Patriarchen und Propheten
Kapitel 54: Simson
Inmitten des weit verbreiteten Abfalls flehten die gläubigen Anbeter Gottes unaufhörlich um Israels Befreiung. Er schien sie nicht zu hören; mit jedem Jahr lastete die Gewaltherrschaft der Unterdrücker schwerer auf dem Land. Dennoch hatte Gottes Vorsehung Hilfe bereit. Gerade in den ersten Jahren der Bedrängnis durch die Philister wurde ein Kind geboren, durch das Gott diese mächtigen Feinde demütigen wollte. PP 542.1
Am Rande des Hügellandes, von dem man die Philisterebene gut überschauen konnte, lag die kleine Stadt Zora. Hier wohnte die Familie Manoahs aus dem Stamme Dan, eine der wenigen Familien, die bei dem allgemein herrschenden Abfall Jahwe treu geblieben waren. Eines Tages erschien Manoahs kinderloser Frau der “Engel des Herrn” mit der Botschaft, sie würde einen Sohn bekommen, durch den mit Gottes Hilfe Israels Befreiung anfangen sollte. Im Hinblick darauf unterwies sie der Engel über ihre künftige Lebensweise und auch über die Behandlung des Kindes: “So hüte dich nun, Wein und starkes Getränk zu trinken und Unreines zu essen!” Richter 13,4. Dasselbe Verbot galt von Anfang an auch für das Kind mit dem Zusatz, sein Haar nicht zu schneiden, es sollte von Geburt an ein Geweihter Gottes sein. PP 542.2
Die Frau ging zu ihrem Mann und beschrieb ihm den Engel und wiederholte dessen Botschaft. Voller Sorge, sie könnten bei der wichtigen Aufgabe etwas falsch machen, betete Manoah: “Ach Herr, laß den Mann Gottes wieder zu uns kommen, den du gesandt hast, damit er uns lehre, was wir mit dem Knaben tun sollen, der geboren werden soll.” Richter 13,8. PP 542.3
Als der Engel daraufhin nochmals erschien, erkundigte sich Manoah genau: “Wie sollen wir’s mit dem Knaben halten und tun?” Und der Engel wiederholte: “Vor allem, was ich der Frau gesagt habe, soll sie sich hüten: sie soll nicht essen, was vom Weinstock kommt, und soll keinen Wein oder starkes Getränk trinken und nichts Unreines essen; alles, was ich ihr geboten habe, soll sie halten.” Richter 13,12-14. PP 542.4
Gott hatte für das verheißene Kind Manoahs eine Aufgabe von großer Tragweite; darum galt es, seine Fähigkeiten entsprechend zu entwickeln, und deshalb mußten die Lebensgewohnheiten von Mutter und Kind sorgfältig festgelegt werden. Sie “soll keinen Wein oder starkes Getränk trinken”, lautete die Unterweisung des Engels, “und nichts Unreines essen; alles, was ich ihr geboten habe, soll sie halten.” Ein Kind wird durch die Lebensweise der Mutter zum Guten oder zum Schlechten beeinflußt. Ist sie auf sein Wohlergehen bedacht, wird sie sich grundsätzlich beherrschen, Mäßigkeit und Selbstverleugnung üben. Törichte Berater werden ihr vielleicht einreden, sie müsse jedem Wunsch und Verlangen nachgeben; aber das ist verkehrt und schädlich. Gottes Gebot legt ihr die sehr ernste Verpflichtung zur Selbstbeherrschung auf. PP 543.1
Und wie die Mütter sind auch die Väter in diese Verantwortung einbezogen. Beide Eltern vererben ihre geistigen und körperlichen Anlagen und Neigungen. Infolge elterlicher Unmäßigkeit sind die Kinder oft hinfällig, es fehlt ihnen an geistiger und sittlicher Kraft. Trinker und Raucher können und werden ihr unersättliches Verlangen und ihre reizbaren Nerven auf ihre Kinder übertragen, die Zügellosen oft unreine Begierden und sogar Abscheu erregende Krankheiten. Und da die Kinder weniger Kraft haben, den Versuchungen zu widerstehen als die Eltern, geht es mit jeder Generation weiter abwärts. Eltern sind nicht nur in hohem Maße für den Hang zur Gewalttätigkeit und die entarteten Neigungen ihrer Kinder verantwortlich, sondern auch für die Gebrechlichkeit Tausender, die taub, blind, krank oder schwachsinnig geboren wurden. PP 543.2
