber in Erinnerung an die eigene Vergangenheit brachte es David nicht fertig, den Übeltäter vor Gericht zu ziehen. Zwei volle Jahre verheimlichte indessen Absalom, der natürliche Beschützer seiner schimpflich beleidigten Schwester, seine Racheabsichten, aber nur um ganz sicherzugehen. Auf einem Fest der Königssöhne ließ er den betrunkenen, blutschänderischen Amnon erschlagen. PP 702.2
Ein zweifaches Gericht wurde David zugemessen. Man überbrachte ihm die furchtbare Nachricht, “Absalom habe alle Söhne des Königs erschlagen, daß nicht einer von ihnen übriggeblieben sei. Da stand der König auf und zerriß seine Kleider und legte sich auf die Erde, und alle seine Großen, die um ihn herstanden, zerrissen ihre Kleider”. 2.Samuel 13,30.31. Die bestürzt nach Jerusalem zurückkehrenden Söhne berichteten ihrem Vater die Wahrheit; nur Amnon war ermordet worden. Und sie “erhoben ihre Stimme und weinten. Der König und alle seine Großen weinten auch gar sehr”. 2.Samuel 13,36. Aber Absalom floh zu König Talmai von Geschur, dem Vater seiner Mutter. PP 702.3
Wie all seinen Söhnen hatte David es auch Amnon überlassen, seinen selbstsüchtigen Neigungen zu leben und sich ungeachtet der göttlichen Gebote jeden Wunsch zu erfüllen. Trotz seiner großen Sünde hatte Gott viel Geduld mit ihm und gewährte ihm zwei Jahre Zeit, sich zu besinnen. Aber es war alles beim alten geblieben, und schuldbeladen hatte ihn der Tod ereilt. Nun erwartete ihn das Urteil des jüngsten Gerichts. PP 702.4
David hatte Amnons Frevel nicht geahndet. Wegen dieser Pflichtvergessenheit des königlichen Vaters und der Unbußfertigkeit des Sohnes ließ der Herr den Dingen ihren Lauf und hinderte Absalom nicht. Wenn Eltern oder Vorgesetzte es versäumen, geschehenes Unrecht zu bestrafen, wird Gott eingreifen. Er zieht seine bewahrende Hand zurück, so daß im Zuge der Geschehnisse Sünde wieder durch Sünde bestraft wird. PP 703.1
Davids ungerechtfertigte Nachsicht hatte noch weitere Folgen, denn nun begann die Entfremdung zwischen Absalom und ihm. Nach dessen Flucht zu Talmai hielt David es für notwendig, ihm für sein Verbrechen eine derbe Lektion zu erteilen, und verweigerte ihm deshalb die Erlaubnis zur Rückkehr. Aber das vermehrte die heillose Verwirrung, in die der König geraten war, anstatt sie zu mindern. Absalom war tatkräftig, ehrgeizig und — charakterlos. Als seine Verbannung ihn von der Teilnahme an den Regierungsgeschäften ausschloß, gab er sich bald gefährlichen Ränkespielen hin. PP 703.2
Nach zwei Jahren endlich beschloß Joab, eine Versöhnung zwischen Vater und Sohn herbeizuführen. Dabei ließ er sich von einer Frau aus Thekoa helfen, die wegen ihrer Klugheit geschätzt wurde. Auf seinen Vorschlag stellte sie sich David als Witwe vor, deren zwei Söhne ihr einziger Trost und ihre Stütze waren. Im Streit hatte der eine den andern erschlagen, und nun forderten alle Verwandten, daß der Überlebende dem Bluträcher ausgeliefert würde. “So wollen sie”, sagte die Mutter, “auch den Erben vertilgen und den Funken auslöschen, der mir noch übriggeblieben ist, so daß meinem Mann kein Name und kein Nachkomme bleibt auf Erden.” 2.Samuel 14,7. Der König war bewegt und versprach der Frau seinen Schutz für ihren Sohn. PP 703.3
Nachdem sie ihm wiederholt Zusagen für die Sicherheit des jungen Mannes abgenötigt hatte, bat sie den König um Verzeihung und sagte ihm, er habe sich selbst schuldig gesprochen, weil er seinen verbannten Sohn nicht nach Hause zurückhole. “Denn wir sterben des Todes”, sagte sie, “und sind wie Wasser, das auf die Erde gegossen wird und das man nicht wieder sammeln kann; aber Gott will nicht das Leben wegnehmen, sondern er ist darauf bedacht, daß das Verstoßene nicht auch von ihm verstoßen werde.” 2.Samuel 14,14. Diese ergreifende Darstellung der Liebe Gottes zum Sünder, die in Wirklichkeit von dem rauhen Krieger Joab stammte, beweist, wie vertraut die Israeliten mit den großen Wahrheiten der Erlösung waren. Dem König wurde wieder bewußt, wie nötig er selbst Gottes Barmherzigkeit hatte, und er konnte der Bitte nicht widerstehen. Joab erhielt den Befehl: “So geh hin und bringe meinen Sohn Absalom zurück.” 2.Samuel 14,21. PP 703.4
Absalom durfte zwar nach Jerusalem heimkehren, aber nicht am Hofe oder vor seinem Vater erscheinen. David begriff allmählich die schlimmen Folgen seiner nachsichtigen Erziehung. Und so sehr er diesen hübschen, begabten Sohn liebte, hielt er es um Absaloms und des Volkes willen doch für notwendig, deutlich zu zeigen, wie sehr er solche Freveltat verabscheute. Zwei Jahre lebte Absalom in seinem Hause, aber vom Hofe verbannt. Seine Schwester wohnte bei ihm, und ihre Anwesenheit hielt die Erinnerung an das nicht wieder gut zu machende Unrecht wach, das man ihr angetan hatte. In der öffentlichen Meinung war der Prinz allerdings eher ein Held als ein Missetäter. Als er sich dessen bewußt wurde, fing er an, die Stimmung des Volkes für sich zu gewinnen. Und er war auch wirklich eine allgemein bewunderte Erscheinung. “Es war aber in ganz Israel kein Mann so schön wie Absalom, und er hatte dieses Lob vor allen; von der Fußsohle bis zum Scheitel war nicht ein Fehl an ihm.” 2.Samuel 14,25. Es war nicht klug vom König, einen ehrgeizigen, leidenschaftlichen jungen Mann wie Absalom zwei Jahre lang über mutmaßliche Übelstände grübeln zu lassen. Davids Erlaubnis, nach Jerusalem zurückzukommen, ohne jedoch vor ihm erscheinen zu dürfen, trug Absalom das Mitgefühl des Volkes ein. PP 704.1
