Patriarchen und Propheten
Kapitel 45: Der Fall Jerichos
Die Hebräer hatten Kanaan zwar betreten, aber es nicht unterworfen. Nach menschlichem Ermessen mußte es noch einen langen schweren Kampf um den Besitz des Landes geben. Hier wohnte ein starkes Geschlecht, das bereit war, sich gegen die Eroberung seiner Heimat zu wehren. Aus Furcht vor einer Gefahr, die sie alle bedrohte, verbündeten sich die Stämme untereinander. Mit ihren Pferden und eisernen Kampfwagen, der Landeskenntnis und ihrer Kriegserfahrung mußten sie ihnen gegenüber im Vorteil sein. Außerdem war das Land durch Festungen geschützt — “große Städte, ummauert bis an den Himmel”. 5.Mose 9,1. Nur wenn sich die Israeliten nicht auf die eigene Kraft verließen, könnten sie in dem bevorstehenden Kampf auf Erfolg hoffen. PP 469.1
Unmittelbar vor ihnen, nicht weit vom Lager bei Gilgal, lag eine der stärksten Festungen des Landes, die große, reiche Stadt Jericho. Diese stolze Stadt am Rande einer an mannigfaltigen tropischen Erzeugnissen überreichen, fruchtbaren Ebene trotzte mit ihren Palästen und Tempeln, den üppigen Brutstätten des Lasters, im Vertrauen auf ihre mächtigen Mauern dem Gott Israels. Jericho war eine der Zentren des Götzendienstes, vor allem Astaroth, der Mondgöttin, geweiht. Hier war alles Schlechte und Niedrige der kanaanitischen Religion beisammen. Israel konnte nur mit Abscheu und Entsetzen auf diese heidnische Stadt blicken, denn die schrecklichen Folgen seiner Sünde bei Beth-Peor war ihm noch frisch in der Erinnerung. PP 469.2
Josua sah in der Unterwerfung Jerichos den ersten Schritt zur Eroberung Kanaans. Zunächst aber suchte er die Gewißheit der göttlichen Hilfe, und sie wurde ihm gewährt. Als er das Lager zu Andacht und Gebet verließ, damit der Gott Israels seinem Volke vorangehen möge, sah er einen hochgewachsenen, bewaffneten Krieger von Achtung gebietendem Aussehen, “ein bloßes Schwert in seiner Hand”. Josua 5,13. Auf Josuas Anruf: “Gehörst du zu uns oder zu unsern Feinden?” antwortete er: “Ich bin der Fürst über das Heer des Herrn und bin jetzt gekommen.” Josua 5,13.14. Der gleiche Befehl, wie ihn Mose am Horeb empfing: “Zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn die Stätte, darauf du stehst, ist heilig” (Josua 5,15), offenbarte ihm den wahren Charakter des geheimnisvollen Fremdlings. Christus, der Erhabene, stand vor dem Führer Israels. Von Ehrfurcht ergriffen, warf sich Josua nieder und betete an. Da hörte er die Zusicherung: “Ich habe Jericho samt seinem König und seinen Kriegsleuten in deine Hand gegeben.” Josua 6,2. Dann erhielt er Anweisungen für die Einnahme der Stadt. PP 469.3
Josua befolgte den göttlichen Befehl und ordnete das Heer. Es war kein Angriff geplant. Sie sollten nur mit der Lade Gottes um die Stadt marschieren und die Posaunen blasen. Kriegsleute bildeten die Vorhut, auserlesene Männer, die aber diesmal nicht durch eigene Geschicklichkeit und Tapferkeit siegen sollten, sondern durch Gehorsam gegen Gottes Befehle. Ihnen folgten sieben Priester mit Posaunen. Dann kam die Bundeslade, von einem Schein göttlicher Herrlichkeit umgeben und von Priestern getragen, deren Kleidung auf ihren heiligen Dienst hinwies. Ihnen folgte Israels Heer, jeder Stamm unter seinem Banner. So sah der Zug um die zum Untergang verurteilte Stadt aus. Man hörte keinen Laut außer dem Tritt der riesigen Schar und dem feierlichen Schmettern der Posaunen, das von den Bergen und in den Straßen Jerichos widerhallte. War der Umzug vollendet, kehrte das Heer schweigend zu seinen Zelten zurück; die Lade wurde wieder an ihren Platz in der Stiftshütte gebracht. PP 470.1
