Patriarchen und Propheten

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Kapitel 55: Samuels Kindheit

Elkana, ein Levit vom Gebirge Ephraim, war ein wohlhabender, einflußreicher Mann, der den Herrn liebte und fürchtete. Auch seine Frau Hanna war aufrichtig fromm, dabei freundlich und bescheiden, von tiefem Ernst und großem Glauben beseelt. PP 551.1

Aber der Segen, den sich jeder Hebräer sehnlichst wünschte, war diesem frommen Paar versagt. In ihrem Heim hörte man keine fröhlichen Kinderstimmen; und der Wunsch, seinen Namen nicht aussterben zu lassen, hatte den Mann — wie viele andere — dazu bewegt, eine zweite Ehe einzugehen. Aber dieser Entschluß brachte kein Glück, weil er aus Mangel an Gottvertrauen entstand. Wohl gab es nun Söhne und Töchter im Haus, aber die Freude und Schönheit der von Gott gestifteten Ehe waren gestört und der häusliche Friede dahin. Peninna, die zweite Frau, war eifersüchtig und engherzig, zudem stolz und anmaßend. Hannas Fall schien hoffnungslos und das Leben nur noch eine schwere Last für sie zu sein. Doch sie ertrug die Prüfung mit Sanftmut und ohne zu klagen. PP 551.2

Elkana beobachtete die religiösen Verordnungen gewissenhaft. Der Gottesdienst in Silo bestand noch immer; aber infolge mangelhafter Verwaltung des Heiligtums nahm man Elkanas Dienste, obwohl er Levit war, nicht in Anspruch. Dennoch ging er mit seiner Familie stets zu den vorgeschriebenen Versammlungen hinauf, um anzubeten und zu opfern. PP 551.3

Aber sogar während der religiösen Festlichkeiten, die man mit dem Gottesdienst verband, machte sich der böse Geist bemerkbar, mit dem sein Heim belastet war. Nach dem Dankopfer versammelte sich die ganze Familie nach alter Gewohnheit zu einem feierlichen, doch frohen Mahl. Bei diesen Gelegenheiten bot Elkana der Mutter seiner Kinder je ein Stück vom Opferfleisch für sie und ihre Söhne und Töchter. Hanna aber gab er zum Zeichen seiner Hochachtung ein doppeltes Teil, um anzudeuten, daß seine Gefühle für sie die gleichen waren, als hätte sie einen Sohn. Brennend vor Eifersucht forderte die zweite Frau diese Auszeichnung, da sie von Gott höher begnadet sei. Sie stichelte wegen Hannas Kinderlosigkeit und behauptete, diese sei ein Beweis göttlichen Mißfallens. So ging das Jahr für Jahr, bis Hanna es nicht mehr ertragen konnte. Unfähig, ihren Kummer zu verbergen, weinte sie hemmungslos und verließ die Feier. Vergeblich suchte ihr Mann sie zu trösten. “Warum weinst du, und warum issest du nichts? Und warum ist dein Herz so traurig?” fragte er. “Bin ich dir nicht mehr wert als zehn Söhne?” 1.Samuel 1,8. PP 551.4

Hanna machte ihm keinen Vorwurf. Sie legte aber die Bürde, die sie mit niemandem auf der Welt teilen konnte, Gott vor. Ernstlich bat sie ihn, er möge doch die Schmach von ihr nehmen und ihr das kostbare Geschenk eines Sohnes gewähren, den sie für ihn pflegen und erziehen könne. Und sie gelobte feierlich, dieses Kind von Geburt an dem Herrn zu weihen, wenn ihre Bitte erhört würde. Hanna hatte sich dem Eingang der Stiftshütte genähert, und in der Angst ihres Herzens “betete ... und weinte sie sehr”. 1.Samuel 1,10. Doch sie tat es still und sprach kein einziges lautes Wort dabei. PP 552.1

In jenen schlimmen Zeiten konnte man solche Gebetshaltung selten wahrnehmen. Unehrerbietige Feiern und sogar Trunkenheit waren selbst bei religiösen Festen nichts Ungewöhnliches mehr. Als Eli, der Hohepriester, Hanna beobachtete, vermutete er darum, sie habe zuviel Wein getrunken. Er war der Meinung, daß hier ein verdienter Tadel angebracht sei, und sagte streng: “Wie lange willst du betrunken sein? Gib den Wein von dir, den du getrunken hast!” PP 552.2