Durch die stets gegenwärtige Erinnerung an seine eigene Übertretung des göttlichen Gesetzes schien David moralisch gehemmt zu sein. Vorher mutig und entschlossen, war er jetzt schlaff und unentschlossen. Sein Einfluß beim Volke ließ nach. Und all das begünstigte natürlich die Pläne seines entarteten Sohnes. PP 704.2
Dem Einfluß Joabs verdankte es Absalom schließlich, daß er wieder in der Gegenwart des Vaters erscheinen durfte. Aber obwohl eine äußerliche Versöhnung zustande kam, hielt er an seinen ehrgeizigen Plänen fest. Er trieb nun einen beinahe königlichen Aufwand, hielt sich Wagen und Pferde und fünfzig Mann Leibwache. Und während der König mehr und mehr die Einsamkeit und Zurückgezogenheit suchte, warb Absalom emsig um die Gunst des Volkes. PP 704.3
Davids Gleichgültigkeit und Unentschlossenheit übertrugen sich schließlich auf seine Untergebenen. Die Rechtspflege wurde nur nachlässig und mit Verzögerungen gehandhabt. Geschickt nutzte Absalom jede Unzufriedenheit darüber zu seinem Vorteil aus. Tag für Tag sah man ihn in vornehmer Haltung am Stadttor sitzen, wo eine Schar von Bittstellern darauf wartete, ihm ihre Nöte vorzutragen, damit er Abhilfe schaffte. Er mischte sich unter sie, hörte auf ihre Beschwerden und brachte sein Mitgefühl für ihre Sorgen und sein Bedauern über die Unfähigkeit der Regierung zum Ausdruck. Hatte sich der Prinz die Geschichte eines Israeliten angehört, erwiderte er: “Siehe, deine Sache ist gut und recht; aber du hast keinen beim König, der dich hört.” Und er fügte hinzu: “O, wer setzt mich zum Richter im Lande, daß jedermann zu mir käme, der eine Sache und Gerichtshandel hat, damit ich ihm zum Recht hülfe! Und wenn jemand ihm nahte und vor ihm niederfallen wollte, so streckte er seine Hand aus und ergriff ihn und küßte ihn.” 2.Samuel 15,3-5. PP 705.1
Infolge solch geschickter Anspielungen griff die Unzufriedenheit schnell um sich. Dagegen war das Lob Absaloms in aller Munde, Allgemein sah man in ihm den Erben des Reiches. Mit Stolz schaute das Volk auf ihn. Er wäre dieses hohen Amtes würdig, und sehnlichst wünschte man, daß er den Thron einnähme. “So stahl Absalom das Herz der Männer Israels.” 2.Samuel 15,6. Trotzdem war der König blind in der Liebe zu seinem Sohne und argwöhnte nichts. Absaloms fürstlichen Aufwand hielt er für beabsichtigt mit dem Ziel, seinem Hofe Ehre zu erweisen und der Freude über die Versöhnung Ausdruck zu verleihen. PP 705.2
Als das Volk auf das, was kommen sollte, genügend vorbereitet war, sandte Absalom heimlich ausgesuchte Männer zu den Stämmen, um den geplanten Aufstand zeitlich aufeinander abzustimmen. Und jetzt hängte er sich zur Tarnung seiner verräterischen Absichten gar den Mantel der Frömmigkeit um: Er wolle in Hebron ein Gelübde einlösen, das er vor langer Zeit in der Verbannung abgelegt hatte. Zum König sagte er: “Ich will hingehen und mein Gelübde in Hebron erfüllen, das ich dem Herrn gelobt habe. Denn dein Knecht hat ein Gelübde getan, als ich in Geschur in Aram wohnte, und gesprochen: Wenn mich der Herr nach Jerusalem zurückbringt, so will ich dem Herrn einen Gottesdienst halten.” 2.Samuel 15,7.8. Erfreut über die geistliche Haltung seines Sohnes, entließ ihn der leichtgläubige Vater mit seinem Segen. Nun war die Verschwörung reif. Seiner Scheinheiligkeit setzte Absalom dadurch die Krone auf, daß er nicht nur den König täuschen, sondern auch das Vertrauen des Volkes zu ihm festigen und es zur Empörung gegen den von Gott erwählten König verleiten wollte. PP 705.3
Absalom brach nach Hebron auf. “Es gingen aber mit Absalom zweihundert Mann von Jerusalem, die geladen waren, und sie gingen ohne Argwohn und wußten nichts von der Sache.” 2.Samuel 15,11. Diese Männer begleiteten ihn und ahnten nicht, daß ihre Anhänglichkeit an den Sohn sie in einen Aufstand gegen den Vater hineinriß. Unmittelbar nach der Ankunft rief Absalom Ahithophel zu sich. Das war einer der wichtigsten Ratgeber Davids, der im Rufe großer Weisheit stand und dessen Ansicht man für so gewiß und klug hielt wie ein Orakel. Dieser Ahithophel schloß sich den Verschwörern an. Mit seiner Unterstützung schien Absaloms Erfolg völlig sicher zu sein, zumal nun viele einflußreiche Männer aus allen Teilen des Landes zu seinen Fahnen eilten. Als die Posaune zum Aufruhr blies, verbreiteten Kundschafter des Prinzen im ganzen Lande die Nachricht, Absalom sei König geworden. Darauf sammelte sich viel Volks um ihn. PP 706.1
Unterdessen drang der alarmierende Ruf bis zum König nach Jerusalem. David schreckte auf; in nächster Nähe des Thrones war eine Empörung ausgebrochen! Der eigene Sohn, den er so liebte und dem er vertraute, griff nach der Krone und trachtete ihm zweifellos auch nach dem Leben. In dieser großen Gefahr schüttelte David alle Niedergeschlagenheit ab, die ihn schon so lange belastete. Mit dem Eifer früherer Jahre schickte er sich an, der schwierigen Lage zu begegnen. Bei Hebron, etwa dreißig Kilometer entfernt, hatte Absalom seine Streitmacht gesammelt. Bald würden sie vor Jerusalem stehen. PP 706.2