Staunend und mit wachsender Unruhe beobachteten die Wächter der Stadt jede Bewegung und meldeten alles ihrer Obrigkeit. Sie begriffen den Sinn dieses Aufwandes nicht. Aber als sie das gewaltige Heer jeden Tag einmal mit der heiligen Lade und den begleitenden Priestern um ihre Stadt marschieren sahen, überkam Priester und Volk bei dem geheimnisvollen Geschehen Schrecken. Wieder überprüften sie ihre starken Verteidigungsanlagen und waren sicher, daß sie auch dem stärksten Angriff erfolgreich widerstehen konnten. Viele spöttelten bei dem Gedanken, daß ihnen diese sonderbaren Umzüge irgendwie schaden sollten. Anderen war diese tägliche Prozession um ihre Stadt unheimlich. PP 470.2
Sie entsannen sich, daß einmal das Rote Meer vor diesem Volk zurückgewichen war und der Jordan sich eben erst für seinen Durchzug geöffnet hatte. Welche Wunder würde Gott wohl noch für Israel tun? PP 471.1
Sechs Tage lang zog Israel um die Stadt. Am siebenten ordnete Josua im ersten Morgengrauen das Heer des Herrn. Jetzt erhielt es den Befehl, siebenmal um Jericho zu marschieren und bei einem gewaltigen Posaunenton ein Kriegsgeschrei zu erheben, denn Gott hatte ihm die Stadt übergeben. PP 471.2
Feierlich umschritt das gewaltige Heer die dem Untergang geweihten Befestigungen. Alles schwieg. Man hörte nur den gleichmäßigen Schritt vieler Füße und einen gelegentlichen Posaunenstoß, der die Morgenstille unterbrach. Die wuchtigen Mauern aus schweren Steinen schienen jeder Belagerung durch Menschen zu trotzen. Aber die Wächter auf den Festungswällen sahen mit steigender Furcht, wie dem ersten Umzug ein zweiter folgte, diesem ein dritter, vierter, fünfter und sechster. Was mochte der Sinn dieser geheimnisvollen Bewegungen sein? Welches gewaltige Ereignis stand ihnen bevor? Sie brauchten nicht lange zu warten. Als der siebente Umzug beendet war, stand die lange Prozession still. Die Posaunen, die eine Zeitlang geschwiegen hatten, brachen nun mit einem Geschmetter los, daß die Erde erbebte. Da wankten die festen Steinmauern mit ihren schweren Türmen und Zinnen, hoben sich aus ihren Grundfesten und stürzten mit lautem Krachen zusammen. Die Einwohner Jerichos waren vor Schreck wie gelähmt, und die Scharen Israels drangen ein und besetzten die Stadt. PP 471.3
Sie hatten den Sieg nicht aus eigener Kraft gewonnen; die Eroberung war ausschließlich dem Herrn zu verdanken. Deshalb sollte die Erstlingsfrucht des Landes — nämlich die Stadt — mit allem, was sie enthielt, dem Herrn als Opfer gehören. Es mußte den Israeliten eindrucksvoll deutlich werden, daß sie nicht für sich selbst kämpften, sondern einfach als Gottes Werkzeuge seinen Willen ausführten. Sie sollten auch nicht nach Reichtümern oder Eigenruhm streben, sondern nach der Verherrlichung Jahwes, ihres Königs. Vor der Einnahme hatten sie deshalb Befehl bekommen: “Diese Stadt und alles, was darin ist, soll dem Bann des Herrn verfallen sein ... Hütet euch vor dem Gebannten und laßt euch nicht gelüsten, etwas von dem Gebannten zu nehmen und das Lager Israels in Bann und Unglück zu bringen.” Josua 6,17.18. PP 471.4
