Patriarchen und Propheten
Kapitel 27: Die Gesetzgebung
Bald nachdem sich das Volk am Sinai gelagert hatte, wurde Mose auf den Berg gerufen, um Gott zu begegnen. Allein stieg er den zerklüfteten Pfad hinauf und näherte sich der Wolke, die Jahwes Gegenwart bezeichnete. Israel sollte jetzt in eine besonders enge Verbindung zum Allerhöchsten kommen, um eine Gemeinde und eine Nation unter Gottes Herrschaft zu verkörpern. So lautete Gottes Botschaft, die über Mose an das Volk gerichtet werden sollte: PP 277.1
“Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein.” 2.Mose 19,4-6. PP 277.2
Mose kehrte ins Lager zurück, versammelte die Ältesten Israels und wiederholte ihnen die göttliche Botschaft. Sie antworteten im Namen des ganzen Volkes: “Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun.” 2.Mose 19,8. So gingen sie einen feierlichen Bund mit Gott ein und gelobten, ihn als ihren Herrn und König anzunehmen, dem sie in besonderem Sinne dienstbar wurden. PP 277.3
Abermals stieg Mose auf den Berg, und der Herr sprach zu ihm: “Siehe, ich will zu dir kommen in einer dichten Wolke, auf daß dies Volk es höre, wenn ich mit dir rede, und dir für immer glaube.” 2.Mose 19,9. Wenn ihnen auf der Wanderung Schwierigkeiten begegneten, waren die Hebräer rasch dabei, sich gegen Mose und Aaron zu empören und sie zu beschuldigen, sie hätten Israel aus Ägypten geführt, um es zu vernichten. Damit sie seinen Anweisungen ganz zu vertrauen lernten, wollte der Herr Mose vor ihnen auszeichnen. PP 277.4
Seinem erhabenen Wesen entsprechend, wollte Gott die Verkündigung seines Gesetzes zu einem ehrfurchtgebietenden Hoheitsakt machen. Es sollte sich dem Volke tief einprägen, daß alles, was zum Gottesdienst gehörte, größte Ehrerbietung verlangte. Deshalb forderte der Herr von Mose: “Geh hin zum Volk und heilige sie heute und morgen, daß sie ihre Kleider waschen und bereit seien für den dritten Tag: denn am dritten Tage wird der Herr vor allem Volk herabfahren auf den Berg Sinai.” 2.Mose 19,10.11. Inzwischen sollten alle ausreichend Zeit auf die gründliche Vorbereitung zu einer Begegnung mit Gott verwenden. Dazu gehörte, daß sie sich wuschen und auch ihre Kleidung säuberten. Mose wies sie auf ihre Sünden hin, damit sie sich andachtsvoll unter Fasten und Beten von aller Ungerechtigkeit reinigten. PP 278.1
Den Anordnungen entsprechend, trafen sie ihre Vorbereitungen. Auf ein weiteres Gebot hin ließ Mose einen Zaun um den Berg herum errichten, damit weder Mensch noch Vieh in den geheiligten Bereich eindringen könnten. Wer ihn auch nur zu berühren wagte, sollte auf der Stelle sterben. PP 278.2
Am Morgen des dritten Tages richteten sich aller Augen auf den Berg. Sein Gipfel war mit einer dichten Wolke bedeckt, die immer dunkler wurde, bis sie sich herabsenkte und den ganzen Berg in Finsternis und furchterregendes Geheimnis hüllte. Dann ertönte ein Schall wie von einer Trompete, durch den das Volk aufgefordert wurde, Gott zu begegnen. Mose führte es bis an den Fuß des Berges. Aus der dichten Finsternis flammten grelle Blitze, und Donnerschläge hallten vom Berge, die sich als Echo an den umliegenden Höhen brachen. “Der ganze Berg Sinai aber rauchte, weil der Herr auf den Berg herabfuhr im Feuer; und der Rauch stieg auf wie der Rauch von einem Schmelzofen, und der ganze Berg bebte sehr.” 2.Mose 19,18. “Und die Herrlichkeit des Herrn war anzusehen wie ein verzehrendes Feuer auf dem Gipfel des Berges vor den Kindern Israel.” 2.Mose 24,17. “Und der Posaune Ton ward immer stärker.” 2.Mose 19,19. So schrecklich waren die Zeichen der Gegenwart Jahwes, daß das ganze Volk Israel vor Furcht erzitterte und sich vor dem Herrn in den Staub warf. Selbst Mose rief aus: “Ich bin erschrocken und zittere.” Hebräer 12,21. PP 278.3
