Patriarchen und Propheten

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Kapitel 56: Eli und seine Söhne

Eli war Priester und Richter zugleich in Israel. Damit bekleidete er die höchsten und verantwortungsvollsten Ämter. Als ein Mann, den Gott für die heiligen Pflichten des Priesteramtes erwählte und mit richterlicher Vollmacht im Lande betraute, sah man in ihm mit Recht ein Vorbild; darum hatte er bei den Stämmen Israels großen Einfluß. Aber obwohl zur Leitung des Volkes bestimmt, konnte er nicht einmal seine eigene Familie regieren. Eli war ein zu nachsichtiger Vater, der Frieden und Ruhe liebte. Nie setzte er seine väterliche Autorität gegen die schlechten Neigungen und Gewohnheiten seiner Kinder ein. Statt sich seinen Kindern gegenüber zu behaupten oder sie hart heranzunehmen, gab er immer nach und ließ sie ihre eigenen Wege gehen. Statt in der Erziehung seiner Söhne eine der wichtigsten Aufgaben zu sehen, behandelte er sie als etwas Nebensächliches. Der Priester und Richter kannte seine Pflicht, die ihm von Gott anvertrauten Kinder anzuleiten und in Schranken zu halten. Aber gerade davor schreckte Eli zurück, denn das bedeutete, dem Willen seiner Söhne entgegenzutreten, ihnen manches zu versagen und sie zu bestrafen. Ohne die furchtbaren Folgen zu bedenken, die sein Verhalten heraufbeschwören mußte, gab er ihnen in allen Stücken nach, ließ sie tun, was immer sie wollten, und versäumte darüber völlig, sie für den Dienst Gottes und auf die Pflichten des Lebens vorzubereiten. PP 557.1

Gott hatte von Abraham gesagt: “Dazu habe ich ihn auserkoren, daß er seinen Kindern befehle und seinem Hause nach ihm, daß sie des Herrn Wege halten und tun, was recht und gut ist.” 1.Mose 18,19. Aber Eli ließ es zu, daß seine Kinder ihn, den Vater, beherrschten. Der Fluch der Übertretung zeigte sich denn auch in ihrer Verdorbenheit und dem schlimmen Lebenswandel. Sie kannten weder Achtung vor Gott noch vor der Heiligkeit seines Gesetzes. Gottesdienst war für sie etwas ganz Gewöhnliches. Sie waren ja von Kind auf an das Heiligtum und den damit verbundenen Dienst gewöhnt. Aber statt dafür um so ehrerbietiger zu werden, verloren sie im Gegenteil jedes Gefühl für seine heilige Bedeutung. Und der Vater hatte weder ihren Mangel an Achtung gerügt, noch war er ihrer geringschätzigen Haltung gegenüber dem feierlichen Heiligtumsdienst entgegengetreten. Nun sie Männer geworden waren, erfüllte sie Zweifelsucht und Aufsässigkeit. PP 557.2

Obwohl sie für diesen Dienst völlig ungeeignet waren, setzte Eli sie dennoch als Priester ein. Der Herr hatte genaueste Anweisungen über die Darbringung der Opfer gegeben. Aber diese gottlosen Männer übertrugen ihre fehlende Ehrfurcht sogar auf den Gottesdienst und mißachteten die Gesetze, welche die feierliche Darbringung der Opfer vorschrieben. PP 558.1

Der wahre Sinn der Opfer war, auf den Tod Christi hinzuweisen und im Volk den Glauben an den Erlöser zu bewahren. Eben deshalb war es überaus wichtig, die göttlichen Anordnungen darüber genau zu beachten. Insbesondere waren die Sühnopfer ein Ausdruck der Dankbarkeit gegen Gott. Dabei sollte nur das Fett auf dem Altar verbrannt werden. Ein ganz bestimmter Anteil war den Priestern vorbehalten, aber das meiste wurde dem Opfernden zurückgegeben, damit er und seine Angehörigen es beim Opfermahl verzehrten. So sollten alle in dankbarem Glauben des großen Opfers gedenken, das die Sünden der Welt wegnehmen würde. PP 558.2

Anstatt sich den Ernst dieses sinnbildlichen Dienstes zu vergegenwärtigen, dachten Elis Söhne nur daran, wie sie damit ihre zügellose Genußsucht befriedigen könnten. Nicht zufrieden mit dem, was ihnen zustand, forderten sie einen weiteren Anteil; und bei der großen Zahl dieser Opfer, die auf den Jahresfesten dargebracht wurden, hatten sie Gelegenheit, sich auf Kosten des Volkes zu bereichern. Damit nicht genug, warteten sie auch nicht, bis das Fett als Opfer verbrannt war. Und sie beharrten darauf, sich zu nehmen, was ihnen gefiel; wenn man es ihnen verweigerte, notfalls mit Gewalt. PP 558.3

