Patriarchen und Propheten

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Kapitel 43: Moses Tod

Gott bewies seinem Volk gegenüber in allen Dingen strenge, unparteiische Gerechtigkeit, aber stets verbunden mit Liebe und Barmherzigkeit. Die Geschichte des hebräischen Volkes ist ein Beispiel dafür. Gott hatte es reich gesegnet. Seine liebreiche Güte zu Israel wird mit den ergreifenden Worten geschildert: “Wie ein Adler ausführt seine Jungen und über ihnen schwebt, so breitete er seine Fittiche aus und nahm ihn und trug ihn auf seinen Flügeln. Der Herr allein leitete ihn.” 5.Mose 32,11.12. Und wie schnell und unnachsichtig vergalt er trotzdem Israels Übertretungen! PP 451.1

Gottes unendliche Liebe offenbarte sich in der Hingabe seines eingeborenen Sohnes, um ein verlorenes Geschlecht zu erlösen. Christus kam auf diese Erde, um den Menschen das Wesen seines Vaters darzustellen. Sein Leben war ausgefüllt von Taten göttlichen Mitleids und Erbarmens. Und doch sagt Christus selbst: “Bis daß Himmel und Erde vergehe, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz.” Matthäus 5,18. Dieselbe Stimme, die den Sünder mit Liebe und Geduld einlädt, zu ihm zu kommen, Vergebung und Frieden bei ihm zu finden, wird im Gericht denen, die seine Gnade zurückgewiesen haben, zurufen: “Gehet hin von mir, ihr Verfluchten!” Matthäus 25,41. In der ganzen Heiligen Schrift finden wir Gott nicht nur als liebenden Vater dargestellt, sondern auch als gerechten Richter. Er erweist sehr gern Barmherzigkeit und “vergibt Schuld und Unrecht, läßt aber den Schuldigen nicht ungestraft”. 2.Mose 34,7 (Bruns). PP 451.2

Der Herrscher aller Völker hatte gesagt, Mose sollte Israel nicht in das verheißene Land führen. Auch das ernste Flehen des Gottesknechtes konnte dieses Urteil nicht rückgängig machen. So wußte Mose nun, daß er bald sterben würde. Doch ließ seine Fürsorge für Israel nicht einen Augenblick nach. Gewissenhaft hatte er sich bemüht, die Gemeinde auf den Einzug in das verheißene Erbe vorzubereiten. Auf göttlichen Befehl hin begab er sich mit Josua zur Stiftshütte, als die Wolkensäule herabkam und über dem Eingang verharrte. In feierlicher Weise wurde das Volk Josuas Obhut anvertraut. Moses Tätigkeit als Führer Israels war beendet. Aber auch jetzt vergaß er über dem Wohl seines Volkes sich selbst. Vor der versammelten Menge ermutigte er seinen Nachfolger mit der festen Zusage Gottes: “Sei getrost und unverzagt, denn du sollst die Kinder Israel in das Land führen, wie ich ihnen geschworen habe, und ich will mit dir sein.” 5.Mose 31,23. Dann wandte Mose sich an die Ältesten und Amtleute des Volkes und ermahnte sie ernst, die Unterweisungen, die er von Gott empfangen und an sie weitergegeben hatte, pflichtgetreu zu befolgen. PP 451.3

Die ganze Volksgemeinde schaute auf den bejahrten Mann, der bald von ihnen genommen werden sollte. Sie gedachte mit neuer, tieferer Wertschätzung seiner väterlichen Güte, die immer weise Ratschläge gab, und seiner unermüdlichen Tätigkeit. Wie oft hatten Moses Gebete vermocht, sie von Gottes gerechten Vergeltungsschlägen zu verschonen, die sie mit ihren Sünden herausgefordert hatten! Und ihr Kummer wurde noch größer, weil die Reue hinzukam. Schmerzlich erinnerten sie sich daran, daß es ihre Halsstarrigkeit war, die Mose zu der Sünde getrieben hatte, um derentwillen er nun sterben mußte. PP 452.1