Gequält und erschreckt antwortete Hanna sanft: “Nein, mein Herr! Ich bin ein betrübtes Weib; Wein und starkes Getränk hab ich nicht getrunken, sondern mein Herz vor dem Herrn ausgeschüttet. Du wollest deine Magd nicht für ein zuchtloses Weib halten, denn ich hab aus meinem großen Kummer und Herzeleid so lange geredet.” PP 552.3

Der Hohepriester war tief bewegt, denn er war ein Mann Gottes; und anstelle des Tadels segnete er sie nun: “Geh hin mit Frieden; der Gott Israels wird dir die Bitte erfüllen, die du an ihn gerichtet hast.” 1.Samuel 1,14-17. PP 552.4

Und Hannas Gebet wurde erhört; sie empfing, worum sie so ernst gebetet hatte. Als sie ihr Kind erblickte, nannte sie es Samuel, “von Gott erbeten”. Sobald der Kleine alt genug war, um von seiner Mutter getrennt zu werden, erfüllte sie auch ihr Gelübde. Sie liebte ihr Kind mit der ganzen Hingabe eines Mutterherzens. Tag für Tag beobachtete sie seine Entwicklung, und wenn sie sein kindliches Geplauder hörte, umgab sie ihn noch inniger mit ihrer Liebe. Er war ihr einziger Sohn, ein besonderes Geschenk des Himmels; aber sie hatte ihn als ein Gott geweihtes Vermächtnis empfangen und wollte dem Geber sein Eigentum nicht vorenthalten. PP 553.1

Wieder einmal pilgerte Hanna mit ihrem Mann nach Silo, und jetzt stellte sie dem Priester ihr Kostbarstes vor mit den Worten: “Um diesen Knaben bat ich. Nun hat der Herr mir die Bitte erfüllt, die ich an ihn gerichtet hatte. Darum gebe ich ihn dem Herrn wieder sein Leben lang.” 1.Samuel 1,27.28. Eli war von dem Glauben und der Frömmigkeit dieser israelitischen Frau tief ergriffen. Weil er selbst ein allzu nachsichtiger Vater war, empfand er Hochachtung für sie und fühlte sich zugleich gedemütigt beim Anblick des großen Opfers, das diese Mutter brachte. Sie trennte sich von ihrem einzigen Kinde und weihte es dem Dienste Gottes. Für ihn lag darin ein Tadel seiner eigenen selbstsüchtigen Liebe, und in Ehrfurcht beugte er sich vor dem Herrn und betete an. PP 553.2

Ihr Mutterherz war erfüllt von Freude und Dank, und sie wünschte nichts sehnlicher, als das vor Gott auszusprechen. Da kam der Geist der Weissagung über sie, “und Hanna betete und sprach: Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn, mein Haupt ist erhöht in dem Herrn. Mein Mund hat sich weit aufgetan wider meine Feinde, denn ich freue mich deines Heils. Es ist niemand heilig wie der Herr, außer dir ist keiner, und ist kein Fels wie unser Gott ist. Laßt euer großes Rühmen und Trotzen, freches Reden gehe nicht aus eurem Munde; denn der Herr ist ein Gott, der es merkt, und von ihm werden Taten gewogen ... Der Herr tötet und macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf. Der Herr macht arm und macht reich; er erniedrigt und erhöht. Er hebt auf den Dürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen aus der Asche, daß er ihn setze unter die Fürsten und den Thron der Ehre erben lasse. Denn der Welt Grundfesten sind des Herrn, und er hat die Erde darauf gesetzt. Er wird behüten die Füße seiner Heiligen, aber die Gottlosen sollen zunichte werden in Finsternis; denn viel Macht hilft doch niemand. Die mit dem Herrn hadern, sollen zugrunde gehen. Der Höchste im Himmel wird sie zerschmettern, der Herr wird richten der Welt Enden. Er wird Macht geben seinem Könige und erhöhen das Haupt seines Gesalbten.” 1.Samuel 2,1-3.6-10. PP 553.3