Diese Unehrerbietigkeit der Priester raubte dem Gottesdienst bald seine heilige, ernste Bedeutung, und die Leute “verachteten das Opfer des Herrn”. Das große Opfer, auf das die Sinnbilder wiesen und auf das sie schauen sollten, verloren sie aus dem Auge. “So war die Sünde der Männer sehr groß vor dem Herrn.” 1.Samuel 2,17. PP 558.4

Diese pflichtvergessenen Priester übertraten Gottes Gesetz und entehrten ihr heiliges Amt mit schmählichen, würdelosen Gepflogenheiten. Fortgesetzt entweihten sie mit ihrer Anwesenheit die Stiftshütte. Viele Israeliten waren empört über Hophnis und Pinhas’ lasterhafte Lebensweise und kamen nicht mehr zur Anbetung nach Silo. Der Opferdienst wurde vernachlässigt und mißachtet, und wer schon den Hang zum Bösen hatte, sah sich darin noch bestärkt. Gottlosigkeit, Ruchlosigkeit und sogar Götzendienst nahmen in erschreckender Weise überhand. PP 559.1

Eli beging einen schweren Fehler, daß er seine Söhne am Heiligtumsdienst mitwirken ließ. Als er unter dem einen oder andern Vorwand ihr Verhalten entschuldigte, wurde er allmählich blind gegen ihre Verstöße. Aber schließlich erreichten diese ein solches Ausmaß, daß er den Frevel nicht mehr übersehen konnte. Das Volk beklagte sich über ihre Gewalttaten, und Eli war bekümmert und unglücklich. Aber er durfte nun nicht länger schweigen. Wie seine Söhne dahin erzogen worden waren, nur an sich zu denken, so scherten sie sich auch jetzt um niemanden. Sie sahen wohl den Kummer ihres Vaters, aber in ihrer Hartherzigkeit blieben sie ungerührt. Sie hörten sich auch seine milden Ermahnungen an, aber beeindruckt waren sie deswegen nicht. Sie wollten von ihrem bösen Wandel nicht lassen, obwohl der Vater sie vor den Folgen warnte. Hätte Eli seinen gottlosen Söhnen gegenüber Gerechtigkeit walten lassen, wären sie vom Priesteramt ausgeschlossen und mit dem Tode bestraft worden. Aber vor dieser öffentlichen Schande und solchem Urteil schreckte er zurück, und so ließ er sie in den Vertrauensstellungen. Sie durften weiterhin mit ihrer Verdorbenheit dem Gottesdienst und der gerechten Sache derart schaden, daß es sich auf Jahre hinaus nicht wiedergutmachen ließ. Weil Israels Richter seine Aufgabe versäumte, nahm Gott selbst die Angelegenheit in die Hand. PP 559.2

“Es kam aber ein Mann Gottes zu Eli und sprach zu ihm: So spricht der Herr: Ich habe mich offenbart dem Hause deines Vaters, als die Kinder Israel noch in Ägypten dem Hause des Pharao gehörten, und hab’s mir erwählt aus allen Stämmen Israels zum Priestertum, um auf meinem Altar zu opfern und Räucherwerk zu verbrennen und den Priesterschurz vor mir zu tragen, und ich habe dem Hause deines Vaters alle Feueropfer Israels gegeben. Warum tretet ihr denn mit Füßen meine Schlachtopfer und Speisopfer, die ich für meine Wohnung geboten habe? Und du ehrst deine Söhne mehr als mich, daß ihr euch mästet von dem Besten aller Opfer meines Volkes Israel. Darum spricht der Herr, der Gott Israels: Ich hatte gesagt, dein Haus und deines Vaters Haus sollten immerdar vor mir einhergehen. Aber nun spricht der Herr: Das sei ferne von mir! Sondern wer mich ehrt, den will ich auch ehren; wer aber mich verachtet, der soll wieder verachtet werden ... Ich aber will mir einen treuen Priester erwecken, der wird tun, wie es meinem Herzen und meiner Seele gefällt. Dem will ich ein beständiges Haus bauen, daß er vor meinem Gesalbten immerdar einhergehe.” 1.Samuel 2,27-30.35. PP 559.3