Alle Bewohner der Stadt und alle lebenden Wesen darin, “Mann und Weib, jung und alt, Rinder, Schafe und Esel” (Josua 6,21) sollten dem Schwert verfallen. Nur die gläubige Rahab blieb samt ihren Angehörigen nach dem Versprechen der Kundschafter verschont. Die Stadt selbst wurde verbrannt; ihre Paläste und Tempel, die großartigen Wohnhäuser mit allen verschwenderisch ausgestatteten Einrichtungen, die kostbaren Vorhänge und Gewänder wurden den Flammen ausgesetzt. Was jedoch nicht durch das Feuer zu vernichten war, “alles Silber und Gold samt den kupfernen und eisernen Geräten” (Josua 6,19) wurde für den Dienst an der Stiftshütte bestimmt. Grund und Boden der Stadt wurden verflucht; Jericho sollte nie wieder als Festung aufgebaut werden. Jedem, der es wagen würde, die Mauern wiederherzustellen, die Gottes Macht niedergeworfen hatte, drohten Strafgerichte. In Gegenwart des ganzen Volkes gab Josua die feierliche Erklärung ab: “Verflucht vor dem Herrn sei der Mann, der sich aufmacht und diese Stadt Jericho wieder aufbaut! Wenn er ihren Grund legt, das koste ihn seinen erstgeborenen Sohn, und wenn er ihre Tore setzt, das koste ihn seinen jüngsten Sohn!” Josua 6,26. PP 472.1
Die vollständige Vernichtung der Einwohner Jerichos war nur der Vollzug eines früheren Befehles durch Mose über Kanaans Bevölkerung: Du sollst “an ihnen den Bann vollstrecken”. 5.Mose 7,2. — “In den Städten dieser Völker ... sollst du nichts leben lassen, was Odem hat.” 5.Mose 20,16. Vielen scheinen diese Gebote in Widerspruch zu dem Geist der Liebe und Barmherzigkeit zu stehen, die an anderen Stellen der Bibel zur Pflicht gemacht werden. In Wirklichkeit wurden diese Vorschriften von unendlicher Weisheit und Güte bestimmt. Gott beabsichtigte, die Israeliten in Kanaan anzusiedeln, damit sie dort ein Volk und eine Regierung als Offenbarung seines Reiches auf Erden verkörperten. Sie sollten nicht nur Erben des wahren Glaubens sein, sondern auch seine Grundsätze in der ganzen Welt verbreiten. Die Kanaaniter dagegen hatten sich dem widerwärtigsten, niedrigsten Heidentum ergeben; das Land mußte von allem gereinigt werden, was Gottes gnadenvolle Absichten gewiß verhindert hätte. PP 472.2
Kanaans Einwohner hatten weitgehend Gelegenheit zur Umkehr gehabt. Vierzig Jahre zuvor bewiesen der Durchgang durchs Rote Meer und die Strafgerichte an Ägypten die Macht des Gottes Israels. Und jüngst zeigte auch der Untergang der Könige von Midian, Gilead und Basan, daß Jahwe über allen Göttern stand. Die Heiligkeit seines Wesens und seine Abscheu vor Unkeuschheit sprachen aus den Gerichten, mit denen er Israels Teilnahme an den abscheulichen Bräuchen des Baal-Peor heimsuchte. Alle in Jericho kannten diese Ereignisse. Viele teilten Rahabs Überzeugung, Jahwe, der Gott Israels, sei “Gott oben im Himmel und unten auf Erden” (Jesaja 2,11), obwohl sie ihr nicht folgen wollten. Wie bei den Menschen vor der Sintflut führte auch das Leben der Kanaaniter nur dazu, daß sie die Erde verdarben und auf den Himmel lästerten. Deshalb erforderten sowohl Liebe als auch Gerechtigkeit die sofortige Ausrottung dieser Feinde der Menschen und Empörer gegen Gott. PP 472.3
Wie leicht stürzten durch himmlische Gewalt Jerichos Mauern! Den ungläubigen Kundschaftern hatten die Bollwerke dieser stolzen Stadt vor vierzig Jahren noch solchen Schrecken eingejagt! Der Mächtige in Israel hatte gesagt: “Ich habe Jericho ... in deine Hand gegeben.” Josua 6,2. Gegen dies Wort war menschliche Stärke machtlos. PP 473.1
“Durch den Glauben fielen die Mauern Jerichos.” Hebräer 11,30. Der Fürst der Heerscharen Gottes trat nur mit Josua in Verbindung. Er offenbarte sich nicht der ganzen Gemeinde. Dieser blieb es überlassen, Josuas Worten zu glauben oder sie zu bezweifeln, den im Namen des Herrn gegebenen Befehlen zu gehorchen oder seine Amtsgewalt abzulehnen. Die Israeliten jedenfalls konnten das Heer der Engel nicht sehen, das sie unter der Führung des Sohnes Gottes begleitete. So hätten sie einwenden können: “Was sind das für sinnlose Bewegungen, wie lächerlich, täglich um die Stadtmauern zu marschieren und mit Posaunen aus Widderhörnern zu blasen! Das kann doch keine Wirkung auf die gewaltigen Befestigungen haben.” Aber gerade durch die über längere Zeit bis zum Einsturz fortgesetzte Zeremonie bot sich für die Israeliten die Möglichkeit, in ihrem Glauben voranzukommen. Es sollte sich ihnen tief einprägen, daß ihre Kraft nicht in menschlicher Weisheit oder Macht bestand, sondern allein in dem Gott ihres Heils. Auf diese Weise würde es ihnen zur Gewohnheit, sich ganz auf Gott zu verlassen. PP 473.2