Hannas Worte wiesen prophetisch sowohl auf David, Israels späteren König, als auf den Messias hin, den Gesalbten des Herrn. Das Lied spielt zuerst auf das Prahlen einer anmaßenden, streitsüchtigen Frau an und weist dann auf die Vernichtung der Feinde Gottes und den endgültigen Sieg seiner Erlösten hin. PP 554.1

Ruhig kehrte Hanna von Silo in ihr Heim nach Rama zurück und überließ den kleinen Samuel der Obhut des Hohenpriesters, damit er für den Dienst im Hause Gottes erzogen würde. Sobald er es begreifen konnte, hatte sie ihn gelehrt, Gott zu lieben und zu ehren und sich als Eigentum des Herrn anzusehen. Schon durch die alltäglichen Dinge, die ihn umgaben, versuchte sie seine Gedanken auf den Schöpfer zu lenken. Mit der Trennung hörte aber die liebevolle Fürsorge der Mutter für ihr Kind nicht auf. Täglich betete sie für ihn. Sie nähte ihm auch jedes Jahr eigenhändig ein Obergewand; und wenn sie mit ihrem Mann nach Silo hinaufging, um anzubeten, nahm sie dem Kinde dieses Zeichen ihrer Liebe mit. Mit jeder Faser dieses kleinen Gewandes hatte sie ein Gebet verwoben, daß der Träger rein, edel und wahr sein möge. Sie erbat für ihren Sohn keinen hohen weltlichen Rang, aber sie flehte angelegentlich darum, daß er jene Größe erreichen möge, die für den Himmel Wert hat, so daß er Gott ehren und seinen Mitmenschen zum Segen werden möge. PP 554.2

Wie sehr wurde Hanna belohnt und welche Ermutigung zur Treue liegt in ihrem Beispiel! Es gibt Gelegenheiten von unschätzbarem Wert, unendlich kostbare Möglichkeiten, die jeder Mutter anvertraut sind. In ihrem bescheidenen Wirkungskreis mit den Pflichten, die Frauen oft als lästig empfinden, sollten sie vielmehr eine große, wunderbare Aufgabe sehen. Es ist das Vorrecht der Mütter, die Welt durch ihren Einfluß glücklich zu machen, und dabei wird Freude in das eigene Herz einkehren. Sie kann ihren Kindern Wege ebnen helfen, die durch Sonnenschein und Schatten zu den herrlichen Höhen da droben führen. Aber nur wenn sie im eigenen Leben Jesu Lehren zu verwirklichen sucht, kann eine Mutter hoffen, den Charakter ihrer Kinder nach dem göttlichen Vorbild zu formen. Die Welt ist voll von verderblichen Einflüssen. Die Mode mit all ihren Ausdrucksformen hat einen starken Einfluß auf die Jugend. Versagt die Mutter hier in ihrer Pflicht zu unterweisen, zu lenken und zu verbieten, werden die Kinder naturgemäß Schlechtes annehmen und sich vom Guten abwenden. Ihr Mütter, geht oft zu eurem Heiland und bittet ihn: “Lehre uns, wie sollen wir das Kind leiten, und was sollen wir mit ihm tun?” Achtet auf die Ratschläge in seinem Wort, und euch wird Verständnis zuteil werden, wie ihr es jeweils bedürft. PP 554.3

“Der Knabe Samuel nahm immer mehr zu an Alter und Gunst bei dem Herrn und bei den Menschen.” 1.Samuel 2,26. Obwohl Samuel schon als Kind an die Stiftshütte kam, die dem Gottesdienst geweiht war, blieb er doch nicht von schlechten Einflüssen und Beispielen verschont. Elis Söhne fürchteten Gott nicht und kannten keine Achtung vor ihrem Vater. Samuel mied darum ihre Gesellschaft und folgte auch ihrem bösen Beispiel nicht. Er gab sich große Mühe, das zu werden, was er nach dem Willen Gottes sein sollte. Und das darf jeder junge Mensch. Gott sieht es mit Wohlgefallen, wenn sich sogar kleine Kinder in seinen Dienst stellen. PP 555.1