Sein Weggang war für die Israeliten ein weit härterer Vorwurf als alles andere, das sie hätte treffen können, wenn Moses Leben und Aufgabe weitergegangen wären. Gott wollte sie zu der Einsicht führen, ihrem künftigen Führer das Leben nicht so zu erschweren, wie sie es bei Mose getan hatten. Gott spricht zu seinem Volk durch Segnungen, die er ihm schenkt; weiß es diese nicht zu schätzen, entzieht er sie ihm, damit es zur Erkenntnis seiner Sündhaftigkeit komme und sich ihm wieder von ganzem Herzen zuwende. PP 452.2

An diesem Tage erhielt Mose den Befehl: “Geh ... auf den Berg Nebo ... und schaue das Land Kanaan, das ich den Kindern Israel zum Eigentum geben werde. Dann stirb auf dem Berge, auf den du hinaufgestiegen bist, und laß dich zu deinem Volk versammeln.” 5.Mose 32,49.50. Wie oft hatte Mose gehorsam das Lager verlassen, wenn Gott ihn rief, um ihm zu begegnen! Aber diesmal schied er zu einem unbekannten, geheimnisvollen Gang. Er sollte sein Leben in die Hände des Schöpfers zurückgeben. Mose wußte, daß er einsam sterben würde; kein irdischer Freund durfte ihm in seinen letzten Stunden beistehen. Geheimnis und zugleich Erhabenheit lag über dem, was ihm bevorstand und wovor sein Herz zurückschreckte. Das Schwerste aber war die Trennung von dem Volk, dem seine ganze Liebe und Fürsorge gegolten und sein Leben so lange gehört hatte. Aber er hatte gelernt, Gott zu vertrauen, und in bedingungslosem Glauben überließ er sich und sein Volk der Liebe und Gnade des Herrn. PP 452.3

Zum letzten Mal stand Mose vor Israel. Wiederum ruhte der Geist Gottes auf ihm, und mit feierlichen, ergreifenden Worten sprach er über jeden Stamm einen Segen; mit einem Dankgebet für alle schloß er: PP 453.1

“Es ist kein Gott wie der Gott Jeschuruns, der am Himmel daherfährt dir zur Hilfe und in seiner Hoheit auf den Wolken. Zuflucht ist bei dem alten Gott und unter den ewigen Armen. Er hat vor dir her deinen Feind vertrieben und geboten: Vertilge! Israel wohnt sicher, der Brunnquell Jakobs unbehelligt in dem Lande, da Korn und Wein ist, dessen Himmel von Tau trieft. Wohl dir, Israel! Wer ist dir gleich? Du Volk, das sein Heil empfängt durch den Herrn, der deiner Hilfe Schild und das Schwert deines Sieges ist!” 5.Mose 33,26-29. PP 453.2

Dann wandte er sich schweigend von der Versammlung ab und nahm allein seinen Weg hinauf zum Gipfel des Berges. Er stieg “auf den Berg Nebo, den Gipfel des Gebirges Pisga”. 5.Mose 34,1. Auf dieser einsamen Höhe stand er und überschaute mit ungetrübten Augen aufmerksam das Landschaftsbild, das sich vor ihm ausbreitete. Weit im Westen glänzte das Wasser des Mittelmeers; im Norden ragte der Hermon auf; im Osten lag die Hochebene von Moab und dahinter Basan, der Schauplatz von Israels Sieg; und weit im Süden dehnte sich die Wüste ihrer langen Wanderschaft. PP 453.3