Jeder Vater und jede Mutter müßte sich fragen: “Wie sollen wir uns gegenüber dem Kind verhalten, das uns geboren werden wird?” Viele nehmen die Bedeutung der vorgeburtlichen Einflüsse viel zu leicht. Aber die Unterweisung, die der Himmel jenen hebräischen Eltern gab und dann noch einmal sehr klar und ernst wiederholte, zeigt, wie unser Schöpfer es sieht. PP 543.3
Es genügte nicht, daß das verheißene Kind eine gute Erbanlage von den Eltern empfing. Dem mußte eine sorgfältige Erziehung und die Gestaltung guter Lebensgewohnheiten folgen. Gott befahl, den künftigen Richter und Befreier Israels von klein auf zu strenger Mäßigkeit zu erziehen. Er war von Geburt an ein Geweihter, dem der Genuß von Wein oder starkem Getränk für immer untersagt sein sollte. Kinder müssen von früh auf Maßhalten und Selbstbeherrschung gelehrt bekommen. PP 543.4
Das Verbot des Engels schloß auch “alles Unreine” ein. Die Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Nahrungsmitteln ist durchaus keine zeremonielle oder willkürliche Anordnung, sondern beruht auf Gesundheitsgrundsätzen. Auf die Beobachtung dieses Unterschiedes kann man in hohem Maße die jahrtausendelange wunderbare Lebenskraft des jüdischen Volkes zurückführen. Die Grundsätze der Mäßigkeit dürfen aber nicht nur angewendet werden, was den Genuß alkoholischer Getränke betrifft. Aufreizende, unverdauliche Nahrung ist der Gesundheit oft ebenso unzuträglich und führt in vielen Fällen zur Trunksucht. Wahre Mäßigkeit lehrt uns, Schädliches zu meiden und wohlüberlegt nur das zu verwenden, was der Gesundheit förderlich ist. Nur wenige sind sich darüber klar, in welchem Umfang die Nahrung mit ihrer Gesundheit, ihrem Charakter, ihrer Leistungsfähigkeit und letztlich ihrem ewigen Schicksal zu tun hat. Die sittlichen und geistigen Kräfte sollten die Eßlust jederzeit beherrschen. Der Körper diene dem Geist und nicht umgekehrt. PP 544.1
Gottes Verheißung an Manoah erfüllte sich genau wie vorgesehen; ihm wurde ein Sohn geboren, dem er den Namen Simson gab. Als der Knabe heranwuchs, zeigte es sich, daß er über außergewöhnliche Körperkräfte verfügte. Simson selbst und seine Eltern wußten recht gut, daß er das nicht seinen gut ausgebildeten Muskeln verdankte, sondern der Tatsache, daß er ein Geweihter war, dessen äußeres Zeichen das ungeschorene Haar war. Hätte doch Simson die göttlichen Befehle ebenso gewissenhaft befolgt wie Vater und Mutter, sein Leben wäre glücklicher und besser verlaufen. Aber der Umgang mit Götzendienern verdarb ihn. Die Stadt Zora lag dicht an der Grenze zu den Philistern. Simson stand bald auf freundschaftlichem Fuße mit ihnen. So kam es in jungen Jahren zu Vertraulichkeiten, deren Einfluß sein ganzes Leben verdüstern sollte. Bald gewann ein junges Mädchen aus Timna Simsons Zuneigung, und er beschloß, es zu heiraten. Seine gottesfürchtigen Eltern versuchten, ihn davon abzubringen, aber er gab ihnen nur zur Antwort: PP 544.2
“Sie gefällt meinen Augen.” Richter 14,3. Schließlich gaben sie nach, und die Hochzeit fand statt. PP 545.1