Er will Großes an denen tun, die ihm vertrauen. Wenn das Volk, das ihn bekennt, keine größere Stärke aufweist, dann deshalb, weil so viele auf ihre eigene Klugheit bauen und dem Herrn keine Gelegenheit geben, ihnen seine Macht zu offenbaren. Er will seinen Kindern in allen schwierigen Lagen helfen, wenn sie nur ihr volles Vertrauen auf ihn setzen und ihm gewissenhaft gehorchen. PP 473.3
Bald nach dem Fall Jerichos beschloß Josua, Ai anzugreifen, eine kleine Stadt in den Bergschluchten, die sich wenige Kilometer westlich des Jordantals erstrecken. Dorthin entsandte Kundschafter brachten die Nachricht, sie habe nur wenige Einwohner, deshalb genüge zu ihrer Eroberung eine kleine Streitmacht. PP 474.1
Der große Sieg, den Gott für sie gewonnen hatte, hob das Selbstvertrauen der Israeliten. Er hatte ihnen Kanaan verheißen, also fühlten sie sich sicher und vergaßen darüber immer wieder, daß allein Gottes Hilfe ihnen Erfolg schenken konnte. Selbst Josua legte seine Pläne zur Eroberung von Ai, ohne Gott um Rat zu fragen. PP 474.2
Die Israeliten begannen sich ihrer Stärke zu rühmen und verächtlich auf die Feinde zu sehen. Man rechnete mit einem leichten Sieg und hielt dreitausend Mann für ausreichend, die Stadt einzunehmen. Ohne sich der Hilfe Gottes zu versichern, stürmten sie zum Angriff. Doch schon am Stadttor stießen sie auf entschlossenen Widerstand. Über die Anzahl und die gute Vorbereitung ihrer Feinde in Schrecken versetzt, flohen sie verwirrt den steilen Abhang hinab, ungestüm verfolgt von den Kanaanitern. “Sie hatten sie nämlich von dem Tor ... gejagt und am Abhang erschlagen.” Josua 7,5. Wenn der zahlenmäßige Verlust auch gering war — nur sechsunddreißig Mann wurden getötet —, war die Niederlage entmutigend für die ganze Gemeinde. “Da verzagte das Herz des Volks und ward zu Wasser.” Josua 7,5. Erstmals waren sie im offenen Kampf auf die Kanaaniter gestoßen. Wenn die Verteidiger dieser kleinen Stadt sie schon in die Flucht schlugen, was sollte dann in den größeren Kämpfen werden, die ihnen noch bevorstanden? Josua sah in ihrem Mißerfolg den Ausdruck göttlichen Unwillens, und voll Schmerz und Furcht “zerriß er seine Kleider und fiel auf sein Angesicht zur Erde vor der Lade des Herrn bis zum Abend samt den Ältesten Israels, und sie warfen Staub auf ihr Haupt”. Josua 7,6. PP 474.3
“Ach, Herr Herr”, rief er, “warum hast du dies Volk über den Jordan geführt und gibst uns in die Hände der Amoriter, um uns umzubringen ...? Ach, Herr, was soll ich sagen, nachdem Israel seinen Feinden den Rücken gekehrt hat? Wenn das die Kanaaniter und alle Bewohner des Landes hören, so werden sie uns umringen und unsern Namen ausrotten von der Erde. Was willst du dann für deinen großen Namen tun?” PP 474.4
Jahwe antwortete: “Steh auf! Warum liegst du da auf deinem Angesicht? Israel hat sich versündigt, sie haben meinen Bund übertreten, den ich ihnen geboten habe.” Josua 7,7-11. Jetzt war die Stunde zu schnellem, entschiedenem Handeln und nicht zur Verzweiflung und Klage gekommen. Es gab im Lager eine geheime Sünde, die es zu erforschen und zu beseitigen galt, ehe Gottes Gegenwart und Segen wieder bei seinem Volke sein konnte. “Ich werde hinfort nicht mit euch sein, wenn ihr nicht das Gebannte aus eurer Mitte tilgt.” Josua 7,12. PP 475.1