In dieser Einsamkeit hielt Mose Rückschau auf die Wechselfälle und Mühsale seines Lebens, seitdem er sich von höfischen Ehren und einer möglichen Königsherrschaft in Ägypten abgewandt hatte, um sein Geschick mit Gottes erwähltem Volk zu verbinden. Er dachte an die vielen Jahre mit Jethros Herden in der Wüste, an die Erscheinung des Engels im brennenden Busch und an seine Berufung, Israel zu befreien. Er sah die gewaltigen Wunder wieder vor sich, durch die Gottes Macht an seinem Volke offenbar wurde, und dessen langmütige Barmherzigkeit in den Jahren der Wanderung und Empörung der Israeliten. Obwohl Gott so viel für sie getan und Mose um sie gebetet und sich für sie eingesetzt hatte, waren von allen Erwachsenen aus dem großen Volk, das Ägypten verließ, nur zwei so getreu erfunden worden, daß sie das verheißene Land betreten durften. Als Mose das Ergebnis seiner harten Arbeit überblickte, schien es ihm, als habe er sein mühevolles, opferreiches Leben nahezu vergeblich gelebt. PP 453.4

Doch bedauerte er nicht, die Last auf sich genommen zu haben. Er wußte, daß ihm Auftrag und Werk von Gott selbst bestimmt worden waren. Anfangs schreckte er wohl vor der Verantwortung zurück, Israels Befreier aus der Knechtschaft zu werden; aber seit er den Dienst übernahm, hatte er die Bürde nicht wieder aufgegeben. Selbst als der Herr beabsichtigte, ihn vom Amt zu entbinden und das widerspenstige Israel zu vernichten, konnte Mose nicht zustimmen. Wohl waren seine Prüfungen schwer gewesen, aber er hatte sich der besonderen Gnade Gottes erfreut. Auf der Wüstenwanderung konnte er einen reichen Erfahrungsschatz sammeln, als er Zeuge der Macht und Herrlichkeit Gottes wurde und in der Gemeinschaft seiner Liebe stand. Er wußte, daß er die richtige Entscheidung getroffen hatte, als er es vorzog, mit dem Volke Gottes Ungemach zu leiden, statt eine Zeitlang die Freuden der Sünde zu genießen. PP 454.1

Und doch, als er seine Erlebnisse als Führer des Volkes Gottes überschaute, mußte er sich sagen, daß ein Unrecht seine Lebensgeschichte beeinträchtigte. Wenn nur jene Sünde ausgelöscht werden könnte, dann würde er nicht mehr vor dem Tode zurückschrecken. Aber er war sich gewiß, daß Reue und Glauben an das verheißene Opfer alles waren, was Gott verlangte, und so bekannte Mose noch einmal seine Schuld und flehte im Namen Jesu um Vergebung. PP 454.2

Und nun eröffnete sich ihm in einem Gesicht das Panorama des ganzen verheißenen Landes. Jedes seiner Teile breitete sich vor ihm aus, nicht matt und unbestimmt in trüber Ferne, sondern in voller Schönheit stellte es sich seinen entzückten Blicken dar. Nicht in seiner damaligen Verfassung wurde es ihm gezeigt, sondern wie es unter Gottes Segen in Israels Besitz einmal werden würde. Ihm war, als sähe er ein zweites Eden. Die Berge waren von den Zedern des Libanon bedeckt, die Hügel mit reichen Ölbäumen und duftenden Weinstöcken; weite grüne Ebenen leuchteten im Blumenschmuck und zeugten von reicher Fruchtbarkeit. PP 454.3

Hier gab es tropische Palmen, dort wogende Kornfelder, sonnige Täler, erfüllt vom Rauschen der murmelnden Bäche und dem Gesang der Vögel. Ansehnliche Städte und schöne Gärten wechselten ab mit fischreichen Seen. Herden weideten an den Abhängen, und selbst zwischen den Felsen sammelten wilde Bienen ihren Honig. Es war wirklich ein Land, wie es Mose unter dem Einfluß des Geistes Gottes Israel geschildert hatte: “Gesegnet vom Herrn ... mit dem Köstlichsten vom Himmel droben, dem Tau, und mit der Flut, die drunten liegt, mit dem Köstlichsten, was die Sonne hervorbringt ..., mit dem Besten uralter Berge ..., mit dem Köstlichsten der Erde und ihrer Fülle.” 5.Mose 33,13-16. PP 455.1