Gerade als er ins Mannesalter kam, in dem er seinen göttlichen Auftrag durchführen sollte, zu der Zeit also, in der er Gott vor allem hätte treu sein müssen, verband er sich mit Israels Feinden. Er fragte weder danach, ob er Gott mit der Wahl dieses Mädchens ehrte, noch ob er sich damit in eine Lage brachte, in der er seiner Lebensaufgabe nicht gerecht werden konnte. Gott hat jedem, der sich vor allem bemüht, ihn zu ehren, Weisheit zugesagt. Aber es gibt keine Verheißung für diejenigen, die nur an sich und ihre eigenen Annehmlichkeiten denken. PP 545.2
Wie viele machen es wie Simson! Wie oft werden Ehen zwischen Gläubigen und Ungläubigen geschlossen, bei denen nur das Gefühl den Ausschlag gab! Die Beteiligten fragen weder Gott um Rat noch denken sie an seine Ehre. Gerade bei der Eheschließung sollte der christliche Glaube mitbestimmend sein. Aber leider haben die Heiratsgründe nur zu oft nichts mit christlichen Grundsätzen zu tun. Der Böse bemüht sich dauernd, seine Macht über Gottes Volk zu vergrößern, indem er sie dazu verleitet, Bindungen mit seinen Anhängern einzugehen. Und um das zu erreichen, versucht er, unheilige Begierden im Menschen zu wecken. Aber der Herr hat in seinem Wort deutlich davor gewarnt, sich mit denen zusammenzutun, die ihn nicht lieben. “Wie stimmt Christus mit Belial? Oder was für ein Teil hat der Gläubige mit dem Ungläubigen? Was hat der Tempel Gottes gemein mit den Götzen?” 2.Korinther 6,15.16. PP 545.3
Beim Hochzeitsgelage wurde Simson noch vertrauter mit denen, die den Gott Israels haßten. Und wer solche Beziehungen freiwillig aufnimmt, wird nicht darum herumkommen, sich bis zu einem gewissen Grade den Sitten und Gewohnheiten seiner Umgebung anzupassen. Aber auf solche Weise verbrachte Zeit ist schlimmer als vergeudet. Dort werden Meinungen laut und Ansichten geäußert, die darauf abzielen, feste Grundsätze zu durchbrechen und die innere Haltung des Menschen zu schwächen. PP 545.4
Die Frau, um deretwillen Simson Gottes Gebot übertrat, übte noch vor dem Abschluß der Hochzeitsfeierlichkeiten Verrat an ihrem Mann. Aus Zorn darüber verließ Simson sie kurzerhand und ging allein nach Zora in seine Heimat. Nachdem er sich beruhigt hatte, kehrte er zu seiner Braut zurück. Doch sie hatte inzwischen einen anderen geheiratet. PP 545.5
Aus Rache verwüstete er die Felder und Weingärten der Philister. Das ärgerte diese wiederum dermaßen, daß sie seine ehemalige Frau umbrachten, obwohl ihre Drohungen sie erst zu dem Ränkespiel getrieben hatten, mit dem der Verdruß begann. Simson hatte seine erstaunliche Kraft bereits mehrfach bewiesen, z. B. als er ganz allein einen jungen Löwen tötete oder dreißig Männer von Askalon erschlug. Über den unmenschlichen Mord an seiner Frau in Wut geraten, griff er jetzt die Philister an und “schlug sie zusammen mit mächtigen Schlägen”. Dann brachte er sich vor ihnen “in der Felsenkluft von Etam” (Richter 15,8) im Gebiet von Juda in Sicherheit. PP 546.1
Hierher verfolgte ihn eine starke Streitmacht, und die Einwohner Judas wurden sich in ihrer großen Bestürzung gemeinerweise einig, ihn auszuliefern. Also gingen dreitausend Mann von Juda zu ihm hinauf. Aber trotz solcher Übermacht hätten sie es nicht gewagt, ihm näher zu kommen, wenn sie sich nicht sicher gewesen wären, daß er seinen Landsleuten nichts zuleide tun würde. Simson willigte ein, daß man ihn band und den Philistern übergab. Aber erst verlangte er von den Männern Judas noch das Versprechen, ihn nicht anzugreifen, sonst hätte er sich gezwungen gesehen, sie umzubringen. Dann ließ er sich mit zwei neuen Stricken binden und in das Lager seiner Feinde führen, wo darüber große Freude herrschte. Aber noch während deren Jubelschrei von den Hügeln widerhallte, “geriet der Geist des Herrn über ihn”. Er zerriß die starken, neuen Stricke, als wären es “Fäden, die das Feuer versengt hat”. Richter 15,14. Dann ergriff er die erstbeste Waffe, die ihm unter die Hand kam; es war zwar nur ein Eselskinnbacken, aber der half ihm besser als Schwert oder Speer. Er traf die Philister mit solcher Gewalt, daß sie in panischem Schrecken flohen und tausend Erschlagene auf dem Felde liegen blieben. PP 546.2