Einer von denen, die Gottes Gericht vollstrecken sollten, hatte des Herrn Gebot mißachtet. Und für seine Schuld wurde das ganze Volk verantwortlich gemacht: “Sie haben von dem Gebannten genommen und gestohlen und haben’s verheimlicht.” Josua 7,11. Josua erhielt Anweisung, wie der Schuldige aufzufinden und zu bestrafen war: das Los sollte ihn ermitteln. Der Sünder wurde also keineswegs sofort bezeichnet, die Angelegenheit blieb vielmehr eine Zeitlang in der Schwebe, damit jeder seine Verantwortlichkeit für die Sünden unter ihnen spüren und dadurch zu Herzenserforschung und Ehrerbietung vor Gott kommen sollte. PP 475.2
Früh am Morgen versammelte Josua das Volk, nach Stämmen aufgeteilt, und die ernste, eindrucksvolle Handlung begann. Schritt für Schritt ging die Untersuchung voran. Immer näher kam dem Schuldigen das furchtbare Urteil. Erst wurde der Stamm, dann das Geschlecht, die Familie und schließlich der Mann selbst getroffen. Achan, Karmis Sohn, aus dem Stamm Juda wurde von Gottes Finger als derjenige bezeichnet, der Israels Kummer verursachte. PP 475.3
Um keinen Zweifel an seiner Schuld aufkommen zu lassen und keinen Anlaß zu dem Vorwurf zu geben, er sei zu Unrecht verurteilt worden, beschwor Josua Achan in feierlicher Weise, der Wahrheit die Ehre zu geben. Darauf legte der nichtswürdige Mann ein umfassendes Geständnis ab: “Wahrlich, ich habe mich versündigt an dem Herrn, dem Gott Israels ... Ich sah unter der Beute einen kostbaren babylonischen Mantel und zweihundert Lot Silber und eine Stange von Gold, fünfzig Lot schwer; danach gelüstete mich, und ich nahm es. Und siehe, es ist verscharrt in der Erde in meinem Zelt.” Josua 7,20.21. Sofort wurden Boten dorthin geschickt, die an dem bezeichneten Platz die Erde aufgruben, “und siehe, es war verscharrt in seinem Zelt und das Silber darunter. Und sie nahmen’s aus dem Zelt und brachten’s zu Josua ... und legten’s nieder vor dem Herrn”. Josua 7,22.23. PP 475.4
Das Urteil wurde gesprochen und sofort vollstreckt. “Weil du uns betrübt hast”, sagte Josua, “so betrübe dich der Herr an diesem Tage.” Josua 7,25. Das Volk war für Achans Sünde mit verantwortlich gemacht worden und hatte unter ihren Folgen gelitten, darum sollte es auch an der Bestrafung teilhaben. “Ganz Israel steinigte ihn.” Josua 7,25. PP 476.1
Dann wurde ein großer Steinhaufen über ihm errichtet — als Zeuge für seine Sünde und ihre Bestrafung. “Daher nennt man diesen Ort ‘Tal Achor’” (Josua 7,26), das heißt “Unglück”. Im Buche Chronik wird er erwähnt als “Achan, der Israel ins Unglück brachte”. 1.Chronik 2,7. PP 476.2
Achan versündigte sich, weil er die ausdrücklichen, ernsten Warnungen Gottes und dessen überaus machtvolle Offenbarungen mißachtete. “Hütet euch vor dem Gebannten und laßt euch nicht gelüsten, etwas von dem Gebannten zu nehmen und das Lager Israels in Bann und Unglück zu bringen” (Josua 6,17.18), war allen Israeliten öffentlich verkündigt worden. Dieser Befehl kam unmittelbar nach dem wunderbaren Durchgang durch den Jordan. Sie hatten den Bund mit Gott durch die Beschneidung aufs neue anerkannt, Passa gefeiert und von der Erscheinung des Engels, des Fürsten über das Heer des Herrn, erfahren. Darauf folgte die Einnahme Jerichos, die zeigte, daß alle Übertreter des göttlichen Gesetzes mit Sicherheit vernichtet werden. Die Tatsache, daß allein die Kraft Gottes Israel den Sieg verlieh, sie sich Jerichos also nicht aus eigener Kraft bemächtigt hatten, verlieh dem Befehl, sich der Beute zu enthalten, großes Gewicht. Gott hatte diese Festung durch die Macht seines Wortes vernichtet; die Eroberung war sein Werk, deshalb mußte die Stadt mit allem, was darin war, ihm allein überlassen werden. PP 476.3