Gott legte Eli zur Last, er sei mehr auf den Ruf seiner Söhne bedacht gewesen als auf den des Herrn. Eli hatte zugelassen, daß das zum Segen für Israel bestimmte Opfer verächtlich gemacht wurde, anstatt seine Söhne dahin zu bringen, sich ihres gottlosen, abscheulichen Verhaltens zu schämen. Wer seine Kinder in blinder Liebe verwöhnt, ihnen alle selbstsüchtigen Wünsche erfüllt, wer nicht Gottes Autorität zur Geltung bringt, Sünde schilt und Böses bestraft, der beweist damit, daß er seine leichtfertigen Kinder über Gott stellt. Es liegt ihm mehr daran, den eigenen guten Ruf zu wahren, als Gott zu verherrlichen. Anstatt dem Herrn gefallen und von seinem Dienst allen Anschein des Bösen fernhalten zu wollen, suchen sie nur die Zustimmung ihrer Kinder. PP 560.1

Gott machte Eli als Priester und Richter für den sittlichen und geistlichen Stand seines Volkes verantwortlich, insbesondere für den Charakter seiner Söhne. Zunächst mochte er versuchen, deren Boshaftigkeit mit milden Maßnahmen zu zügeln. Als das nicht gelang, hätte er das Übel mit den härtesten Mitteln unterdrücken müssen. Er tat es nicht und zog die Schuldigen nicht zur Rechenschaft. Darum lud er Gottes Mißfallen auf sich. Man konnte sich nicht mehr darauf verlassen, daß er in Israel Ordnung hielt. Wer keinen Mut hat, Unrecht zu mißbilligen, oder sich aus Gleichgültigkeit nicht ernsthaft darum bemüht, Klarheit in der Familie oder in der Gemeinde Gottes zu schaffen, wird für die schlimmen Folgen seiner Pflichtversäumnis zur Verantwortung gezogen werden. Wir sind für das Böse, dem wir bei andern kraft unserer Autorität als Eltern oder Prediger entgegentreten könnten, genauso verantwortlich, als hätten wir es selbst getan. PP 560.2

Eli stand seinem Hause nicht so vor, wie Gott es von einem Familienvater erwartet. Er folgte oft genug seiner eigenen Meinung. Der nachsichtige Vater übersah die Fehler und Vergehen seiner Söhne schon, als sie noch Kinder waren, und lebte in der falschen Hoffnung, ihre üblen Gewohnheiten würden sich im Laufe der Zeit von selbst verlieren. Viele machen heute ähnliche Fehler. Sie meinen, bessere Erziehungsmethoden zu kennen als die im Wort Gottes gegebenen. Oft begünstigen sie noch schädliche Neigungen und führen zur Entschuldigung an: “Die Kinder sind zu klein, um sie zu bestrafen. Wartet, bis sie größer sind und man vernünftig mit ihnen reden kann.” So läßt man schlechte Angewohnheiten sich festigen, bis sie zur zweiten Natur geworden sind. Die Kinder wachsen völlig frei auf mit Charakterzügen, die sie meist lebenslang belasten und außerdem andere zur Nachahmung verführen. PP 561.1

Nichts ist verkehrter, als Kinder ihre eigenen Wege gehen zu lassen. Wenn Eltern ihnen jeden Wunsch erfüllen und nachgeben, auch wenn sie wissen, daß es nicht gut für sie ist, dann werden die Kinder jeden Respekt vor den Eltern verlieren. Sie haben dann keine Achtung mehr, weder vor der Autorität Gottes noch vor den Menschen, und lassen sich von Satan gefangennehmen. Schlechter familiärer Einfluß reicht weit und ist für eine ganze Gesellschaftsordnung unheilvoll. Er führt zu einer Welle des Übels, die die Familien, Gemeinden und Regierungen in Mitleidenschaft zieht. PP 561.2

Durch seine Stellung erstreckte sich Elis Einfluß natürlich weiter, als das bei einem einfachen Mann der Fall gewesen wäre. Auf sein Familienleben achtete man in ganz Israel. Und in Tausenden von Heimen konnte man die traurigen Folgen dieser fahrlässigen, leichtfertigen Lebensweise beobachten. Sie richteten sich am Beispiel des Hauses Eli aus. PP 561.3