Wären die Israeliten bereit gewesen, gemeinsam mit Simson den Sieg auszunutzen, hätten sie sich jetzt von ihren Bedrückern befreien können. Aber sie waren mutlos geworden und feige dazu. Sie hatten ihre von Gott übertragene Aufgabe vernachlässigt, nämlich die Heiden zu enteignen. Statt dessen machten sie deren entwürdigenden Bräuche mit, duldeten ihre Grausamkeit und ließen sogar Ungerechtigkeiten hingehen, solange es sie nicht selbst betraf. Als sie dann unter die Gewalt ihrer Bedrücker kamen, nahmen sie die Erniedrigung unterwürfig hin. Dem allen hätten sie entgehen können, wenn sie Gott gehorsam gewesen wären. Sogar als der Herr ihnen einen Befreier erweckte, ließen sie den nicht selten im Stich und wollten sich ihren Feinden anschließen. PP 546.3
Nach seinem Sieg machten sie Simson zum Richter, und er regierte Israel zwanzig Jahre. Aber der erste unrechte Schritt bereitet den Weg für einen zweiten. Simson übertrat Gottes Gebot, als er sich eine Philisterin zur Frau nahm. Und er wagte sich wieder unter sie, die doch jetzt seine Todfeinde waren, um unerlaubter Leidenschaft zu frönen. Im Vertrauen auf seine große Kraft, die den Philistern solchen Schrekken eingejagt hatte, ging er kühn nach Gaza, um eine Hure jenes Ortes zu besuchen. Die Einwohner der Stadt erfuhren es und brannten natürlich auf Vergeltung. Ihr Feind Simson war innerhalb der stärksten aller ihrer Festungen! Sie waren sich der Beute völlig sicher und warteten nur bis zum Morgen, um ihren Triumph zu vollenden. Um Mitternacht erwachte Simson. Die anklagende Stimme seines Gewissens weckte Reue in ihm, als er daran dachte, wie er sein Weihegelübde gebrochen hatte. Aber trotz seiner Sünde verließ Gottes Barmherzigkeit ihn nicht. Wieder konnte er sich durch seine ungeheure Kraft befreien. Er lief zum Stadttor, riß es samt Pfosten und Riegeln aus seiner Verankerung und trug es auf einen Hügel am Wege nach Hebron. PP 547.1
Obwohl er diesmal nur mit knapper Not entrann, kam er von seinem bösen Wege nicht los. Zwar wagte er sich nicht wieder zu den Philistern, aber er verschaffte sich weiterhin seine sinnlichen Freuden, die ihn schließlich ins Verderben führten. “Danach gewann er ein Mädchen lieb im Tal Sorek” (Richter 16,4), nicht weit von seinem Geburtsort. Sie hieß Delila, “die Verzehrerin”. Das Tal Sorek war wegen seiner Weingärten berühmt; und auch sie bildeten für den haltlosen Geweihten eine Versuchung, denn er gab mit dem Weingenuß eine weitere Anweisung preis, die ihn Gott gegenüber zu einem reinen Leben verpflichtete. Die Philister beobachteten das Treiben ihres Feindes sehr genau; und da er sich durch seine neue Neigung so erniedrigte, beschlossen sie, ihn durch Delila völlig zugrunde zu richten. PP 547.2
Eine Abordnung führender Männer aus allen Gebieten der Philister kam ins Tal Sorek. Sie wagten ihn zwar nicht anzugreifen, solange er im Besitz seiner großen Kraft war, aber sie wollten nach Möglichkeit das Geheimnis dieser Kraft erfahren. Deshalb bestachen sie Delila, es ausfindig zu machen und ihnen zu verraten. PP 547.3