Von seinem Palast blickte David auf seine Hauptstadt: “Schön ragt empor der Berg Zion, daran sich freut die ganze Welt, ... die Stadt des großen Königs.” Psalm 48,3. Ihn schauderte bei dem Gedanken, daß sie Gemetzel und Verwüstung erleben sollte. War es richtig, daß er alle Königstreuen zu Hilfe rief, um mit ihnen die Stadt zu halten? Durfte er ein Blutbad in Jerusalem zulassen? Sein Entschluß war gefaßt. Die erwählte Stadt sollte den Kriegsschrecken nicht ausgesetzt werden. Er würde Jerusalem verlassen und die Treue seines Volkes auf die Probe stellen, indem er ihm Gelegenheit gab, sich zu seiner Unterstützung zu sammeln. In dieser schweren Entscheidung war er es Gott und seinem Volk schuldig, die ihm vom Himmel verliehene Autorität zu behaupten. Den Ausgang des Kampfes überließ er Gott. PP 706.3
Schmerzerfüllt und gedemütigt schritt David aus dem Stadttor Jerusalems. Durch den Aufstand seines Lieblingssohnes war er vom Thron, aus dem Palast und von der Lade Gottes vertrieben. In langem, traurigem Zuge schloß sich ihm das Volk an wie zu einem Begräbnis. Davids Leibwache, die Krether und Plether, und sechshundert Gathiter unter dem Befehl Ittais begleiteten ihn. In der ihm eigenen Selbstlosigkeit wollte David diese Fremden, die einst Schutz bei ihm gesucht hatten, nicht in sein Unglück hineingezogen wissen. Er war überrascht, daß sie zu diesem Opfer für ihn bereit waren. Darum sagte der König zu Ittai: “Warum gehst du auch mit uns? Kehre um und bleibe bei dem neuen König, denn du bist ein Ausländer und von deiner Heimat hierher gezogen. Gestern bist du gekommen, und heute sollte ich dich mit uns hin- und herziehen lassen? Denn ich muß gehen, wohin ich gehen kann. Kehre um und nimm deine Brüder mit dir; dir widerfahre Barmherzigkeit und Treue.” 2.Samuel 15,19.20. PP 707.1
Ittai antwortete: “So wahr der Herr lebt, und so wahr mein Herr und König lebt: wo immer mein Herr, der König, ist, es gerate zum Tod oder zum Leben, da wird dein Knecht auch sein.” 2.Samuel 15,21. Diese Männer hatten sich vom Heidentum zu Jahwe bekehrt, in edler Gesinnung blieben sie jetzt ihrem Gott und dem König treu. In seiner scheinbar verlorenen Lage nahm David ihre Anhänglichkeit dankbar an, und so zogen sie über den Bach Kidron der Wüste zu. PP 707.2
Wiederum hielt der Zug an. Eine Gruppe Männer in geistlichen Gewändern näherte sich ihnen. “Und siehe, Zadok war auch da und alle Leviten, die bei ihm waren, und sie trugen die Lade des Bundes Gottes.” 2.Samuel 15,24. Davids Begleiter faßten das als gutes Zeichen auf. Dieses heilige Sinnbild war für sie ein Unterpfand ihrer Errettung und des endgültigen Sieges. Seine Gegenwart würde dem Volk Mut machen, sich dem König anzuschließen. Sein Fehlen in Jerusalem mußte dagegen Absaloms Anhänger erschrecken. PP 707.3
Beim Anblick der Bundeslade ging es David für einen Augenblick vor Freude durch und durch. Aber bald bewegten ihn andere Gedanken. Als der berufene Herrscher über Gottes Erbe trug er schwere Verantwortung. Nicht persönlicher Vorteil, sondern Gottes Ehre und das Wohl seines Volkes mußten bei Israels König vornan stehen. Gott, der zwischen den Cherubim weilt, sagte von Jerusalem: “Dies ist die Stätte meiner Ruhe.” Psalm 132,14. Ohne göttliche Ermächtigung hatten weder Priester noch der König ein Recht, das Sinnbild seiner Gegenwart von dort zu entfernen. David war sich bewußt, daß er mit Gottes Geboten in Übereinstimmung leben mußte, sonst würde die Lade eher Unheil als Glück bringen. Immer stand ihm seine große Sünde vor Augen. Und er sah auch in dieser Verschwörung die Gerechtigkeit Gottes. Das Schwert, das nicht mehr von seinem Hause ablassen sollte, war blank gezogen. Er kannte den Ausgang des Kampfes nicht. Aber seinetwegen durften die heiligen Gebote, die den Willen ihres göttlichen Oberherrn enthielten, nicht aus der Hauptstadt weggebracht werden, denn sie bildeten die Verfassung des Reiches und waren die Grundlage seines Wohlergehens. PP 708.1
Deshalb gebot er Zadok: “Bringe die Lade Gottes in die Stadt zurück. Werde ich Gnade finden vor dem Herrn, so wird er mich zurückbringen, daß ich sie und ihre Stätte wiedersehe. Spricht er aber: Ich habe kein Wohlgefallen an dir — siehe, hier bin ich. Er mach’s mit mir, wie es ihm wohlgefällt.” 2.Samuel 15,25.26. PP 708.2
Weiter sprach der König zu Zadok: “Du bist doch ein Seher”, ein von Gott berufener Lehrer des Volkes; “kehre ruhig in die Stadt zurück, ebenso dein Sohn Ahimaaz und Jonathan, der Sohn Abjathars; eure beiden Söhne sollen mit euch ziehen! Seht, ich werde bei den Furten in der Wüste bleiben, bis Botschaft von euch kommt.” 2.Samuel 15,27 (Bruns). Auch in der Stadt konnten ihm die Priester gute Dienste leisten, wenn sie die Bewegungen und Absichten der Empörer beobachteten und durch ihre Söhne Ahimaaz und Jonathan heimlich mit ihm in Verbindung blieben. PP 708.3