Nun hörte der Donner auf, die Posaune schwieg, die Erde hatte sich beruhigt. Eine Zeitlang herrschte feierliches Schweigen. Dann hörte man die Stimme Gottes aus der dichten Finsternis, die ihn verhüllte. Vom Berge, umgeben von einer Engelschar, verkündete er sein Gesetz. Mose beschrieb dieses Ereignis folgendermaßen: “Der Herr ist vom Sinai gekommen und ist ihnen aufgeleuchtet von Seir her. Er ist erschienen vom Berge Paran her und ist gezogen nach Meribath-Kadesch; in seiner Rechten ist ein feuriges Gesetz für sie. Wie hat er sein Volk so lieb! Alle Heiligen sind in deiner Hand. Sie werden sich setzen zu deinen Füßen und werden lernen von deinen Worten.” 5.Mose 33,2-3. PP 278.4
Jahwe offenbarte sich aber nicht nur in der furchterregenden Majestät des Richters und Gesetzgebers, sondern auch als der mitleidsvolle Hüter seines Volkes: “Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.” 2.Mose 20,2. Sie kannten ihn schon als ihren Führer und Befreier, der sie aus Ägypten geleitet und ihnen den Weg durch das Meer gebahnt, der Pharao und seine Heerscharen besiegt und sich dadurch allen Göttern Ägyptens überlegen gezeigt hatte: Er verkündete ihnen nun sein Gesetz. PP 279.1
Es wurde nicht ausschließlich zum Wohle der Hebräer verkündigt. Gott zeichnete sie wohl aus, als er sie zu dessen Hütern und Bewahrern machte, aber es sollte ein heiliges Vermächtnis für die ganze Welt sein. Die in den Zehn Geboten aufgestellten Forderungen sind Menschen zur Unterweisung und Lebensführung gegeben. Es sind zehn Regeln, die kurz, umfassend, aber gebieterisch die Pflichten gegen Gott und den Nächsten enthalten und deren wesentliche Grundlage die Liebe ist: “Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten wie dich selbst.” Lukas 10,27. Hier werden diese Grundsätze einzeln aufgeführt und auf die jeweilige Beschaffenheit und Lage des Menschen angewandt. PP 279.2
“Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.” 2.Mose 20,3. PP 279.3
Jahwe, der Ewige, aus sich Seiende, Ungeschaffene, der Schöpfer und Erhalter aller Dinge, hat allein das Recht zu höchster Verehrung und Anbetung. Der Mensch darf keinem andern Wesen den ersten Platz in seinen Gefühlen oder seinem Handeln einräumen. Was auch immer wir schätzen mögen, sobald es unsere Liebe zu Gott mindert oder den ihm gebührenden Dienst beeinträchtigt, machen wir uns einen Gott daraus. PP 279.4
“Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!” 2.Mose 20,4.5. PP 280.1
Das zweite Gebot verbietet die Anbetung des wahren Gottes in Nachbildungen. Viele heidnische Völker machen geltend, ihre Bilder seien nur Darstellungen oder Sinnbilder, in denen sie die Gottheit anbeten. Aber Gott hat solche Verehrung als Sünde bezeichnet. Der Versuch, den Ewigen gegenständlich darzustellen, schwächt die Gottesvorstellung des Menschen. Der Sinn, der sich von der unendlichen Vollkommenheit Jahwes abwendet, wird mehr vom Geschöpf als vom Schöpfer angezogen. Und mit dem sinkenden Gottesbegriff wird auch der Mensch selbst entwürdigt. PP 280.2
“Ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott.” 2.Mose 20,4.5. Die enge und heilige Beziehung Gottes zu seinem Volk wird durch den Vergleich mit der Ehe versinnbildet. Götzendienst ist geistlicher Ehebruch, und Gottes Mißfallen darüber wird berechtigt Eifersucht genannt. PP 280.3