Mose sah das auserwählte Volk in Kanaan wohnen, jeden Stamm in seinem Besitztum. Er tat einen Blick auf die Geschichte der Israeliten nach der Niederlassung im verheißenen Lande. Es war eine lange, traurige Darstellung ihres Abfalls und seiner Bestrafung, die vor ihm aufgetan wurde. Er sah, wie sie um ihrer Sünde willen unter die Heiden verstreut wurden und der Ruhm von Israel wich; wie ihre schöne Stadt in Trümmern lag und sie selbst als Gefangene in fremden Ländern lebten. Er sah sie in das Land ihrer Väter zurückkehren und schließlich unter die Herrschaft Roms kommen. PP 455.2

Er durfte den Zeitenlauf bis zur ersten Ankunft unseres Heilandes verfolgen und Jesus als Kind in Bethlehem schauen. Er vernahm die Stimmen der Engelschar, die Loblieder zur Ehre Gottes sangen und Frieden auf Erden verkündeten. Er sah den Stern am Himmel, der die Weisen aus dem Morgenland zu Jesus führte, und Erleuchtung durchflutete ihn, als er jener prophetischen Worte gedachte: “Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Zepter aus Israel aufkommen.” 4.Mose 24,17. Er nahm Christi anspruchslose Jugend in Nazareth wahr, sein Leben im Dienst der Liebe und des Mitleids, die Heilungen, und wie er schließlich von einem stolzen, ungläubigen Volk verworfen wurde. Erstaunt lauschte er ihrer überheblichen Betonung des Gesetzes Gottes, während sie den, der es gegeben hatte, verachteten und zurückstießen. Er sah Jesus auf dem Ölberg weinen und von seiner geliebten Stadt Abschied nehmen. Dann mußte er die Verwerfung des einst so reich gesegneten Volkes sehen, für das er gebetet, sich gemüht und aufgeopfert hatte, für das er sogar seinen Namen aus dem Lebensbuch hätte tilgen lassen. Nun hörte er die Worte: “Siehe, euer Haus soll euch wüste gelassen werden.” Matthäus 23,38. PP 455.3

Da krampfte sich sein Herz in Seelenangst zusammen, und ihm kamen bittere Tränen aus Mitgefühl über den Schmerz des Sohnes Gottes. PP 456.1

Mose folgte dem Heiland nach Gethsemane, erlebte seine Todesangst im Garten, den Verrat, die Verhöhnung und Geißelung — die Kreuzigung. Er erkannte nun: Wie er in der Wüste die Schlange aufgerichtet hatte, so mußte der Sohn Gottes “erhöht werden, auf daß alle, die an ihn glauben, ... nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben”. Johannes 3,14-16. Schmerz, Unwille und Schrecken überkamen Mose, als er die Heuchelei und den satanischen Haß des jüdischen Volkes gegenüber ihrem Erlöser sah, dem mächtigen Engel, der ihren Vätern vorangegangen war. Er hörte Christi Todesschrei: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” (Markus 15,34) und sah ihn in Josephs neuem Grabe liegen. Hoffnungsloses Dunkel der Verzweiflung schien die Welt einzuhüllen. Aber wieder schaute er und sah ihn als Sieger hervorkommen und zum Himmel auffahren, begleitet von anbetenden Engeln, eine Menge Auferstandener mit sich führend. Die glänzenden Tore waren zu seinem Empfang geöffnet, und die himmlische Schar hieß ihren Herrn mit Siegesliedern willkommen. Und jetzt wurde Mose offenbart, daß er selbst zu denen gehören würde, die dem Heiland dienen und ihm die ewigen Tore öffnen sollten. Als er auf dieses Geschehen blickte, leuchtete sein Antlitz von heiligem Glanz. Wie geringfügig erschienen ihm nun die Mühen und Opfer seines Lebens, verglichen mit denen des Sohnes Gottes, wie unbedeutend im Gegensatz zu der “ewigen und über alle Maßen wichtigen Herrlichkeit”! 2.Korinther 4,17. Wie froh war er, daß er — wenn auch nur in geringem Maße — teilhaben durfte an den Leiden Christi! PP 456.2