Als die Priester nach Jerusalem umkehrten; befiel die verlassene Menge tiefe Niedergeschlagenheit. Ihr König ein Flüchtling, sie selbst Vertriebene und nun sogar von der Lade Gottes verlassen — dunkel und unheilvoll lag die Zukunft vor ihnen. “David aber ging den Ölberg hinan und weinte, und sein Haupt war verhüllt, und er ging barfuß. Auch alle vom Volk, die bei ihm waren, hatten ihr Haupt verhüllt und gingen hinan und weinten.” 2.Samuel 15,30.31. Und David wurde gesagt, daß Ahithophel sich dem Aufruhr Absaloms angeschlossen habe. Wieder mußte David in diesem Unglück die Folgen seiner Sünde erkennen. Die Treulosigkeit Ahithophels, dieses überaus fähigen und zugleich schlauen Politikers, war Rache für die Schmach an seiner Enkelin Bathseba. PP 708.4
Und David sprach: “Herr, mache den Ratschlag Ahithophels zur Torheit!” Auf dem Ölberg beugte er sich zum Gebet, warf seine Seelenlast auf Gott und flehte demütig um göttliche Gnade. Seine Bitten schienen augenblicklich erhört zu werden, denn der Arkiter Huschai, ein kluger, tüchtiger Ratgeber, der sich als aufrichtiger Freund Davids bewährt hatte, kam jetzt zu ihm mit zerrissenen Kleidern und Erde auf dem Haupt, um das Los des entthronten, flüchtigen Königs zu teilen. Wie durch göttliche Erleuchtung erkannte David, daß er gerade diesen treuen, redlichen Mann in der Hauptstadt brauchte, um die königlichen Anliegen in den Ratsversammlungen zu wahren. Auf seine Bitte ging Huschai nach Jerusalem zurück, um Absalom seine Dienste anzubieten und Ahithophels listige Ratschläge zu vereiteln. PP 709.1
Mit diesem Hoffnungsschimmer nach der Ungewißheit setzten der König und seine Begleiter ihren Weg über den Ostabhang des Ölberges fort. Hinab ging es durch felsige, unbewohnte Einöden und Bergschluchten auf steinigen, jäh abstürzenden Wegen zum Jordan. “Als aber der König David nach Bahurim kam, siehe, da kam ein Mann von dort heraus, vom Geschlecht des Hauses Saul, der hieß Simei, der Sohn Geras; der kam heraus und fluchte und warf mit Steinen nach David und allen Großen des Königs David, obwohl das ganze Kriegsvolk und alle seine Helden zu seiner Rechten und Linken waren. So aber rief Simei, als er fluchte: Hinaus, hinaus, du Bluthund, du ruchloser Mann! Der Herr hat über dich gebracht alles Blut des Hauses Sauls, an dessen Statt du König geworden bist. Jetzt hat der Herr das Königtum gegeben in die Hand deines Sohnes Absalom; und siehe, nun steckst du in deinem Unglück, denn du bist ein Bluthund.” 2.Samuel 16,5-8. PP 709.2
Solange es David gutgegangen war, hatte Simei mit nichts zu erkennen gegeben, daß er kein guter Bürger war. Aber im Elend des Königs offenbarte dieser Benjaminit seine wahre Gesinnung. Als David den Thron innehatte, zollte er ihm die nötige Ehre, aber in seiner Erniedrigung fluchte er ihm. Dabei hielt er auch andere für so falsch und selbstsüchtig, wie er selber war. Auf Anstiften des Widersachers ließ er seinen Haß an dem aus, den Gott so geschlagen hatte. Wer über einen Unglücklichen triumphieren kann, ihn kränkt oder verunglimpft, in dem herrscht der Geist des Bösen. PP 709.3
Simeis Anklagen gegen David waren völlig unberechtigt, eine böswillige Verleumdung. David hatte weder Saul noch seiner Familie unrecht getan. Als Saul in seiner Gewalt war und er ihn hätte töten können, schnitt er nur einen Zipfel von seinem Gewand ab und machte sich danach noch Vorwürfe, daß er es dem Gesalbten des Herrn gegenüber an Ehrerbietung fehlen gelassen habe. PP 710.1
David hatte selbst als Gehetzter seine Achtung vor dem menschlichen Leben bewiesen. Als er sich eines Tages als Flüchtling in der Höhle Adullam verborgen gehalten hatte, waren seine Gedanken zurück in die unbekümmerte Freiheit seiner Jugendjahre gewandert, und er hatte ausgerufen: “Wer will mir Wasser zu trinken holen aus dem Brunnen am Tor in Bethlehem?” Bethlehem war zu der Zeit in den Händen der Philister. Drei seiner Krieger hatten daraufhin die Lagerwache durchbrochen, um ihrem Herrn Wasser aus Bethlehem zu bringen. David hatte es jedoch nicht zu trinken vermocht. “Das lasse der Herr fern von mir sein”, hatte er versichert. “Ist’s nicht das Blut der Männer, die ihr Leben gewagt haben und hingegangen sind?” 2.Samuel 23,15.17. Ehrerbietig hatte er das Wasser ausgegossen wie zum Opfer vor Gott. David war ein Mann des Krieges gewesen, und vieles in seinem Leben hatte sich unter Gewalt abgespielt. Aber von allen, die durch eine solche Feuerprobe gingen, blieben nur wenige von dem verhärtenden, entsittlichenden Einfluß so unberührt wie David. PP 710.2
Davids Neffe Abisai, einer seiner tapfersten Hauptleute, konnte Simeis Schmähworte nicht ruhig anhören. “Sollte dieser tote Hund”, rief er empört, “meinem Herrn, dem König, fluchen dürfen? Ich will hingehen und ihm den Kopf abhauen.” Aber der König verbot es ihm: “Siehe, mein Sohn ... trachtet mir nach dem Leben; warum nicht auch jetzt der Benjaminiter? Laßt ihn ruhig fluchen, denn der Herr hat’s ihm geboten. Vielleicht wird der Herr mein Elend ansehen und mir mit Gutem vergelten sein heutiges Fluchen.” 2.Samuel 16,9.11.12. PP 710.3
Das Gewissen hielt David bittere, demütigende Wahrheiten vor. Während sich seine Getreuen über die plötzliche Wende des königlichen Geschicks wunderten, war sie für ihn kein Geheimnis. Er hatte eine Stunde wie diese lange voraus geahnt und sich gewundert, daß Gott mit seinen Sünden so lange Geduld gehabt und mit der verdienten Vergeltung gezögert hatte. Nun war er auf dieser eiligen, kummervollen Flucht, in Sackleinen statt in Königsgewänder gekleidet. Während seine Begleiter laut klagten, dachte er an die geliebte Stadt, den Tatort seines Vergehens, und war doch nicht ohne Hoffnung, als er sich der Güte und Langmut Gottes erinnerte. Er fühlte, der Herr würde in seiner Barmherzigkeit dennoch bei ihm bleiben. PP 710.4