“... der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen.” 2.Mose 20,4.5. Es ist unvermeidlich, daß Kinder unter den Folgen elterlichen Fehlverhaltens leiden müssen. Aber sie werden für die Schuld der Eltern nicht zur Rechenschaft gezogen, es sei denn, sie hätten auch daran Anteil gehabt. Gewöhnlich treten aber die Kinder in die Fußtapfen ihrer Eltern. Durch Vererbung und Beispiel machen sie sich der gleichen Sünden wie ihre Eltern schuldig. Die Anlage zu schlechten Neigungen und niedrigen Gewohnheiten wird genauso wie körperliche Krankheit und Entartung vom Vater auf den Sohn bis ins dritte und vierte Glied vererbt. Diese schreckliche Wahrheit sollte ernstliche Kraft dazu verleihen, den Menschen von einem sündigen Lebenswandel abzuhalten. PP 280.4
“... aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.” 2.Mose 20,6. Das zweite Gebot verbietet die Anbetung falscher Götter, schließt aber als stillschweigende Folgerung die Anbetung des wahren Gottes ein. Und denen, die ihm aufrichtig dienen, wird Barmherzigkeit verheißen, nicht nur bis ins dritte oder vierte Glied wie der angedrohte Zorn für die, die ihn hassen, sondern bis in Tausende von Geschlechtern. PP 280.5
“Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht.” 2.Mose 20,7. PP 281.1
Dieses Gebot untersagt nicht nur Meineide und das übliche beteuernde Beschwören, sondern es verbietet, den Namen Gottes leichtfertig oder unbekümmert und ohne Rücksicht auf seine erhabene Bedeutung zu gebrauchen. Wir entehren ihn durch gedankenlose Erwähnung in der Unterhaltung, durch seine Anrufung bei geringfügigen Dingen und mit häufiger, unüberlegter Wiederholung. “Heilig und hehr ist sein Name.” Psalm 111,9. Jeder sollte über Gottes Majestät, Reinheit und Heiligkeit nachsinnen, damit das Gemüt von der Bedeutung seines erhabenen Wesens durchdrungen werde. Sein heiliger Name sollte deshalb nur ehrfurchtsvoll und ernsthaftig ausgesprochen werden. PP 281.2
“Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn.” 2.Mose 20,8-11. PP 281.3
Der Sabbat wird nicht als eine neue Anordnung eingeführt, er ist vielmehr eine Stiftung von der Schöpfung her. Man soll sich seiner erinnern und ihn halten im Gedenken an das Werk des Schöpfers. Weil durch ihn auf den Schöpfer Himmels und der Erde hingewiesen wird, unterscheidet man durch seine Befolgung den wahren Gott von allen falschen Göttern. Wer den siebenten Tag hält, gibt damit zu erkennen, daß er Anbeter Jahwes ist. Somit ist der Sabbat das Zeichen des Gehorsams gegenüber Gott, solange ihm jemand auf Erden dient. Das vierte Gebot ist das einzige unter den zehn, das sowohl den Namen als auch den Anspruch des Gesetzgebers nennt und zeigt, durch wessen Vollmacht das Gesetz gegeben wurde. Dadurch enthält es Gottes Siegel, das seinem Gesetz als Beweis der Echtheit und bindenden Kraft hinzugefügt wurde. PP 281.4
Gott hat den Menschen sechs Tage zur Arbeit gegeben, und er verlangt, daß ihre persönlichen Dinge in dieser Zeit geschehen. Unumgänglich notwendige und Liebeswerke sind am Sabbat erlaubt. Kranke und Leidende müssen jederzeit versorgt werden, aber überflüssige Arbeit ist unbedingt zu vermeiden. “Wenn du deinen Fuß am Sabbat zurückhältst und nicht deinen Geschäften nachgehst an meinem heiligen Tage und den Sabbat ‘Lust’ nennst und den heiligen Tag des Herrn ‘Geehrt’; wenn du ihn dadurch ehrst, daß du nicht deine Gänge machst und nicht deine Geschäfte treibst ...” Aber das Verbot endet hier nicht. “... und kein leeres Geschwätz redest”, sagt der Prophet, “dann wirst du deine Lust haben am Herrn.” Jesaja 58,13.14. Wer am Sabbat berufliche Angelegenheiten oder Planungen erörtert, der hat sich in Gottes Augen tatsächlich mit Geschäftlichem abgegeben. Um den Sabbat zu heiligen, sollen wir nicht einmal mit unseren Gedanken bei weltlichen Dingen sein. Das Gebot schließt auch jene Leute ein, die in unserm Hause leben. Selbst sie sollten in diesen geheiligten Stunden ihre irdischen Dinge beiseite tun, damit alle sich zu willigem Gottesdienst an seinem heiligen Tage zusammenfinden können. PP 281.5
“Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.” 2.Mose 20,12. Die Eltern haben in einem Maße Anspruch auf Liebe und Achtung, wie es keinem andern zusteht. Gott selbst hat ihnen die Verantwortung für jene Menschen auferlegt, die ihrer Obhut anvertraut sind, und hat bestimmt, daß sie an seiner Stelle stehen sollten, solange die Kinder noch jung sind. Wer also die rechtmäßige Autorität seiner Eltern ablehnt, verwirft die Autorität Gottes. Das fünfte Gebot verlangt von den Kindern nicht nur Dankbarkeit, Unterordnung und Gehorsam den Eltern gegenüber, sondern auch Liebe und fürsorgliche Rücksichtnahme. Sie sollen ihnen die Mühsal erleichtern, auf ihren guten Ruf bedacht sein sowie im Alter für sie sorgen und ihnen Freude machen. Das Gebot schließt aber auch Achtung vor Predigern, vor der Obrigkeit und allen anderen ein, denen Gott Autorität übertragen hat. PP 282.1
Das, sagt der Apostel, “ist das erste Gebot, das eine Verheißung hat”. Epheser 6,2. Für Israel, das bald in Kanaan einzuziehen hoffte, verbürgte es den Gehorsamen langes Leben in jenem guten Lande. Aber es hat umfassendere Bedeutung, weil es das ganze Israel Gottes einschließt. Ihm verheißt es ewiges Leben auf einer Erde, nachdem sie vom Fluch der Sünde befreit ist. PP 282.2
“Du sollst nicht töten.” 2.Mose 20,13. Folgende Dinge sind mehr oder weniger Übertretung des sechsten Gebotes: Jede Ungerechtigkeit, die zur Verkürzung eines Menschenlebens führt; Haßgefühle, Rachsucht und andere Leidenschaften, die sich schädlich auf andere Menschen auswirken oder uns auch nur veranlassen, ihnen Böses zu wünschen (denn “wer seinen Bruder hasset, der ist ein Totschläger” (1.Johannes 3,15); ferner Vernachlässigung der Bedürftigen oder Leidenden aus selbstsüchtigen Gründen und sowohl alle zügellose Genußsucht als auch unnötige Entbehrung oder übertriebene Arbeitsleistung, die zur Schädigung der Gesundheit führt. PP 283.1
“Du sollst nicht ehebrechen.” 2.Mose 20,14. Dieses Gebot verbietet nicht nur unkeusche Handlungen, sondern auch wollüstige Vorstellungen und Begierden oder irgendwelche Gewohnheiten, durch die sie erregt werden könnten. Gott fordert nicht allein die äußerliche Reinheit, sondern die des Herzens, der geheimsten Gefühle und Wünsche. Auch Christus, der die weitreichende Verbindlichkeit des Gesetzes Gottes lehrte, bezeichnete böse Gedanken oder Blicke genauso als Sünde wie die unerlaubte Tat. PP 283.2
“Du sollst nicht stehlen.” 2.Mose 20,16. Dieses Verbot umfaßt offenkundige und verborgene Sünden. Das achte Gebot verurteilt Menschenraub und Sklavenhandel und verbietet Eroberungskriege. Es verdammt Diebstahl und Raub und fordert unbedingte Redlichkeit in den kleinsten Dingen des Lebens. Es verbietet das Übervorteilen im Geschäftsleben und verlangt gerechte Bezahlung bei Verpflichtungen oder Arbeitslöhnen. Es erklärt jeden Versuch, sich durch die Unwissenheit, die Schwäche oder das Mißgeschick eines anderen Vorteil zu verschaffen, für Betrug, der in den Büchern des Himmels verzeichnet wird. PP 283.3
“Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.” 2.Mose 20,16. Damit ist jede unwahre Aussage in irgendwelchen Streitfragen gemeint, jeder Versuch oder Plan, unsern Nächsten zu täuschen. Und vorsätzliche Täuschung ist Lüge. Man kann mit einem flüchtigen Blick, mit einer Handbewegung oder durch das Mienenspiel Unwahrheiten genauso ausdrücken wie mit Worten. Jede absichtliche Übertreibung oder jede Anspielung, die darauf berechnet ist, einen falschen Eindruck zu erwecken, ja sogar Berichterstattung im Sinne einer Unterstellung ist Lüge. Dieses Gebot verbietet jeden Versuch, dem guten Ruf des Nächsten durch falsche Darstellung und schlimme Verdächtigungen, Verleumdungen und Zuträgerei zu schaden. Selbst das vorsätzliche Vertuschen der Wahrheit, woraus andern Schaden erwachsen kann, ist Übertretung des neunten Gebotes. PP 283.4
“Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.” 2.Mose 20,17. Das zehnte Gebot rührt unmittelbar an die Wurzel aller Sünden, wenn es selbstsüchtiges Verlangen verbietet, dem die sündige Tat entspringt. Wer im Gehorsam gegen Gottes Gesetz sündige Wünsche nach Dingen bezähmt, die andern gehören, wird sich durch keine Übeltat am Mitmenschen schuldig machen. PP 284.1
Dies waren die heiligen Vorschriften der Zehn Gebote, die unter Blitz und Donner mit wunderbarer Machtentfaltung und Majestät des großen Gesetzgebers gesprochen wurden. Gott verkündete sein Gesetz mit Kraft und in Herrlichkeit, damit das Volk das ganze Geschehen nie vergäße und mit tiefer Ehrfurcht vor dem Urheber des Gesetzes, dem Schöpfer Himmels und der Erde, erfüllt werde. Er wollte allen Menschen Heiligkeit, Bedeutung und ewige Gültigkeit seines Gesetzes kundtun. PP 284.2
Das Volk Israel war vom Schrecken überwältigt. Die ehrfurchtgebietende Sprache Gottes erschien ihm fast untragbar. Denn als ihm Gottes erhabene Rechtsordnung dargelegt wurde, begriff es wie nie zuvor das widerwärtige Wesen der Sünde und seine eigene Schuld in den Augen des großen Gottes. Furchtsam und in heiliger Scheu wichen die Hebräer vom Berge zurück. Die Menge rief nach Mose: “Rede du mit uns, wir wollen hören; aber laß Gott nicht mit uns reden, wir könnten sonst sterben.” Mose antwortete: “Fürchtet euch nicht, denn Gott ist gekommen, euch zu versuchen, damit ihr’s vor Augen habt, wie er zu fürchten sei, und ihr nicht sündigt.” 2.Mose 20,19.20. Das Volk hielt sich zwar weiterhin fern und sah mit Schrecken auf das, was vor sich ging, Mose aber “nahte sich dem Dunkel, darinnen Gott war.” 2.Mose 20,21. PP 284.3
Das durch Sklaverei und Heidentum abgestumpfte und erniedrigte Volk war nicht darauf vorbereitet, die Tragweite der Zehn Gebote ganz zu erfassen. Damit sie nun die Verpflichtungen des Dekalogs besser verstünden und auch erfüllten, wurden ihnen zusätzliche Vorschriften gegeben, die die Grundsätze der Zehn Gebote veranschaulichten und zeitgemäß erklärten. Diese Gesetze nannte man Rechtsordnungen; einmal weil sie in unendlicher Weisheit und Gerechtigkeit ersonnen waren, zum andern weil die ehrenamtlichen Richter danach Recht sprechen sollten. Zum Unterschied von den Zehn Geboten wurden sie Mose persönlich von Gott übergeben, damit er sie dem Volke mitteilte. PP 284.4
Das erste dieser Gesetze bezog sich auf das Gesinde. Im Altertum verkauften die Richter Übeltäter zuweilen in die Sklaverei. In manchen Fällen taten es Gläubiger mit ihren Schuldnern. Und hin und wieder trieb die Armut Menschen dazu, sich oder ihre Kinder zu verkaufen. Aber ein Hebräer durfte nicht auf Lebenszeit als Sklave verkauft werden. Seine Dienstbarkeit dauerte höchstens sechs Jahre; im siebenten mußte er wieder freigelassen werden. Menschenraub, vorsätzlicher Mord und Empörung gegen die elterliche Autorität wurden mit dem Tode bestraft. Es war erlaubt, Nicht-Israeliten als Sklaven zu halten, aber sie standen unter strengem Schutz. Der Mörder eines Sklaven wurde bestraft. Jede ihm durch seinen Herrn zugefügte Verletzung, und sei es nur ein ausgeschlagener Zahn, berechtigte ihn dazu, freigelassen zu werden. PP 285.1