Mose sah die Jünger Jesu hinausgehen, der Welt die Frohbotschaft zu bringen. Er erkannte ferner, wie Israel als Volk “nach dem Fleisch” (vgl. Römer 9,3) seine hohe Bestimmung verfehlte, zu der es von Gott berufen war und wie es wegen seines Unglaubens versäumte, das Licht der Welt zu sein. Obgleich sie Gottes Gnade verachtet und seinen Segen als auserwähltes Volk verwirkt hatten, verwarf Gott die Israeliten dennoch nicht; sie waren ja Abrahams Same. Die herrlichen Pläne, die er durch Israel vollenden wollte, mußten noch erfüllt werden. Alle, die durch Christus Kinder des Glaubens werden würden, sollten zu Abrahams Nachkommen zählen und Erben der Bundesverheißungen sein. Wie Abraham waren sie dazu berufen, das Gesetz Gottes und das Evangelium seines Sohnes zu bewahren und in der Welt bekanntzumachen. Dieses Licht leuchtete, wie Mose es schaute, durch Jesu Jünger hinaus zu dem “Volk, das in Finsternis saß” (Matthäus 4,16), und Tausende aus den Heidenländern strömten herzu in die Klarheit seines Aufgangs. Als er das wahrnahm, wurde er froh über das Wachstum und Wohlergehen Israels. PP 456.3

Aber dann zog ein ganz anderes Bild an seinem geistigen Auge vorüber. Er hatte gesehen, wie Satan die Juden dazu verführte, Christus zu verwerfen, während sie gleichzeitig behaupteten, das Gesetz seines Vaters zu ehren. Nun sah er die christliche Welt einer ähnlichen Täuschung erliegen: Sie gab vor, Christus anzunehmen, und verwarf doch Gottes Gesetz. Von den Priestern und Ältesten hatte er den Wutschrei gehört: “Weg, weg mit dem!” Johannes 19,15. — “Kreuzige, kreuzige ihn!” Lukas 23,21. Und nun vernahm er von angeblich christlichen Lehrern den Ruf: Weg mit dem Gesetz! Mose erkannte, wie der Sabbat mit Füßen getreten wurde und man eine falsche Ordnung an seine Stelle setzte. Wieder überkam Mose Staunen und Schrecken. Wie konnten sie, die an Christus glaubten, sein Gesetz verwerfen, das er mit eigener Stimme vom heiligen Berge verkündet hatte? Wie konnten Menschen, die Gott fürchteten, das Gesetz, die Grundlage seiner Herrschaft im Himmel und auf Erden, aufheben? Doch mit Freude gewahrte Mose, daß es einige wenige Gläubige gab, die Gottes Gesetz noch immer ehrten und hochhielten. Er sah auch den letzten großen Kampf der irdischen Mächte, um die zu vernichten, die es befolgten. Er blickte weiter auf die Zeit, zu der Gott sich aufmachen wird, die Bewohner der Erde um ihrer Gottlosigkeit willen zu strafen, während alle, die seinen Namen fürchteten, am Tage seines Zorns beschirmt und verborgen werden. Er hörte von Gottes Friedensbund mit denen, die seine Gebote halten, bis seine Stimme aus dem Heiligtum ertönt und Himmel und Erde erbeben. Er schaute ferner die Wiederkunft Christi in Herrlichkeit, die Auferstehung der gerechten Toten zu unsterblichem Leben, die Verwandlung der lebenden Heiligen, ohne den Tod zu sehen, und er sah sie gemeinsam mit Freudengesängen zur Stadt Gottes auffahren. PP 457.1

Und dann bot sich seinem inneren Blick noch ein Bild: die vom Fluch befreite Erde, lieblicher als das Land der Verheißung, das sich unlängst vor ihm ausbreitete. Dort gibt es keine Sünde, und der Tod hat keinen Zutritt. Dort finden die Geretteten aus allen Völkern ihre ewige Heimat. PP 457.2

Mit unaussprechlicher Freude schaute Mose auf das Geschehen — die Vollendung einer weit herrlicheren Befreiung, als er sie sich in seinen kühnsten Hoffnungen jemals ausgemalt hat. Die irdischen Wanderungen sind dann für immer vorbei, das Israel Gottes hat endlich das verheißene Land erreicht. PP 458.1