Manche Übeltäter haben ihre Sünde mit dem Hinweis auf Davids Fall zu entschuldigen versucht, aber nur wenige brachten seine Reue und Demut auf. Wer ertrüge Tadel und Vergeltung so geduldig und tapfer wie er? Er bekannte sein Unrecht und bemühte sich danach jahrelang, als treuer Diener Gottes seine Pflicht zu tun. Er hatte am Aufbau des Reiches gearbeitet, das unter seiner Herrschaft stark geworden und zu nie gekanntem Wohlstand gekommen war. Er hatte reichlich Baumaterial zur Errichtung des Hauses Gottes zusammengebracht. Sollte nun seine ganze Lebensarbeit vergebens gewesen sein? Sollten die Früchte jahrelanger Mühe, sollte das durch Opfer und Staatskunst aufgebaute Werk in die Hände seines rücksichtslosen, verräterischen Sohnes übergehen, der weder Gottes Ehre noch Israels Wohl achtete? Es wäre verständlich gewesen, wenn David in dieser großen Trübsal gegen Gott gemurrt hätte. PP 711.1
Aber er sah in seinen eigenen Verfehlungen die Ursache dieser Schwierigkeiten. Die Worte des Propheten Micha atmen den Geist, der Davids Herz bewegte: “Wenn ich auch im Finstern sitze, so ist doch der Herr mein Licht. Ich will des Herrn Zorn tragen — denn ich habe wider ihn gesündigt —, bis er meine Sache führe und mir Recht schaffe.” Micha 7,8.9. Und der Herr verließ David nicht, der sich gerade in diesem Lebensabschnitt unter grausamstem Unrecht demütig, selbstlos und von vornehmer Gesinnung zeigte. Niemals war Israels Herrscher in den Augen des Himmels so wahrhaft groß wie in der Stunde seiner tiefsten Erniedrigung. PP 711.2
Hätte David ungestraft in Frieden und Wohlergehen auf dem Thron bleiben dürfen, könnten Ungläubige dies mit einigem Recht als Vorwurf gegen die Bibel ins Feld führen. Aber gerade die Erfahrung, durch die er gehen mußte, zeigt, daß der Herr Unrecht weder dulden noch entschuldigen kann. Und schließlich erkennen wir daraus das große Ziel, weshalb Gott die Sünde bekämpft. Selbst in den dunkelsten Gerichtsstunden läßt sich die Entwicklung seiner barmherzigen Absichten verfolgen. Gott ließ David unter der Zucht gehen, aber er vertilgte ihn nicht. Der Schmelzofen soll läutern, nicht verzehren. Der Herr sagt: “Wenn sie meine Ordnungen entheiligen und meine Gebote nicht halten, so will ich ihre Sünde mit der Rute heimsuchen und ihre Missetat mit Plagen; aber meine Gnade will ich nicht von ihm wenden und meine Treue nicht brechen.” Psalm 89,32-34. PP 711.3
Kaum hatte David Jerusalem verlassen, da zog Absalom mit seinem Heere ein und nahm Israels Festung kampflos in Besitz. Einer der ersten, die den neu gekrönten Monarchen grüßten, war Huschai. Der Fürst war überrascht und befriedigt darüber, denn Huschai war ja ein alter Freund und Ratgeber seines Vaters. Absalom schaute zuversichtlich in die Zukunft. Bis jetzt waren ihm seine Pläne geglückt, und in dem Wunsch, seinen Thron zu festigen und das Vertrauen des Volkes zu gewinnen, hieß er Huschai am Hofe willkommen. PP 712.1
Absalom hatte sich mit einer großen Streitmacht umgeben. Aber das waren zumeist kriegsungewohnte Männer, die bis dahin noch keinen Kampf erlebt hatten. Ahithophel wußte sehr wohl, daß Davids Lage keineswegs hoffnungslos war, denn noch war ihm ein großer Teil des Volkes treu ergeben. Außerdem hielten bewährte Kriegsleute fest zu ihm, und erfahrene, tüchtige Feldherren befehligten sein Heer. Ahithophel war sich auch darüber im klaren, daß nach dem ersten Sturm der Begeisterung ein Rückschlag kommen konnte. Schlug der Aufstand fehl, so versöhnte sich Absalom vielleicht wieder mit seinem Vater. Aber er, Ahithophel, als sein erster Berater würde als Hauptschuldiger an der Empörung gelten; ihn träfe dann die schwerste Strafe. Um ein Zurück Absaloms unmöglich zu machen, legte er ihm etwas nahe, das in den Augen des Volkes eine Versöhnung ausschloß. Mit teuflischer List drängte dieser arglistige, charakterlose Staatsmann Absalom dazu, dem Aufruhr die Blutschande hinzuzufügen. Vor aller Augen sollte er die Nebenfrauen seines Vaters zu sich nehmen, wie das bei den morgenländischen Völkern Sitte war, und damit deutlich machen, daß er dessen Thron bestiegen habe. Absalom befolgte den niederträchtigen Rat. So erfüllte sich das Wort Gottes durch den Propheten an David: “Siehe, ich will Unheil über dich kommen lassen aus deinem eigenen Hause und will deine Frauen nehmen vor deinen Augen und will sie deinem Nächsten geben ... Denn du hast’s heimlich getan, ich aber will dies tun vor ganz Israel und im Licht der Sonne.” 2.Samuel 12,11.12. Nicht, daß Gott diese ruchlosen Taten veranlaßt hätte, aber um Davids Sünde willen verhinderte er sie auch nicht. PP 712.2
