Patriarchen und Propheten

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Die Einnahme Kanaans

Kapitel 44: Der Übergang über den Jordan

Die Israeliten trauerten aufrichtig um den Heimgegangenen; dreißig Tage dauerten die besonderen Feiern zu seinem Gedenken. Nun er von ihnen genommen war, erkannten sie den Wert seiner weisen Ratschläge, seiner väterlichen Güte und unwandelbaren Treue in ihrem ganzen Umfang. Mit neuer, tieferer Würdigung riefen sie sich die wertvollen Belehrungen in Erinnerung, die er ihnen zu seinen Lebzeiten gegeben hatte. PP 463.1

Mose war tot, aber sein Einfluß erlosch deshalb nicht. Er lebte weiter im Herzen seines Volkes. Lange wurde die Erinnerung an dieses heilige, selbstlose Leben hochgehalten, das mit seiner stillen, überzeugenden Kraft sogar jene noch beeinflußte, die das Wort des Lebenden mißachtet hatten. Wie der Glanz der untergehenden Sonne die Bergspitzen vergoldet, nachdem sie selbst schon hinter den Hügeln verschwunden ist, so leuchten die Werke der Reinen, Heiligen und Guten noch in der Welt, lange nachdem sie dahingegangen sind. Ihre Werke, ihre Worte und ihr Beispiel bleiben immer lebendig. “Der Gerechte wird nimmermehr vergessen.” Psalm 112,6. PP 463.2

Obwohl das Volk über seinen großen Verlust von Schmerz erfüllt war, wußte es doch, daß es nicht verlassen war. Über der Stiftshütte ruhte am Tage die Wolkensäule und in der Nacht die Feuersäule als Zusicherung, daß Gott ihm Richtschnur und Helfer bleiben würde, solange es seine Gebote befolgte. PP 463.3

Nun war Josua der anerkannte Führer Israels. Hauptsächlich als Kriegsmann bekannt, waren seine Gaben und Vorzüge dem Volk gerade in dieser Zeit besonders wertvoll. Er galt als mutig und entschlossen, standhaft und verläßlich. Ohne Rücksicht auf eigenen Vorteil war er unbestechlich in der Sorge um die ihm Anvertrauten. Vor allem aber beseelte ihn lebendiger Glauben an Gott. Das waren die charakterlichen Merkmale des Mannes, den Gott dazu ausersah, Israels Heere bei ihrem Einzug in das verheißene Land zu führen. Während der Wüstenwanderung hatte er Mose gewissermaßen als dessen Kanzler gedient. In seiner schlichten, anspruchslosen Treue blieb er fest, wenn andere wankten, und entschieden, wenn es galt, in Gefahr die Wahrheit hochzuhalten. Somit bewies er lange, bevor er durch Gottes Ruf in diese Stellung aufrückte, daß er der geeignete Mann als Moses Nachfolger war. PP 463.4

Josua sah allerdings nur mit großer Sorge und geringem Selbstvertrauen auf die vor ihm liegende Aufgabe. Doch seine Furcht schwand nach Gottes Versicherung: “Wie ich mit Mose gewesen bin, so will ich auch mit dir sein ... denn du sollst diesem Volk das Land austeilen, das ich ihnen zum Erbe geben will, wie ich ihren Vätern geschworen habe.” — “Jede Stätte, auf die eure Fußsohlen treten werden, habe ich euch gegeben, wie ich Mose zugesagt habe.” Josua 1,5.6.3. Von den Höhen des Libanon weit im Norden bis zu den Küsten des Mittelmeers und hin zu den Ufern des Euphrat im Osten sollte ihnen alles gehören. PP 464.1

Zu dieser Verheißung kam die Verpflichtung: “Sei nur getrost und ganz unverzagt, daß du hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat.” Des Herrn Auftrag lautete: “Laß das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht.” — “Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken.” — “Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen, und du wirst es recht ausrichten.” Josua 1,7.8. PP 464.2

Noch lagerte Israel am Ostufer des Jordan, dem ersten Hindernis für die Einnahme Kanaans. “Mach dich nun auf”, war Gottes erste Botschaft an Josua, “und zieh über den Jordan, du und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Kindern Israel, gegeben habe.” Josua 1,2. Gott gab keine Verhaltungsmaßregeln, wie der Übergang vor sich gehen sollte. Aber Josua wußte, Gott würde für alles, was er befahl, auch einen Weg zur Durchführung schaffen, und in diesem Glauben traf er sogleich unerschrocken Vorkehrungen für den Weitermarsch. PP 464.3

Wenige Kilometer jenseits des Flusses, ihrem Lagerplatz gerade gegenüber, lag das große, stark befestigte Jericho. Diese Stadt war tatsächlich der Schlüssel zum ganzen Lande und für Israels Erfolg ein furchtbares Hindernis. Deshalb schickte Josua zwei junge Männer als Kundschafter hinein, um etwas über die Bevölkerung, ihre Hilfsquellen und die Stärke ihrer Befestigungen zu erfahren. Das war recht gefährlich, denn die erschreckten, argwöhnischen Bewohner waren ständig auf der Hut. Doch Rahab, eine Einwohnerin Jerichos, rettete sie unter eigener Lebensgefahr. Als Dank für diese Freundlichkeit versprachen sie ihr Schutz, wenn die Stadt eingenommen würde. PP 464.4