Die Israeliten waren bis vor kurzem selbst Sklaven gewesen. Nun sie ihrerseits welche halten durften, sollten sie sich vor jenen Grausamkeiten und ungerechten Forderungen hüten, unter denen sie bei den ägyptischen Fronvögten gelitten hatten. In Erinnerung an ihre eigene bittere Knechtschaft sollten sie sich in die Lage der Sklaven versetzen können und freundlich und verständnisvoll mit ihnen umgehen, das heißt, sie so behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. PP 285.2
Die Rechte der Witwen und Waisen waren besonders geschützt; sie schrieben schonende Berücksichtigung ihrer hilflosen Lage vor: “Ihr sollt Witwen und Waisen nicht bedrücken. Wirst du sie bedrücken und werden sie zu mir schreien, so werde ich ihr Schreien erhören. Dann wird mein Zorn entbrennen, daß ich euch mit dem Schwert töte und eure Frauen zu Witwen und eure Kinder zu Waisen werden.” 2.Mose 22,21-23. Auch Fremde, die sich Israel angeschlossen hatten, waren vor Unrecht und Härte zu schützen. “Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid.” 2.Mose 23,9. PP 285.3
Von einem Armen Wucherzinsen zu nehmen, war verboten. Nahm man von ihm Bekleidung oder Decke als Pfand, mußten sie am Abend zurückgegeben werden. Wer gestohlen hatte, mußte das Doppelte ersetzen. Das Gesetz schärfte Achtung vor Richtern und Regierenden ein, warnte jedoch andrerseits die Richter, Urteile zu fälschen, rechtswidrige Angelegenheiten zu unterstützen oder sich bestechen zu lassen. Verleumdung und üble Nachrede waren unbedingt zu unterbinden, und freundliches Verhalten, selbst persönlichen Feinden gegenüber, war Pflicht. PP 286.1
Und wieder erinnerte Gott das Volk an die heilige Verbindlichkeit des Sabbats. Er setzte jährliche Feste ein, an denen sich alle Männer vor dem Herrn versammeln sollten, um ihm Dankopfer und die ersten Früchte seines Segens zu bringen. Der Sinn all dieser Anordnungen wurde ihnen genannt: Sie entstammten keinem willkürlich ausgeübten Herrschaftsanspruch, sondern dienten dem Wohle Israels. Der Herr sagte: “Ihr sollt mir heilige Leute sein” (2.Mose 22,30), würdig, von einem heiligen Gott anerkannt zu werden. PP 286.2
Mose sollte diese Gesetze niederschreiben und als Grundlage des nationalen Rechts sorgfältig aufbewahren. Zusammen mit den Zehn Geboten, zu deren Erläuterung sie gegeben worden waren, enthielten sie die Bedingung zur Erfüllung der göttlichen Verheißungen für Israel. PP 286.3
Jahwe verkündigte ihnen nun folgende Botschaft: “Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, der dich behüte auf dem Wege und dich bringe an den Ort, den ich bestimmt habe. Hüte dich vor ihm und gehorche seiner Stimme und sei nicht widerspenstig gegen ihn; denn er wird euer Übertreten nicht vergeben, weil mein Name in ihm ist. Wirst du aber auf seine Stimme hören und alles tun, was ich dir sage, so will ich deiner Feinde Feind und deiner Widersacher Widersacher sein.” 2.Mose 23,20-22. PP 286.4
Auf allen Wanderungen ging Christus den Israeliten in der Wolken und Feuersäule wegweisend voran. Sie hatten wohl Sinnbilder, die auf einen künftigen Erlöser verwiesen; doch war er ihnen auch gegenwärtig, da er ihnen durch Mose Anweisungen gab und ihnen als die einzige Quelle des Segens dargestellt wurde. PP 286.5