Die Vision schwand, seine Augen ruhten wieder auf jenem Kanaan, das sich in der Ferne vor ihm ausbreitete. Da legte er sich wie ein müder Wanderer zur Ruhe. “So starb Mose, der Knecht des Herrn, daselbst im Lande Moab nach dem Wort des Herrn. Und er begrub ihn im Tal, im Lande Moab gegenüber Beth-Peor. Und niemand hat sein Grab erfahren bis auf den heutigen Tag.” 5.Mose 34,5.6. Viele, die nicht auf Mose hören wollten, solange er bei ihnen war, wären jetzt der Gefahr erlegen, Abgötterei mit seinem Leichnam zu treiben, wenn sie sein Grab gekannt hätten. Deshalb blieb es den Menschen verborgen. Engel Gottes legten seinen treuen Diener ins Grab und bewachten die einsame Stätte. PP 458.2

“Und es stand hinfort kein Prophet in Israel auf wie Mose, den der Herr erkannt hätte von Angesicht zu Angesicht, mit all den Zeichen und Wundern, mit denen der Herr ihn gesandt hatte ... und mit all der mächtigen Kraft und den großen Schreckenstaten, die Mose vollbrachte vor den Augen von ganz Israel.” 5.Mose 34,10-12. PP 458.3

Wäre doch Moses Leben nicht mit der einen Schuld belastet gewesen! Er hatte Gott nicht die Ehre gegeben, als dieser Wasser aus dem Felsen bei Kadesch fließen ließ. Andernfalls hätte auch er das verheißene Land betreten dürfen und wäre, ohne den Tod zu sehen, in den Himmel aufgenommen worden. Aber er sollte nicht lange im Grabe bleiben. Christus selbst kam mit den Engeln, die Mose bestattet hatten, vom Himmel herab, um den schlafenden Heiligen herauszurufen. Wie hatte Satan triumphiert, als es ihm gelungen war, Mose zur Sünde gegen Gott zu veranlassen! Der große Widersacher machte geltend, daß das göttliche Urteil “Du bist Erde und sollst zu Erde werden” (1.Mose 3,19) ihm den Toten zusprach. Die Macht des Todes war bis dahin niemals gebrochen worden, und so beanspruchte Satan alle, die in den Gräbern lagen, als seine Gefangenen; nie und nimmer würden sie aus seinem dunklen Kerker freikommen. PP 458.4

Zum ersten Mal wollte Christus einem Toten neues Leben schenken. Als sich der Lebensfürst und die Engel dem Grabe näherten, geriet Satan wegen seiner Vorherrschaft in Unruhe. Mit den bösen Engeln war er zur Stelle, jeden Eingriff in das Gebiet streitig zu machen, das er für sich beanspruchte. Er rühmte sich, daß gerade dieser Gottesknecht sein Gefangener geworden sei, denn nicht einmal Mose habe das Gesetz Gottes halten können. Mose hatte Ehre für sich beansprucht, die Jahwe gebührte — jene Sünde also hatte er begangen, die zu Satans Verstoßung aus dem Himmel führte —, und durch diese Übertretung sei er unter Satans Herrschaft gekommen. Der Erzverräter brachte somit die alten Anklagen vor, die er seit je gegen Gottes Herrschaft erhob, und warf ihm erneut vor, er habe ungerecht an ihm gehandelt. PP 458.5