Ahithophel genoß wegen seiner Klugheit großes Ansehen, aber ihm fehlte die Erleuchtung, die von Gott kommt. “Der Weisheit Anfang ist die Furcht des Herrn.” Sprüche 9,10. Und diese besaß Ahithophel nicht. Wie hätte er sonst den Erfolg des Verrates auf Frevel gründen können! Menschen, die in ihrem Innersten verdorben sind, zetteln oft Dinge an, als ob es keine lenkende Vorsehung gäbe, die ihre Pläne durchkreuzen könnte. “Aber der im Himmel wohnt, lachet ihrer, und der Herr spottet ihrer.” Psalm 2,4. Der Herr sagt: “Weil sie meinen Rat nicht wollten und all meine Zurechtweisung verschmähten, darum sollen sie essen von den Früchten ihres Wandels und satt werden an ihren Ratschlägen. Denn den Unverständigen bringt ihre Abkehr den Tod, und die Toren bringt ihre Sorglosigkeit um.” Sprüche 1,29-32. PP 713.1
Nachdem sich Ahithophel auf diese Weise für gesichert hielt, nötigte er Absalom zu schleunigem Handeln gegen David. “Ich will zwölftausend Mann auswählen”, sagte er zu ihm, “und mich aufmachen und David nachjagen in dieser Nacht und will ihn überfallen, solange er matt und verzagt ist. Wenn ich ihn dann erschrecke und das ganze Kriegsvolk, das bei ihm ist, flieht, will ich den König allein erschlagen und das ganze Kriegsvolk zu dir zurückbringen.” 2.Samuel 17,1-3. Auch Absaloms Ratgeber hießen den Plan gut. Hätte man ihn befolgt, wäre David bestimmt erschlagen worden, es sei denn, der Herr hätte unmittelbar zu seiner Rettung eingegriffen. Aber eine höhere Weisheit als die des tüchtigen Ahithophel lenkte die Ereignisse. “So schickte es der Herr, daß der kluge Rat Ahithophels verhindert wurde, damit der Herr Unheil über Absalom brächte.” 2.Samuel 17,14. PP 713.2
Huschai war nicht zu der Beratung hinzugezogen worden, und unaufgefordert wollte er sich nicht dazu drängen, damit er nicht in Spionageverdacht geriete. Aber nachdem man auseinandergegangen war, legte ihm Absalom, der eine hohe Meinung vom Urteil des väterlichen Ratgebers hatte, selbst Ahithophels Plan vor. Huschai sah auf den ersten Blick, daß David, wenn es dabei blieb, verloren war. Darum erwiderte er: “Es ist kein guter Rat, den Ahithophel diesmal gegeben hat. Und Huschai sprach weiter: Du kennst deinen Vater und seine Leute, daß sie stark sind und zornigen Gemüts wie eine Bärin auf dem Felde, der die Jungen geraubt sind. Dazu ist dein Vater ein Kriegsmann und wird seinen Leuten keine Nachtruhe gönnen. Siehe, er hat sich jetzt vielleicht verkrochen in irgendeiner Schlucht oder sonst einem Versteck.” 2.Samuel 17,7-9. Huschai begründete das so: Verfolgt deine Streitmacht David jetzt und kann ihn nicht gefangennehmen, erlebst du einen Rückschlag, der die Leute entmutigt und deiner Sache nur schaden kann. “Denn es weiß ganz Israel, daß dein Vater ein Held ist und seine Leute tapfere Krieger sind.” Nun entwickelte er ihm einen Plan, der dem eitlen, ich bezogenen Wesen Absaloms mit dem Hang zur Machtentfaltung gefiel: “Darum rate ich, daß du zu dir versammelst ganz Israel von Dan bis Beerseba, soviel wie der Sand am Meer, und daß du selbst mit ihnen ziehst. So wollen wir ihn überfallen, wo wir ihn finden, und wollen über ihn kommen, wie der Tau auf die Erde fällt, daß wir von ihm und allen seinen Männern nicht einen einzigen übrig lassen. Zieht er sich aber in eine Stadt zurück, so soll ganz Israel Strikke an die Stadt legen und sie ins Tal schleifen, so daß man nicht einen Stein mehr dort finde.” 2.Samuel 17,10-13. PP 713.3
“Da sprachen Absalom und jedermann in Israel: Der Rat Huschais, des Arkiters, ist besser als Ahithophels Rat.” 2.Samuel 17,14. Nur einer ließ sich nicht täuschen: Ahithophel. Er sah ganz klar, worauf Absaloms verhängnisvoller Fehler hinauslief, und erkannte, daß die Sache des Empörers verloren war. Er wußte außerdem eins ganz genau: Welches Schicksal auch Absalom treffen mochte, für den Anstifter zu seinem schlimmsten Verbrechen gab es keine Hoffnung mehr. Ahithophel hatte Absalom zum Aufstand ermutigt; er gab ihm den abscheulichen Rat, seinen Vater schimpflich zu beleidigen; er hatte vorgeschlagen, David zu töten, und sogar die Pläne zur Ausführung gelegt. Damit schnitt er sich selbst die letzte Möglichkeit zu einer Versöhnung mit König David ab. Und nun zog Absalom ihm sogar einen andern vor. Neidisch, zornig und verzweifelt zog Ahithophel “heim in seine Stadt und bestellte sein Haus und erhängte sich und starb”. 2.Samuel 17,23. So endete die menschliche Weisheit eines Mannes, der zwar hochbegabt war, aber Gott nicht um Rat gefragt hatte. Satan verführt die Menschen mit schmeichelhaften Versprechungen, aber schließlich wird jeder erfahren: “Der Sünde Sold ist Tod.” Römer 6,23. PP 714.1
Huschai war sich trotzdem nicht sicher, ob der wankelmütige König seinen Rat befolgen würde. Deshalb verlor er keine Zeit, David zu drängen, unverzüglich über den Jordan zu gehen. Den Priestern, die mit Hilfe ihrer Söhne diese Nachricht übermitteln sollten, ließ er sagen: “So und so hat Ahithophel Absalom und den Ältesten in Israel geraten, ich aber habe so und so geraten ... Laßt David sagen: Bleibe nicht über Nacht an den Furten der Wüste, sondern geh gleich hinüber, damit der König nicht vernichtet werde und das ganze Volk, das bei ihm ist.” 2.Samuel 17,15.16. PP 715.1
Die jungen Männer wurden zwar beargwöhnt und verfolgt, aber es gelang ihnen, ihren gefährlichen Auftrag auszurichten. David war nach dem ersten Tage seiner Flucht von Anstrengung und Kummer erschöpft. Nun hörte er, daß er noch in der Nacht über den Jordan gehen müsse, weil sein Sohn ihm nach dem Leben trachtete. PP 715.2