Unter den Millionen Israeliten war nur ein einziger Mann, der es in jener feierlichen Stunde des Sieges und Gerichtes wagte, Gottes Gebot zu übertreten. Das köstliche Gewand aus Sinear hatte Achans Habsucht erregt; sogar im Angesicht des Todes bezeichnete er ihn noch als einen “schönen babylonischen Mantel”. Josua 7,21 (Bruns). Eine Sünde zog die andere nach sich; er eignete sich auch Gold und Silber an, das für die Schatzkammer des Herrn bestimmt war, und beraubte damit Gott der Erstlingsfrucht des Landes Kanaan. PP 476.4
Achans todbringende Sünde hatte ihre Wurzel in der Habsucht, eins der häufigsten und doch für geringfügig gehaltenen Vergehen. Andere Verstöße werden aufgedeckt und bestraft, aber wie selten rügt man die Übertretung des zehnten Gebotes. Die Lehre aus Achans Geschichte ist, daß ein solches Unrecht frevelhaft ist und schreckliche Folgen hat. PP 477.1
Habsucht ist ein Übel, das sich allmählich entwickelt. Achan hatte die Gewinnsucht so lange genährt, bis sie zu einer Gewohnheit wurde, aus deren Fesseln er nicht mehr loskam. Solange diese Sünde ihn noch nicht ganz durchdrang, wäre er bei dem Gedanken zutiefst erschrokken, er könnte Unheil über Israel bringen. Nun aber war ihm dafür das Gefühl verlorengegangen; als die Versuchung kam, wurde er ihre leichte Beute. PP 477.2
Werden nicht trotz aller ernsten, ausdrücklichen Warnungen immer noch ähnliche Sünden begangen? Uns ist es genauso verboten, Habsucht zu dulden, wie es Achan untersagt war, sich Beute aus Jericho anzueignen. Gott nannte das Abgötterei. “Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon” (Matthäus 6,24), werden wir gemahnt. “Sehet zu und hütet euch vor aller Habgier.” Lukas 12,15. — “Habsucht lasset nicht von euch gesagt werden.” Epheser 5,3. Vor unseren Augen ersteht das furchtbare Schicksal Achans und des Judas sowie das des Ananias und der Saphira. Im Hintergrund aber steht das Geschick Luzifers, “schöner Morgenstern” (Jesaja 14,12) genannt, der den Glanz und die Seligkeit des Himmels für immer verwirkte, als er eine höhere Stellung begehrte. Und doch breitet sich trotz dieser Warnungen die Habgier weiter aus. PP 477.3
Überall trifft man auf dieses schleichende Übel. Es schafft Unzufriedenheit und Streit in den Familien; es erregt Neid und Haß bei den Armen gegen die Reichen und erzeugt die drückende Härte der Reichen gegen die Armen. Und dergleichen gibt es nicht nur in der Welt, sondern auch in den Gemeinden. Wie oft findet man sogar hier Selbstsucht, Geiz, Übervorteilung, Nachlässigkeit in Liebeswerken und Beraubung Gottes am Zehnten und an der Opfergabe. Vgl. Maleachi 3,8. Auch unter den Gemeindegliedern in guten, geordneten Verhältnissen gibt es leider noch viele Achans. Mancher von ihnen kommt regelmäßig zur Gemeinde und sitzt am Tisch des Herrn, obwohl er manches unrechtmäßig Erworbene besitzt, Dinge, die Gott verflucht hat. Für einen kostbaren babylonischen Mantel opfern viele ihr gutes Gewissen und die Hoffnung auf den Himmel. Mancher tauscht seine Redlichkeit und seine guten Fähigkeiten gegen einen Beutel Silberlinge ein. Darüber bleiben dann die Rufe der notleidenden Armen unbeachtet, und die Verkündigung des Evangeliums wird aufgehalten. Solches Tun erregt außerdem den Spott der Weltmenschen, weil es das christliche Bekenntnis Lügen straft. Dennoch hört der habgierige Glaubensbekenner nicht auf, Schätze anzuhäufen. “Ist’s recht, daß ein Mensch Gott betrügt, wie ihr mich betrügt!” (Maleachi 3,8) fragt der Herr. PP 477.4