Wenn angeblich gläubige Eltern bei den Kindern üble Gepflogenheiten durchgehen lassen, stellen sie damit Gottes Wahrhaftigkeit in Frage. Der beste Beweis für das Glaubensleben eines christlichen Heimes sind die aus seinem Einfluß hervorgehenden Charaktere. Taten reden lauter als die höchste Beteuerung des Glaubens. Wenn Gläubige ihre Kinder verziehen und deren schädlichen Wünschen immer nachgeben, anstatt sich ernst und beharrlich um ein wohlgeordnetes Familienleben zu bemühen, das den Wert christlichen Glaubens bezeugt, machen sie es wie Eli. Sie schaden sich und ihren Angehörigen und bereiten der Sache Christi Unehre. Aber so schlimm elterliche Pflichtvergessenheit unter gewöhnlichen Umständen ist, zehnmal ärger ist es, wenn das in Familien vorkommt, deren Väter Vorbilder des Volkes sein sollten. Wenn sie schon im eigenen Hause versagen, geraten durch ihr Beispiel viele auf Abwege. Ihre Schuld ist wesentlich größer, weil sie mehr Verantwortung tragen. PP 561.4

Dem Hause Aarons war verheißen worden, daß es immerdar vor Gott wandeln würde. Aber an diese Zusage war die Bedingung geknüpft, daß es sich dem Dienst am Heiligtum aufrichtig und uneigennützig widmete, Gott auf allen Wegen ehrte und nicht bösen Neigungen folgte. Eli und seine Söhne hatten sich zu bewähren, aber der Herr hielt sie der hohen Stellung als Priester in seinem Dienst für ganz und gar unwürdig. Er sagte: “Das sei ferne von mir!” 1.Samuel 2,30. Er konnte das Gute das er durch sie zu tun beabsichtigte, nicht verwirklichen, weil sie ihr Teil dazu nicht beitrugen. PP 562.1

Wer im heiligen Amt steht, sollte durch sein Beispiel den Menschen Ehrfurcht vor Gott abnötigen, daß sie sich scheuen, ihn zu erzürnen. Wer “an Christi Statt” (2.Korinther 5,20) Gottes Gnadenbotschaft der Versöhnung verkündigt, seine heilige Berufung aber als Deckmantel für selbstsüchtige, irdische Zwecke mißbraucht, wird zum tatkräftigsten Helfer Satans. Wie Hophni und Pinhas geben sie den Menschen Anlaß, daß “sie das Opfer des Herrn verachten”. Eine Zeitlang mögen sie ihren schlechten Wandel geheimhalten können; aber wird schließlich ihr wahrer Charakter einmal offenbar, erschüttert es das Vertrauen der Menschen oft derart, daß sie den Glauben überhaupt verlieren. Es bleibt ein Mißtrauen gegen alle zurück, die vorgeben, Gottes Wort zu verkündigen. Sie begegnen auch der Botschaft eines aufrichtigen Dieners Christi nur mit Zweifel. Ständig erhebt sich für sie die Frage: “Wird dieser Mann nicht jenem gleichen, den wir für geheiligt hielten und dann als so verdorben erkannten?” So verliert Gottes Wort bei solchen Menschen seine Überzeugungskraft. PP 562.2

Eli wies seine Söhne schließlich mit ernsten, besorgten Worten zurecht, die alle Diener im heiligen Amt gut bedenken sollten: “Wenn jemand gegen einen Menschen sündigt, so kann es Gott entscheiden. Wenn aber jemand gegen den Herrn sündigt, wer soll es dann für ihn entscheiden?” 1.Samuel 2,25. Hätten sie mit ihren Untaten nur ihre Mitmenschen geschädigt, konnte der Richter sie aussöhnen, indem er eine Strafe festsetzte und Wiedergutmachung verlangte; so wäre den Schuldigen verziehen worden. Lag kein absichtliches Vergehen vor, konnten sie ein Sündopfer für sich darbringen. Aber ihre Schuld war mit dem Opferdienst als Priester des Allerhöchsten so eng verknüpft und Gottes Sache vor dem Volk dermaßen entweiht und entehrt, daß es keine Sühne für sie gab. Ihr eigener Vater wagte nicht, für sie zu bitten, obwohl er Hoherpriester war. Er vermochte sie nicht vor dem Zorn eines heiligen Gottes zu schützen. Wer die vom Himmel vorgesehene Erlösung des Menschen verächtlich macht, lädt von allen Sünden die größte Schuld auf sich, weil er “für sich selbst den Sohn Gottes abermals kreuzigt und zum Spott” macht. Hebräer 6,6. PP 562.3