Samuel war nun Elis Fürsorge anvertraut. Mit seinem liebenswürdigen Wesen gewann er bald die warme Zuneigung des bejahrten Priesters. Er war immer gefällig, gehorsam und ehrerbietig. Der durch die Abwege seiner Söhne bedrückte Eli fand trostvollen Frieden und Glück in der Nähe seines Pfleglings. Samuel war stets hilfsbereit und liebevoll, und kein Vater hätte sein Kind mehr lieben können als Eli diesen Jungen. Das herzliche Verhältnis zwischen dem höchsten Richter Israels und dem unschuldigen Kinde war etwas Einzigartiges. Als dann die Altersbeschwerden kamen und Eli durch das ruchlose Treiben seiner Söhne voller Unruhe und Gewissensbisse war, fand er Trost bei Samuel. PP 555.2

Die Leviten traten ihren eigentlichen Dienst nicht vor dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr an, bei Samuel machte man eine Ausnahme. In jedem Jahr vertraute man ihm mehr und wichtigere Pflichten an; und noch als Kind wurde ihm ein leinener Leibrock angelegt als Zeichen seiner Weihe zum Heiligtumsdienst. So jung Samuel war, als ihn die Mutter zur Stiftshütte brachte, übertrug man ihm schon damals seinen Fähigkeiten entsprechende Aufgaben. Die waren zunächst sehr bescheiden und nicht immer angenehm; aber er tat sie, so gut er konnte, und vor allem willig. Sein frommer Sinn bewährte sich auch in den alltäglichen Dingen, denn er betrachtete sich als Diener Gottes und seine Arbeit als Gottes Werk. Gott nahm seine Bemühungen mit Wohlgefallen an, weil sie der Liebe zu ihm und dem aufrichtigen Verlangen entsprangen, seinen Willen zu tun. Auf diese Weise wurde Samuel ein Mitarbeiter des Herrn über Himmel und Erde. Und Gott bereitete ihn darauf vor, später wichtige Aufgaben in Israel zu übernehmen. PP 555.3

Wenn man Kindern klar machte, die kleinen Alltagspflichten als gottgewollt anzusehen, als eine Schule, in der sie lernen sollen, einmal treu und erfolgreich zu werden, wieviel angenehmer und wertvoller kämen ihnen dann ihre Aufgaben vor. Der Gedanke, alles für den Herrn zu tun, kann auch die bescheidenste Arbeit reizvoll machen, und das verbindet die Helfer auf Erden mit den heiligen Wesen, die Gottes Willen im Himmel tun. PP 556.1

Erfolg in diesem Leben und der Gewinn des zukünftigen hängen mit davon ab, ob jemand auch in kleinen Dingen treu und gewissenhaft ist. In Gottes Schöpfung ist Vollkommenheit im Geringsten wie im Größten. Die Hand, die die Himmelskörper im Weltall trägt, ist dieselbe, die auch die Lilien auf dem Felde mit zarter Feinheit schuf. Und wie Gott in seinem Wirkungsbereich vollkommen ist, so sollen wir es in unserem sein. Ein ausgeglichener, starker und wertvoller Charakter entwickelt sich aus der persönlichen Pflichtauffassung bei unscheinbaren Aufgaben. Gewissenhaftigkeit in allem sollte unser Leben bestimmen. Redlichkeit, kleine Hilfeleistungen und Gefälligkeiten schaffen Freude im Leben. Und ist einmal unser Werk auf Erden getan, wird sich zeigen, daß auch ganz unscheinbare, treu erfüllte Pflichten Einfluß zum Guten hatten, der niemals vergehen kann. PP 556.2

Möge die Jugend unsrer Zeit in Gottes Augen ebenso wertvoll werden wie Samuel. Wenn sie sich ihre christliche Lauterkeit bewahrt, kann sie auf das Werk der Erneuerung großen Einfluß ausüben. Wir brauchen heute solche Menschen, und Gott hat für jeden eine Aufgabe. Niemals wurde in unseren Tagen Größeres für Gott und an der Menschheit erzielt als durch schlichtes Gottvertrauen. PP 556.3