Mose stieg vom Berge “und sagte dem Volk alle Worte des Herrn und alle Rechtsordnungen. Da antwortete alles Volk wie aus einem Munde: Alle Worte, die der Herr gesagt hat, wollen wir tun”. 2.Mose 24,3. Dieses Gelöbnis und die Worte des Herrn, die es zum Gehorsam verpflichteten, schrieb Mose in ein Buch. PP 286.6
Dann folgte die Bestätigung des Bundes. Am Fuße des Berges wurde ein Altar errichtet und daneben zwölf Säulen “nach den zwölf Stämmen Israels” (2.Mose 23,4) zum Zeugnis, daß sie den Bund angenommen hatten. Darauf brachten junge Männer, die für diesen Dienst erwählt waren, Opfer dar. PP 287.1
Mose besprengte den Altar mit dem Opferblut, dann nahm er “das Buch des Bundes und las es vor den Ohren des Volks”. 2.Mose 24,7. So wurden die Bedingungen des Bundes feierlich wiederholt, und jedem stand es frei, sie zu erfüllen oder nicht. Sie hatten anfangs schon versprochen, der Stimme Gottes zu gehorchen. Aber dann erlebten sie die Verkündigung seines Gesetzes, dessen Grundsätze ihnen hier ausführlich erklärt wurden, damit sie wissen konnten, was alles zu diesem Bunde gehörte. PP 287.2
Wiederum antwortete nun das Volk einstimmig: “Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun und darauf hören.” 2.Mose 24,7. “Als Mose alle Gebote nach dem Gesetz dem ganzen Volk vorgelegt hatte, nahm er das Blut ... und besprengte das Buch und danach alles Volk und sprach: ‘Das ist das Blut des Bundes, den Gott für euch verordnet hat.’” Hebräer 9,19.20. PP 287.3
Nun wurde die Einsetzung des erwählten Volkes unter Jahwe als seinem König vorbereitet. Mose hatte den Befehl erhalten: “Steig herauf zum Herrn, du und Aaron, Nadab und Abihu und siebzig von den Ältesten Israels, und betet an von ferne. Aber Mose allein nahe sich zum Herrn.” 2.Mose 24,1.2. Während das Volk am Fuße des Berges betete, wurden diese erwählten Männer auf den Berg gerufen. Die siebzig Ältesten sollten Mose in der Leitung Israels unterstützen. Gott legte deshalb seinen Heiligen Geist auf sie und zeichnete sie durch einen Blick auf seine Macht und Größe aus. “Sie sahen den Gott Israels. Unter seinen Füßen war es wie eine Fläche von Saphir und wie der Himmel, wenn es klar ist.” 2.Mose 24,10. Sie sahen nicht Gott selbst, nahmen aber die Herrlichkeit seiner Gegenwart wahr. Früher hätten sie das nicht ertragen können, aber das Erleben der göttlichen Macht hatte sie ehrfurchtsvoll Buße tun lassen. Sie versenkten sich in die Betrachtung seiner Herrlichkeit, Reinheit und Barmherzigkeit, bis sie sich ihm nähern durften, dem all ihre Gedanken galten. PP 287.4
Nun wurde Mose mit “seinem Diener Josua” (2.Mose 24,13) gerufen, Gott zu begegnen. Und da sie eine Zeitlang abwesend sein sollten, bestimmte Mose Aaron und Hur zu seinen Stellvertretern, die die Unterstützung der Ältesten haben sollten. “Als nun Mose auf den Berg kam, bedeckte die Wolke den Berg, und die Herrlichkeit des Herrn ließ sich nieder auf dem Berg Sinai.” 2.Mose 24,15.16. Sechs Tage lang bedeckte die Wolke den Berg zum Zeichen für Gottes außergewöhnliche Gegenwart. Doch erlebten die Hebräer keine Offenbarung oder Willensbekundung. Währenddessen hielt sich Mose bereit, in die Gegenwart des Allerhöchsten zu kommen. Der Herr hatte ihm gesagt: “Komm herauf zu mir auf den Berg und bleib daselbst” (2.Mose 24,12), und obwohl Moses Geduld und Gehorsam auf die Probe gestellt wurden, wachte er unermüdlich und verließ seinen Platz nicht. Diese Wartezeit diente ihm zur Vorbereitung und gründlichen Selbstprüfung. Denn selbst dieser begnadete Diener Gottes konnte sich nicht sogleich der Gegenwart des Höchsten nahen und die Offenbarung seiner Herrlichkeit ertragen. Sechs Tage lang mußte er sich Gott in ernstem Gebet und Selbstprüfung weihen, ehe er die letzte Vorbereitung für die persönliche Begegnung mit seinem Schöpfer treffen konnte. PP 288.1