Als die Verführerin Simson mit ihren Fragen zusetzte, täuschte er sie durch die Erklärung, er würde schwach wie andere Menschen, wenn man ganz bestimmte Verfahren bei ihm anwendete. Als sie die Probe machte, entdeckte sie den Betrug. Da warf sie ihm Unwahrhaftigkeit vor und sagte: “Wie kannst du sagen, du habest mich lieb, wenn doch dein Herz nicht mit mir ist? Dreimal hast du mich getäuscht und mir nicht gesagt, worin deine große Kraft liegt.” Dreimal also erlebte Simson den eindeutigen Beweis, daß die Philister mit seiner reizenden Verführerin im Bunde waren, um ihn zu vernichten. Aber jedes Mal, wenn ihr Plan mißlang, behandelten sie das Ganze als Scherz, und er, wie mit Blindheit geschlagen, verscheuchte seine Furcht. PP 548.1
Tag für Tag bedrängte ihn Delila, bis “seine Seele sterbensmatt” wurde; doch verführerische Kraft fesselte ihn an sie. Schließlich war er überwunden und gab sein Geheimnis preis: “Es ist nie ein Schermesser auf mein Haupt gekommen; denn ich bin ein Geweihter Gottes von Mutterleib an. Wenn ich geschoren würde, so wiche meine Kraft von mir, so daß ich schwach würde und wie alle andern Menschen.” Richter 16,15-17. Sofort sandte sie einen Boten an die Fürsten der Philister und forderte sie dringend auf, unverzüglich zu kommen. Während der Kriegsmann schlief, schnitt man ihm die schwere Menge seines Haares ab. Dann rief sie, wie sie’s schon dreimal getan hatte: “Philister über dir, Simson!” Plötzlich erwachte er und dachte seine Kraft wie früher anwenden und sie vernichten zu können. Aber die kraftlos gewordenen Arme versagten den Dienst, und er begriff, “daß der Herr von ihm gewichen war”. Richter 16,20. Nachdem er geschoren war, fing Delila an, ihn zu ärgern und zu quälen und so seine Kraft auf die Probe zu stellen, denn die Philister trauten sich nicht an ihn heran, ehe sie nicht restlos überzeugt waren, seine Stärke habe ihn verlassen. Dann ergriffen sie ihn, stachen ihm beide Augen aus und nahmen ihn mit nach Gaza. Hier wurde er im Gefängnis mit Ketten gebunden und zu schwerer Arbeit gezwungen. PP 548.2
Welcher Sturz für den Richter und Helden Israels! Nun war er schwach, dazu blind, gefangen und zum niedrigsten Dienst verurteilt. Nach und nach hatte er alle Bedingungen seiner heiligen Berufung verletzt. Und wie lange hatte Gott trotzdem Geduld mit ihm! Aber als Simson der Sünde so weit erlag, daß er sein Geheimnis preisgab, verließ ihn der Herr. Nicht in seinem langen Haar lag die Kraft, aber es war ein Zeichen seiner Treue zu Gott. Als er in seiner Leidenschaft dieses Sinnbild verriet, hatte er auch den Segen verwirkt, für den es ein Zeichen gewesen war. PP 548.3
Eine Belustigung für die Philister, wurde sich Simson in Leid und Erniedrigung seiner Schwachheit mehr als je zuvor bewußt, und sein Elend brachte ihn zur Reue. Als sein Haar wuchs, kehrte auch seine Stärke allmählich wieder; aber seine Feinde sahen in ihm den gefesselten, hilflosen Gefangenen und fürchteten ihn nicht mehr. PP 549.1
Die Philister schrieben diesen Sieg natürlich ihren Göttern zu, und jubelnd forderten sie den Gott Israels heraus. Sie veranstalteten ein Fest zu Ehren des Fischgottes Dagon, des “Beschützers des Meeres”. Aus Stadt und Land kamen Volk und Fürsten der Philister zusammen. Scharen von Anbetern füllten den riesigen Tempel und drängten sich auf den Dachgalerien. Überall herrschte Feststimmung. Auf den Prunk des Opferritus folgten Musik und Festschmaus. Dann brachte man als Dagons krönendes Siegeszeichen Simson herein. Triumphgeschrei begrüßte sein Erscheinen. Volk und Herrscher höhnten über sein Elend und huldigten dem Gott, der den “Verwüster ihres Landes” überwunden hatte. PP 549.2