Welche Gefühle mögen den Vater und König, dem so grausam Unrecht geschah, in dieser großen Gefahr bewegt haben? Er, ein Held und Kriegsmann, der König, dessen Wort Gesetz war, verraten vom eigenen Sohn, den er so geliebt und dem er törichterweise vertraut hatte; von seinen Untertanen, die ihm durch die stärksten Bande von Ehre und Treue verpflichtet waren, beleidigt und verlassen! Mit welchen Worten verlieh David seinen Empfindungen Ausdruck? In der dunkelsten Stunde der Heimsuchung setzte er sein Vertrauen auf Gott und sprach: PP 715.3
“Ach Herr, wie sind meiner Feinde so viel und erheben sich so viele gegen mich! Viele sagen von mir: Er hat keine Hilfe bei Gott. Aber du, Herr, bist der Schild für mich, du bist meine Ehre und hebst mein Haupt empor. Ich rufe mit meiner Stimme zum Herrn, so erhört er mich von seinem heiligen Berge. Ich liege und schlafe und erwache; denn der Herr hält mich. Ich fürchte mich nicht vor vielen Tausenden, die sich ringsum wider mich legen ... Bei dem Herrn findet man Hilfe. Dein Segen komme über dein Volk!” Psalm 3,2-7.9. PP 715.4
Im Dunkel der Nacht ging David mit allen, die bei ihm waren, Kriegern und Staatsmännern, Alten und Jungen, Frauen und Kindern, über den tiefen, reißenden Jordan. “Und als es lichter Morgen wurde, fehlte nicht ein einziger, der nicht über den Jordan gegangen war.” 2.Samuel 17,22. PP 715.5
David und seine Streitkräfte zogen sich nach Mahanajim, Isch-Boscheths ehemaliger Residenz, zurück. Das war eine stark befestigte Stadt in gebirgiger Landschaft, die im Falle eines Krieges genügend Schutz bot. Das ganze Gebiet war gut mit Vorräten versorgt und die Bevölkerung David freundlich gesinnt. Hier schlossen sich ihm noch viele an, während wohlhabende Stammesangehörige reichlich für Nahrung und andere notwendige Güter sorgten. PP 716.1
Huschais Rat hatte seinen Zweck erfüllt und David die Möglichkeit zum Entkommen geboten. Aber der voreilige, stürmische Königssohn ließ sich nicht lange zurückhalten. Er brach bald zur Verfolgung seines Vaters auf. “Absalom zog über den Jordan und alle Männer Israels mit ihm.” 2.Samuel 17,24. Er ernannte Amasa, den Sohn von Davids Schwester Abigail, zum Oberbefehlshaber. Zwar verfügte er über ein großes Heer, aber es war ungeschult und viel zu schlecht vorbereitet, als daß es sich mit den erprobten Kriegern seines Vaters hätte messen können. PP 716.2
David teilte seine Streitmacht in drei Abteilungen unter dem Befehl von Joab, Abisai und Ittai, dem Gathiter. Es war seine Absicht, das Heer persönlich ins Feld zu führen. Aber dagegen erhoben seine Offiziere und Räte sowie das Volk heftig Einspruch. “Du sollst nicht ausziehen”, sagten sie, “denn wenn wir fliehen oder die Hälfte von uns stirbt, so werden sie unser nicht achten; aber du bist wie zehntausend von uns. So ist’s nun besser, daß du uns von der Stadt aus helfen kannst. Der König sprach zu ihnen: Was euch gefällt, das will ich tun.” 2.Samuel 18,3.4. PP 716.3
Von den Mauern der Stadt konnte man die langen Reihen des aufständischen Heeres gut übersehen. Eine riesige Menge scharte sich um den Thronräuber. Im Vergleich dazu wirkte Davids Truppe wie eine Handvoll. Aber beim Anblick der gegnerischen Streitkräfte überwogen beim König nicht die Gedanken an Krone und Reich, auch nicht an sein Leben, das vom Ausgang der Schlacht abhing. Das Herz des Vaters hing voll Liebe und Mitleid an seinem aufständischen Sohn. Als die Truppen durch die Stadttore zogen, ermutigte David seine treuen Krieger, im Vertrauen auf den Gott Israels auszuziehen, der ihnen den Sieg verleihen werde. Aber selbst hierbei konnte er seine Liebe zu Absalom nicht unterdrücken. Als Joab, der die erste Heeresgruppe befehligte, am König vorbeimarschierte, neigte dieser Sieger in hundert Schlachten sein stolzes Haupt, um den letzten Bescheid des Monarchen zu hören, der ihm mit bebender Stimme sagte: “Verfahrt mir schonend mit meinem Sohn Absalom!” Abisai und Ittai erhielten denselben Befehl: “Verfahrt mir schonend mit meinem Sohn Absalom!” 2.Samuel 18,5. Des Königs Sorge schien zu besagen, daß Absalom ihm teurer war als das Königreich, wichtiger sogar als seine ihm treu gebliebenen Untertanen, und gerade das steigerte deren Unwillen gegen den unnatürlichen Sohn noch mehr. PP 716.4
Kampfplatz wurde ein Wald in der Nähe des Jordan, der für Absaloms zahlreiche Truppen höchst ungünstig war. In den Dickichten und Sümpfen des Gehölzes gerieten diese ungeübten Leute in Verwirrung. Die Führung hatte sie bald nicht mehr in der Hand. “Und das Heer Israels wurde dort geschlagen von den Männern Davids, so daß an diesem Tage eine große Schlacht geschah — zwanzigtausend Mann.” 2.Samuel 18,7. Als Absalom sah, daß der Kampf verloren war, wandte er sich zur Flucht. Da verfing sich sein Haar in den verästelten Zweigen eines Baumes. Das Maultier lief unter ihm weg, und er hing als hilflose Beute seiner Feinde in der Luft. In dieser Verfassung fand ihn ein Krieger, der ihn jedoch aus Furcht vor dem Unwillen des Königs schonte. Aber er berichtete Joab, was er gesehen hatte. Diesen belasteten keine Gewissensbedenken. Er war mit Absalom befreundet gewesen und hatte zweimal eine Aussöhnung zwischen David und ihm zuwege gebracht. Sein Vertrauen war schmählich getäuscht worden. Schon um der Hilfestellung willen, die Absalom durch Joabs Vermittlung erfahren hatte, hätte dieser Aufstand mit allen seinen Schrecken niemals stattfinden dürfen. Nun lag es in Joabs Hand, den Anstifter dieses Unheils zu vernichten. “Da nahm Joab drei Stäbe in seine Hand und stieß sie Absalom ins Herz ... Und sie nahmen Absalom und warfen ihn im Wald in eine große Grube und legten einen sehr großen Haufen Steine auf ihn.” 2.Samuel 18,14-17. PP 717.1