Am siebenten Tage, einem Sabbat, wurde Mose in die dichte Wolke gerufen. Vor den Augen ganz Israels öffnete sie sich, und die Herrlichkeit des Herrn brach hervor wie ein verzehrendes Feuer. “Und Mose ging mitten in die Wolke hinein und stieg auf den Berg und blieb auf dem Berge vierzig Tage und vierzig Nächte.” 2.Mose 24,18. In diese Zeit des Aufenthalts auf dem Berg waren die sechs Vorbereitungstage nicht einbegriffen. Während jener Tage war Josua bei Mose, und sie aßen miteinander Manna und tranken von dem Bach, der aus dem Berge floß. Aber Josua trat nicht mit in die Wolke. Er blieb außerhalb und aß und trank täglich, während er auf Mose wartete. Mose aber fastete die vierzig Tage lang. PP 288.2
Auf dem Berge erhielt Mose Anweisungen für den Bau eines Heiligtums, in dem sich Gottes Gegenwart auf besondere Weise offenbaren sollte. “Sie sollen mir ein Heiligtum machen, daß ich unter ihnen wohne” (2.Mose 25,8), hieß der Befehl Gottes. Und zum dritten Mal schärfte er ihm die Beobachtung des Sabbats ein. “Er ist ein ewiges Zeichen zwischen mir und den Kindern Israel”, sagte der Herr, “damit ihr erkennt, PP 288.3
daß ich der Herr bin, der euch heiligt. Darum haltet meinen Sabbat, denn er soll euch heilig sein ... Wer eine Arbeit am Sabbat tut, der soll ausgerottet werden aus seinem Volk.” 2.Mose 31,17.13.14. Da kurze Zeit vorher genaue Anordnungen für die unverzügliche Errichtung der Stiftshütte zum Gottesdienst erteilt worden waren, lag für das Volk die Schlußfolgerung nahe, daß im Hinblick auf die Herrlichkeit Gottes und weil es dringend einer Anbetungsstätte bedurfte, Bauarbeiten auch am Sabbat gerechtfertigt wären. Um sie vor diesem Irrtum zu bewahren, erhielten die Hebräer diese Warnung. Selbst die Herrlichkeit und Dringlichkeit des besonderen Werkes für Gott durfte sie nicht dazu verleiten, seinen heiligen Ruhetag zu verletzen. PP 289.1
Fortan wurde das Volk der immerwährenden Gegenwart seines himmlischen Königs gewürdigt. “Ich will unter den Kindern Israel wohnen und ihr Gott sein”, “... das Heiligtum wird geheiligt werden durch meine Herrlichkeit” (2.Mose 29,45.43), lautete die Mose gegebene Versicherung. Als ein Sinnbild der Autorität Gottes und Verkörperung seines Willens erhielt Mose eine Niederschrift der Zehn Gebote, die Gottes Finger auf zwei Steintafeln geschrieben hatte. Sie sollten nach der Errichtung der Stiftshütte, dem sichtbaren Mittelpunkt der Nation im Hinblick auf deren Gottesdienst, würdig darin aufbewahrt werden. PP 289.2
Aus einem Sklavenvolk waren die Israeliten über alle Völker erhöht worden zum besonderen Eigentum des Königs der Könige. Gott hatte sie von der Welt abgesondert, damit er ihnen heiliges Gut anvertrauen könnte. Er machte sie zu Hütern seines Gesetzes und wollte durch sie die Gotteserkenntnis unter den Menschen bewahren. Auf diese Weise sollte das Licht des Himmels in eine dunkle Welt scheinen und eine Stimme hörbar werden, die alle Völker aufforderte, sich vom Götzendienst abzuwenden und dem lebendigen Gott zu dienen. Wenn Israel seinem Auftrag treu nachkäme, würde es eine weltbewegende Kraft werden. Gott selbst wollte sein Schild sein und es über alle andern Völker erhöhen. Dann würde durch die Israeliten sein Licht und seine Wahrheit offenbart, sie selbst aber überragten dann unter seiner weisen, heiligen Führung als Beispiel für die Erhabenheit seiner Anbetung jeden Götzendienst. PP 289.3