Achans Sünde brachte Unglück über das ganze Volk. Wegen eines Menschen Schuld kann Gottes Mißfallen so lange auf seiner Gemeinde ruhen, bis das Unrecht herausgefunden und beseitigt ist. Was die Gemeinde am meisten fürchten sollte, sind nicht die offenen Gegner, die Ungläubigen und Spötter, sondern der Einfluß unaufrichtiger Bekenner Christi. Sie sind es, die Gottes Segen zurückhalten und seine Nachfolger erschlaffen lassen. PP 478.1
Hat die Gemeinde Schwierigkeiten, spürt man in ihr Kälte und geistlichen Verfall, wodurch die Feinde Gottes Grund zum Triumph erhalten, dann laßt die Gemeindeglieder nachforschen, ob nicht ein Achan im Lager ist, statt die Hände in den Schoß zu legen und den betrüblichen Zustand zu beklagen. Jeder suche in Demut und eingehender Selbstprüfung nach verborgenen Sünden, die Gottes Gegenwart verhindern. PP 478.2
Achan gestand seine Schuld ein, aber erst, als ihm ein Bekenntnis nicht mehr helfen konnte. Er hatte Israels Kämpfer geschlagen und entmutigt von Ai zurückkommen sehen und trat doch nicht vor, um seine Sünde zu bekennen. Er sah Josua und die Ältesten sich in unaussprechlichem Schmerz zur Erde beugen. Hätte er zu der Zeit sein Bekenntnis abgelegt, wäre das ein Beweis aufrichtiger Reue gewesen. Aber er schwieg weiter. Er hörte die öffentliche Bekanntgabe, daß jemand schweres Unrecht begangen habe, und vernahm sogar klar, worum es sich handelte. Aber er blieb stumm. Dann kam die feierlichernste Untersuchung. Wie mag er vor Angst gebebt haben, als sein Stamm getroffen wurde, dann sein Geschlecht und schließlich seine Familie! Aber er legte noch immer kein Geständnis ab, bis Gottes Finger auf ihn wies. Erst jetzt, als er seine Sünde nicht länger verheimlichen konnte, gab er die Wahrheit zu. Wie oft werden ähnliche Bekenntnisse abgelegt. Es ist ein großer Unterschied, ob man Tatsachen zugibt, die einem bewiesen wurden, oder ob man Sünden bekennt, von denen nur Gott und man selbst weiß. Achan hätte vielleicht immer noch nichts gestanden, wenn er nicht doch gehofft hätte, den Folgen seines Verbrechens zu entgehen. Nun aber dienten die bekennenden Worte nur dazu, seine Bestrafung zu rechtfertigen. Das war keine echte Reue, keine Sinnesänderung, kein Abscheu vor dem Bösen. PP 478.3
In gleicher Weise werden schuldig Gewordene einmal Bekenntnisse ablegen, wenn sie vor Gottes Gerichtsschranken stehen, nachdem jeder Fall über Leben und Tod entschieden ist. Die Folgen, die jeder zu erleiden hat, ergeben sich aus dem Zugeständnis seiner Sünde. Es wird dem Menschen abgenötigt durch das schreckliche Bewußtsein der Verdammnis und die furchtbare Erwartung des Urteils. Aber solche Bekenntnisse retten den Sünder nicht mehr. PP 479.1
Wie Achan fühlen sich viele sicher, solange sie ihre Verfehlungen vor den Mitmenschen verheimlichen können. Sie leben in der falschen Hoffnung, Gott nehme es nicht so genau mit ihren Fehlern. Viel zu spät werden sie ihre Sünden an jenem Tage erkennen, an dem sie weder durch Opfer noch durch Gaben gerechtfertigt werden können. Werden einmal die Bücher des Himmels aufgetan, wird der Richter dem Menschen seine Schuld nicht mit Worten bezeichnen, sondern ihn mit durchdringendem Blick verurteilend anschauen und damit dem Übeltäter sein lebenslanges Verhalten vor Augen führen. Niemand braucht wie in Josuas Tagen aus Stamm und Geschlecht aufgespürt zu werden; er wird seine Schande selbst bekennen. Die den Menschen bis dahin verborgenen Sünden werden dann vor aller Welt offen genannt. PP 479.2