Wohlbehalten kehrten die Kundschafter mit der Nachricht zurück: “Der Herr hat uns das ganze Land in unsere Hände gegeben, und es sind auch alle Bewohner des Landes vor uns feige geworden.” Josua 2,24. Man hatte in Jericho offen gesagt: “Wir haben gehört, wie der Herr das Wasser im Schilfmeer ausgetrocknet hat vor euch her, als ihr aus Ägypten zogt, und was ihr den beiden Königen der Amoriter, Sihon und Og, jenseits des Jordan getan habt, wie ihr an ihnen den Bann vollstreckt habt. Und seitdem wir das gehört haben, ist unser Herz verzagt, und es wagt keiner mehr vor euch zu atmen; denn der Herr, euer Gott, ist Gott oben im Himmel und unten auf Erden.” Josua 2,10.11. PP 465.1

Nun erließ Josua Befehl, sich zum Vormarsch bereitzuhalten. Das Volk sollte sich für drei Tage mit Nahrung versorgen und das Heer kampfbereit stehen. Alle stimmten seinen Plänen von Herzen zu und versicherten ihn ihres Vertrauens und ihrer Unterstützung: “Alles, was du uns geboten hast, das wollen wir tun, und wo du uns hinsendest, da wollen wir hingehen. Wie wir Mose gehorsam gewesen sind, so wollen wir auch dir gehorsam sein; nur, daß der Herr, dein Gott, mit dir sei, wie er mit Mose war!” Josua 1,16.17. PP 465.2

So verließ das Riesenheer das Lager im Akazienhain von Schittim und stieg zum Jordanufer hinab. Aber alle wußten, daß der Übergang ohne Gottes Hilfe nicht möglich sein würde. In dieser Jahreszeit — es war Frühling — hatte die Schneeschmelze im Gebirge den Jordan so anschwellen lassen, daß er über die Ufer trat und an den üblichen Furten nicht zu überschreiten war. Gott wollte Israels Übergang auf wunderbare Weise geschehen lassen. Auf seinen Befehl gebot Josua dem Volk, sich zu heiligen, die Sünden abzulegen und sich auch äußerlich zu reinigen. “Morgen”, sagte er, “wird der Herr Wunder unter euch tun.” Josua 3,5. Die “Lade des Bundes” (5.Mose 10,8) sollte dem Heereszug vorangehen. Sobald sie sahen, daß dieses Zeichen der Gegenwart Jahwes von den Priestern aus der Mitte des Lagers auf den Fluß zu getragen wurde, sollten auch die Israeliten ihren Standort verlassen und ihr nachfolgen. Josua sagte ihnen die Einzelheiten genau voraus: “Daran sollt ihr merken, daß ein lebendiger Gott unter euch ist und daß er vor euch vertreiben wird die Kanaaniter ... Siehe, die Lade des Bundes des Herrschers über alle Welt wird vor euch her gehen in den Jordan.” Josua 3,10.11. PP 465.3

Zur bestimmten Zeit begann der Aufbruch, voran die Bundeslade auf den Schultern der Priester. Das Volk hatte Anweisung, sich so weit zurückzuhalten, daß der Abstand zwischen ihnen fast einen Kilometer betrug. Alle beobachteten mit großer Aufmerksamkeit, wie die Priester zum Jordanufer hinabstiegen. Sie sahen sie mit der heiligen Lade ruhig auf den wilden, hoch angeschwollenen Strom zugehen. Als jedoch die Füße der Träger ins Wasser tauchten, ging die Flut oberhalb dieses Ortes plötzlich zurück und stand in großer Entfernung wie ein Wall während sie unterhalb weiterfloß, und so das Flußbett offen dalag. PP 466.1

Auf Gottes Befehl schritten die Priester bis zur Mitte der Stromrinne und blieben dort stehen, während nun das ganze Volk herabkam und auf die andere Seite zog. Auf diese Weise wurde den Israeliten bewußt, daß die Macht, die das Jordanwasser zum Stehen brachte, dieselbe war, die vor vierzig Jahren ihren Vätern den Weg durch das Rote Meer gebahnt hatte. Erst als alle drüben waren, wurde auch die Lade auf das Westufer getragen. Kaum hatte sie einen sicheren Platz erreicht, so daß die Priester “mit ihren Fußsohlen aufs Trockene traten” (Josua 4,18), brausten die aufgestauten Wassermassen in unwiderstehlicher Flut im gewohnten Flußbett dahin. Für spätere Geschlechter sollte ein Zeuge dieses großen Wunders erhalten bleiben. Während die Priester mit der Bundeslade noch mitten im Jordan standen, nahmen zwölf vorher bestimmte Männer — aus jedem Stamm einer — von dieser Stelle je einen Stein aus dem Flußbett und trugen ihn auf die Westseite. Aus diesen Steinen sollte beim ersten Lagerplatz jenseits des Jordan ein Denkmal errichtet werden. Und den Israeliten wurde geboten, Kindern und Enkeln von ihrer Errettung zu erzählen, die Gott für sie vollbracht hatte, damit, wie Josua sagte, “alle Völker auf Erden die Hand des Herrn erkennen, wie mächtig sie ist, und den Herrn, euren Gott, fürchten allezeit”. Josua 4,24. PP 466.2