Nach einer Weile bat Simson, als sei er müde, sich an die beiden Hauptsäulen lehnen zu dürfen, die das Tempeldach trugen. Dann betete er still: “Herr Herr, denke an mich und gib mir Kraft, Gott, noch dies eine Mal, damit ich mich für meine beiden Augen einmal räche an den Philistern!” Bei diesen Worten umfaßte er die Säulen mit seinen kräftigen Armen und rief: “Ich will sterben mit den Philistern!” Er krümmte sich, das Dach stürzte ein und begrub mit lautem Krachen die große Menschenmenge unter sich, “so daß es mehr Tote waren, die er durch seinen Tod tötete, als die er zu seinen Lebzeiten getötet hatte”. PP 549.3
Das Götterbild und seine Anbeter — Priester, Bauern, Krieger und Edelleute — wurden von den Trümmern des Dagontempels erschlagen. Und unter ihnen lag die Riesengestalt Simsons, den Gott zum Befreier seines Volkes ausersehen hatte. Die Nachricht von dem schrecklichen Geschehen drang bis nach Israel. Da kamen seine Verwandten von ihren Bergen herab und bargen, ohne Widerstand zu finden, den Leichnam des gefallenen Helden “und brachten ihn hinauf und begruben ihn im Grab seines Vaters Manoah zwischen Zora und Eschtaol”. Richter 16,28-31. PP 549.4
Gottes Verheißung, Simson würde “anfangen, Israel zu erretten aus der Hand der Philister” (Richter 13,5), hatte sich erfüllt. Aber wie düster und schrecklich ist die Lebensgeschichte dieses Mannes, der Gott zum Ruhm und zur Verherrlichung seines Volkes hätte dienen können! Wäre er seiner göttlichen Berufung treu geblieben, hätte Gott ihn dadurch ehren können, daß er seine Absichten durch ihn, Simson, verwirklichte. Aber er erlag den Versuchungen und erwies sich des Vertrauens nicht würdig. So endete seine Sendung mit Niederlage, Frondienst und Tod. PP 550.1
Körperlich war Simson der stärkste Mensch auf Erden; aber an Selbstbeherrschung, Rechtschaffenheit und Standhaftigkeit gehörte er zu den schwächsten. Viele halten starke Leidenschaften irrtümlich für Zeichen eines großen Charakters. In Wahrheit ist der unbeherrschte Mensch ein Schwächling. Wahre Größe läßt sich an der Stärke der Gefühle messen, die er beherrscht, nicht an der Stärke der Gefühle, die ihn beherrschen. PP 550.2
Gottes Fürsorge hatte über Simson gewaltet, damit er für die Aufgabe vorbereitet war, zu der er berufen wurde. In der Kindheit umgaben ihn Verhältnisse, die die Voraussetzung für Körper- und Geisteskräfte und sittliche Reinheit schufen. Aber unter dem Einfluß schlechter Kameraden ließ er seinen einzigen Schutz, den Halt an Gott, los, und so wurde er von der Flut des Bösen mit fortgerissen. Auch der Pflichttreue wird in Versuchung geraten, aber er kann gewiß sein, daß Gott ihn bewahrt. Wer sich dagegen freiwillig in Versuchung begibt, wird früher oder später zu Fall kommen. PP 550.3
Gerade bei denen, die Gott als seine Werkzeuge für besondere Aufgaben benutzen möchte, wendet Satan alle Verführungskünste an. Er greift stets an unseren schwachen Stellen an, um durch charakterliche Mängel die Herrschaft über den ganzen Menschen zu gewinnen; und er weiß, daß es ihm damit gelingen wird. Aber niemand muß sich überwinden lassen. Der Mensch steht im Kampf gegen die Macht des Bösen nicht allein mit seinen schwachen Kräften. Es ist Hilfe für jeden vorhanden, der es ehrlich meint. Gottes auf- und niedersteigende Engel, die Jakob im Traume sah, werden allen, die es wollen, helfen, die höchsten Höhen zu erreichen. PP 550.4