So starben die beiden Urheber des Aufruhrs in Israel. Ahithophel hatte ja Selbstmord verübt. Prinz Absalom, dessen strahlende Schönheit einmal Israels Stolz gewesen war, wurde in der Kraft seiner Jugend hinweggerafft. Seinen Leichnam warf man in eine Grube und bedeckte ihn zum Zeichen ewiger Schande mit einem Steinhaufen. Schon zu seinen Lebzeiten hatte sich Absalom im Königstal ein kostspieliges Denkmal errichtet. Aber die einzige Erinnerung an sein Grab blieb jener Steinhaufen in der Wildnis. PP 717.2
Nachdem der Anführer des Aufstandes umgekommen war, ließ Joab sein Heer durch Posaunenschall von der Verfolgung der fliehenden Feinde zurückrufen und sandte sofort Boten mit der Nachricht zum König. PP 718.1
Der Wächter auf der Stadtmauer schaute in Richtung auf das Schlachtfeld und entdeckte einen einzelnen Läufer. Bald darauf kam ein zweiter in Sicht. Als der erste näher kam, meldete der Wächter dem König, der am Tor wartete: “Ich sehe den ersten laufen, wie Ahimaaz, der Sohn Zadoks, läuft. Und der König sprach: Es ist ein guter Mann und bringt eine gute Botschaft. Ahimaaz aber rief und sprach zum König: Friede! Und er fiel nieder vor dem König auf sein Antlitz zur Erde und sprach: Gelobt sei der Herr, dein Gott, der die Leute dahingegeben hat, die ihre Hand gegen meinen Herrn, den König, erhoben haben.” Auf die dringende Frage des Königs: “Geht es auch meinem Sohn Absalom gut?” gab Ahimaaz eine ausweichende Antwort. 2.Samuel 18,27-29. PP 718.2
Der zweite Bote kam und rief: “Hier gute Botschaft, mein Herr und König! Der Herr hat dir heute Recht verschafft gegen alle, die sich gegen dich auflehnten.” Wieder kam von den Lippen des Vaters die eindringliche Frage: “Geht es meinem Sohn Absalom auch gut?” Unfähig, die schlimme Nachricht zu verheimlichen, antwortete der Bote: “Es müsse den Feinden meines Herrn, des Königs, ergehen, wie es dem jungen Mann ergangen ist, und auch allen, die sich böswillig gegen dich auflehnen.” 2.Samuel 18,31.32. Das genügte. David fragte nicht weiter. Gebeugten Hauptes “erbebte der König und ging hinauf in das Obergemach des Tores und weinte, und im Gehen rief er: Mein Sohn Absalom! Mein Sohn, mein Sohn Absalom! Wollte Gott, ich wäre für dich gestorben! O Absalom, mein Sohn, mein Sohn!” 2.Samuel 19,1. PP 718.3
Als sich die siegreich heimkehrenden Truppen der Stadt näherten, hallten die Berge von ihrem Triumphgeschrei wider. Aber am Tor erstarb ihr Jubel auf den Lippen. Die Banner in ihren Händen senkten sich, und mit niedergeschlagenen Blicken kamen sie mehr wie Besiegte als wie Sieger daher. Denn der König erwartete sie nicht zur Begrüßung, vielmehr hörte man aus dem Zimmer über dem Tor seine wehklagende Stimme: “Mein Sohn Absalom! Mein Sohn, mein Sohn Absalom! Wollte Gott, ich wäre für dich gestorben! O Absalom, mein Sohn, mein Sohn!” PP 718.4
“So wurde aus dem Sieg an diesem Tag eine Trauer unter dem ganzen Kriegsvolk; denn das Volk hatte an diesem Tage gehört, daß sich der König um seinen Sohn gräme. Und das Kriegsvolk stahl sich weg an diesem Tage in die Stadt, wie sich Kriegsvolk wegstiehlt, das sich schämen muß, weil es im Kampf geflohen ist.” 2.Samuel 19,3.4. PP 719.1
Joab aber war ungehalten. Gott hatte ihnen allen Grund zu Jubel und Freude geschenkt. Die schwierigste Empörung, die es je in Israel gegeben hatte, war niedergeschlagen. Und da wurde dieser große Sieg um des Mannes willen in Trauer verwandelt, dessen Verbrechen das Blut Tausender tapferer Männer gekostet hatte. Der derbe, rauhe Feldhauptmann drang bis zum König vor und sagte kühn: “Du hast heute schamrot gemacht alle deine Knechte, die dir heute das Leben gerettet haben und deinen Söhnen, deinen Töchtern, ... weil du liebhast, die dich hassen, und hassest, die dich liebhaben. Denn du läßt heute merken, daß dir nichts gelegen ist an den Obersten und Kriegsleuten. Ja, ich merke heute wohl: wenn nur Absalom lebte und wir heute alle tot wären, das wäre dir recht. So mache dich nun auf und komm heraus und rede mit deinen Knechten freundlich. Denn ich schwöre dir bei dem Herrn: Wirst du nicht herauskommen, so wird kein Mann bei dir bleiben diese Nacht. Das wird für dich ärger sein als alles Übel, das über dich gekommen ist von deiner Jugend auf bis hierher.” 2.Samuel 19,6-8. PP 719.2
So hart und grausam der Vorwurf für den tiefbekümmerten König war, David grollte deswegen nicht. Er sah ein, daß sein Feldherr recht hatte, und ging zum Tor hinunter. Dort grüßte er seine tapferen Krieger, als sie an ihm vorbei marschierten, mit Worten des Lobes und der Anerkennung. PP 719.3