Christus ließ sich nicht zu einem Streit mit Satan herab. Er hätte ihm die grausamen Folgen seines Betrugs im Himmel naheführen können, der den Untergang vieler seiner Bewohner verursachte. Er hätte auf die Lügen in Eden hinweisen können, durch die der Teufel Adam zur Sünde verführte und den Tod über das Menschengeschlecht brachte. Mußte er Satan daran erinnern, daß dieser es war, der in Israel Murren und Empörung erregte, so daß schließlich auch Moses Geduld einmal erschöpft war und er in einem unachtsamen Augenblick sündigte und damit der Macht des Todes verfiel? Christus stellte das alles seinem Vater anheim, indem er sagte: “Der Herr strafe dich!” Judas 9. Der Heiland ließ sich nicht in einen Streit mit seinem Gegner ein, aber bei dieser Gelegenheit begann er, die Macht des gefallenen Feindes zu brechen und Tote zum Leben zu erwecken. Hier bewies der Sohn Gottes seine Oberhoheit, die Satan nicht anfechten konnte. Die Auferstehung wurde für immer zur Gewißheit und Satan seiner Beute beraubt. Die gerechten Toten würden wieder leben. PP 459.1

Infolge der Sünde kam Mose unter die Gewalt Satans. An seinen eigenen Verdiensten gemessen, war er zu Recht des Todes Gefangener. Aber er wurde zu unsterblichem Leben erweckt, weil er im Namen des Erlösers darauf Anspruch hatte. Verklärt ging Mose aus dem Grabe hervor und wurde von seinem Erretter in die ewige Stadt Gottes aufgenommen. PP 459.2

Niemals wieder bis zum Opfertod Christi offenbarten sich Gottes Gerechtigkeit und Liebe so eindrucksvoll wie an Mose. Gott schloß ihn wohl von Kanaan aus, aber nur um zu verdeutlichen, was nie vergessen werden durfte: daß er unbedingten Gehorsam verlangt und sich die Menschen davor hüten sollten, Ehre, die dem Schöpfer gebührt, für sich zu beanspruchen. Er konnte Moses Bitte, am Erbe Israels teilhaben zu dürfen, nicht erhören, aber er vergaß und verließ seinen treuen Diener deshalb nicht. Der Gott des Himmels wußte um die Leiden, die Mose erduldete, und hatte in den langen Jahren des Kampfes und der Anfechtung seinen treuen Dienst wohl beachtet. Vom Gipfel des Pisga rief ihn Gott zu einem unendlich herrlicheren Erbe, als es das irdische Kanaan jemals war. PP 459.3

Auf dem Verklärungsberge waren Mose und der verwandelte Elia zugegen. Als Träger des Lichtes und der Herrlichkeit hatte sie der Vater zu seinem Sohne gesandt. So ging schließlich in Erfüllung, worum Mose Jahrhunderte zuvor gebetet hatte. Er stand auf jenem hohen Berge mitten im Erbe seines Volkes und legte Zeugnis ab von dem, der der Mittelpunkt aller Verheißungen Israels ist. Dies war das Letzte, das dem sterblichen Auge dieses Mannes offenbart wurde, den der Himmel so hoch ehrte. PP 460.1

Mose war ein Vorbild auf Christus. Er selbst hatte Israel verkündet: “Einen Propheten wie mich wird dir der Herr, dein Gott, erwecken aus dir und aus deinen Brüdern; dem sollt ihr gehorchen.” 5.Mose 18,15. Gott hielt es für notwendig, Mose in der Schule des Leidens und der Not zu erziehen, bevor er Israels große Schar in das irdische Kanaan führen durfte. Das Israel Gottes wird auf dem Wege in das himmlische Kanaan von jemanden angeführt, der für seine Aufgabe als göttlicher Wegweiser keiner menschlichen Vorbereitung bedurfte. Doch auch Christus wurde erst durch Leiden vollendet; denn “worin er selber gelitten hat und versucht ist, kann er denen helfen, die versucht werden”. Hebräer 2,18. Unser Erlöser wies keine menschliche Schwäche oder Unvollkommenheit auf; doch er starb, um uns den Eingang in das verheißene Land zu erwerben. PP 460.2

“Und Mose zwar war treu in Gottes ganzem Hause als Knecht, um zu bezeugen, was dereinst gesagt werden sollte. Christus aber war treu als Sohn über sein Haus. Dessen Haus sind wir, wenn wir das Vertrauen und den Ruhm der Hoffnung bis ans Ende fest behalten.” Hebräer 3,5.6. PP 460.3