Die Wirkung dieses Wunders gewann für die Hebräer und ihre Feinde größte Bedeutung. Für Israel war es eine Bürgschaft, daß Gottes Gegenwart und sein Schutz immer bei ihm waren — ein Beweis, daß er durch Josua geschehen ließ, was einst Mose begann. Solche Gewißheit brauchten die Hebräer zur inneren Stärkung, wenn nun die Eroberung des Landes begann — die ungeheure Aufgabe, bei der vor vierzig Jahren der Glaube ihrer Väter ins Wanken geraten war. Vor der Überquerung des Jordan hatte der Herr Josua erklärt: “Heute will ich anfangen, dich groß zu machen vor ganz Israel, damit sie wissen: wie ich mit Mose gewesen bin, so werde ich auch mit dir sein.” Josua 3,7. Das Ergebnis bestätigte die Verheißung: “An diesem Tage machte der Herr den Josua groß vor ganz Israel. Und sie fürchteten ihn, wie sie Mose gefürchtet hatten, sein Leben lang.” Josua 4,14. PP 466.3

Dieser göttliche Machtbeweis sollte auch die Furcht der umwohnenden Völker vor Israel steigern und so einen leichteren, vollständigen Sieg vorbereiten. Als die Könige der Amoriter und Kanaaniter die Nachricht erreichte, Gott habe vor den Kindern Israel die Wasser des Jordan zum Stillstand gebracht, vergingen sie vor Furcht. Die Hebräer hatten bereits die fünf Könige von Midian, den mächtigen Amoriterkönig Sihon sowie Og von Basan geschlagen. Jetzt erfüllte ihr Übergang über den angeschwollenen, ungestümen Jordan alle umwohnenden Völker mit Schrecken. Die Kanaaniter, ganz Israel und selbst Josua hatten einen unmißverständlichen Beweis erhalten, daß der lebendige Gott, der König Himmels und der Erde, unter seinem Volk war und es nicht verlassen würde. PP 467.1

Kurz hinter dem Jordan schlugen die Hebräer ihr erstes Lager in Kanaan auf. Josua “beschnitt die Kinder Israel” (Josua 5,3) an jenem Ort. Als die Kinder Israel “in Gilgal das Lager aufgeschlagen hatten, hielten sie Passa”. Josua 5,10. Die Aussetzung der Beschneidung seit der Empörung bei Kadesch erinnerte die Israeliten ständig daran, daß sie ihren Bund mit Gott gebrochen hatten, dessen festgesetztes Zeichen die Beschneidung war. Und die Unterbrechung des Passafestes, das an ihre Befreiung aus Ägypten erinnerte bezeugte ihnen das göttliche Mißfallen über ihren Wunsch, in das Land der Knechtschaft zurückzukehren. Aber nun waren die Jahre der Verwerfung zu Ende. Noch einmal bekannte sich Gott zu seinem Volke und setzte das Bundeszeichen wieder ein. Die Beschneidung wurde an allen vollzogen, die in der Wüste geboren waren. Und der Herr sagte zu Josua: “Heute habe ich die Schande Ägyptens von euch abgewälzt.” Josua 5,9. Als Hinweis darauf wurde der Lagerplatz Gilgal genannt, “ein Wegrollen” oder “Abwälzen”. PP 467.2

Heidnische Völker hatten den Herrn und sein Volk geschmäht, weil die Hebräer Kanaan nicht gleich nach dem Auszug aus Ägypten in Besitz nahmen, wie sie erwarteten. Ihre Feinde hatten triumphiert, als die Israeliten so lange in der Wüste umherwanderten, und gespottet, der Gott der Hebräer könne sie nicht in das verheißene Land bringen. Nun hatte der Herr seine Macht und Gnade in auffallender Weise zu erkennen gegeben. Er öffnete seinem Volk den Jordan, und seine Feinde hatten nicht länger Grund, es zu schmähen. PP 468.1

“Am vierzehnten Tage des Monats am Abend” feierten sie in der Ebene von Jericho das Passa. Und sie “aßen vom Getreide des Landes am Tag nach dem Passa, nämlich ungesäuertes Brot und geröstete Körner. An eben diesem Tage hörte das Manna auf, weil sie jetzt vom Getreide des Landes aßen, so daß Israel vom nächsten Tag an kein Manna mehr hatte. Sie aßen schon von der Ernte des Landes Kanaan in diesem Jahr.” Josua 5,10-12. Die lange Zeit ihrer Wüstenwanderung war zu Ende gegangen. Israel betrat endlich das verheißene Land. PP 468.2