Erziehung

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Von der Schwachheit zur Kraft

Keine Lebensgeschichte aus dem Jüngerkreis veranschaulicht die Lehrmethoden Jesu so gut, wie die des Petrus. ERZ 89.3

Petrus war ein mutiger, selbstsicherer, manchmal auch streitsüchtiger junger Mann. Seine schnelle Auffassungsgabe und sein spontanes Handeln brachte ihn immer wieder in schwierige Lagen. Er machte viel falsch und wurde deshalb von Jesus mehrfach gerügt, war aber auch warmherzig genug, anderen ihre Fehler nachzusehen. ERZ 89.4

An Jesus hing er mit ganzer Hingabe. Der allerdings mußte viel Geduld mit ihm haben, denn es war nicht leicht, sein übersteigertes Selbstbewußtsein auf ein erträgliches Maß zurückzuschneiden und ihn Liebe, Demut, Gehorsam und Vertrauen zu lehren. Obwohl der Herr alles versuchte, war der Erfolg nur gering. Es schien so, als könne die Selbstüberschätzung des Jüngers durch nichts erschüttert werden. ERZ 89.5

Jesus wußte, was auf ihn und die Jünger in der Zukunft an Prüfungen und Leiden zukommen würde. Er versuchte auch immer wieder, mit seinen Jüngern darüber zu sprechen. Sie hörten ihm zwar zu, aber es gelang ihm nicht, ihnen dafür wirklich die Augen zu öffnen. Sie hatten andere Vorstellungen von der Zukunft als ihr Herr. Und weil das, was er voraussagte, nicht ihren Erwartungen entsprach, verdrängten sie es kurzerhand. Wie so oft, brachte Petrus auch hier sein Unbehagen spontan zum Ausdruck, sprach damit aber zugleich aus, was alle anderen auch dachten: “Um Himmels willen! So etwas darf dir nicht zustoßen!”1 ERZ 90.1

So blieb es bis zuletzt. Anstatt sich innerlich auf die kommende Krise vorzubereiten, drängten sich die Jünger in den Vordergrund, stritten miteinander und schielten nach den Ämtern, die Jesus ihnen nach dem Tag X zweifellos antragen würde. An Leiden und Sterben wollten sie nicht denken, und für das Kreuz hatten sie keine Augen. ERZ 90.2

Die Erfahrungen, die Petrus später machen mußte, waren für alle eine Lehre. ERZ 90.3

Für jemanden, der so auf sich und seine Kraft vertraut, enden Prüfungen häufig in verheerenden Niederlagen. Und selbst Christus konnte die Folgen nicht verhindern, die Petrus am Ende durch seine Überheblichkeit und Selbstüberschätzung heraufbeschwor. Aber er wandte sich nicht von seinem Jünger ab. Schon einmal hatte der Herr die Hand ausgestreckt, um ihn vor dem Versinken zu bewahren. Damals war Petrus kurzerhand aus dem Boot gesprungen und lief Jesus auf dem Wasser entgegen, doch dabei zeigte sich, daß sein Vertrauen letztlich doch nicht ausreichte. Als er im Wasser zu versinken drohte, griff der Herr zu und hielt ihn fest. ERZ 90.4

In ähnlicher Weise ließ er Petrus auch weiterhin seine Liebe spüren, obwohl der ihn mehrfach verleugnet hatte. Wieder griff er zu, um ihn vor dem Versinken in Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen zu bewahren. Sein großsprecherisches Reden und unbedachtes Handeln hatte Petrus schon in manche schwierige Situation gebracht, aber so nahe wie diesmal war er dem endgültigen Absturz noch nie gewesen. Dabei war er nicht ungewarnt in diese Prüfung hineingeraten. Als Jesus davon sprach, daß ihn bald alle verlassen würden, war sich Petrus sicher: “Ich bin jederzeit bereit, mit dir ins Gefängnis zu gehen und sogar für dich zu sterben.”1 ERZ 90.5

Zweifellos waren diese Worte nicht geheuchelt, sondern kamen aus einem liebenden und besorgten Herzen, aber wie so häufig, hatte Petrus den Mund zu voll genommen und im Überschwang der Gefühle etwas versprochen, was er am Ende nicht halten konnte. Und Christus, der das Herz des Petrus kannte, hatte schon vorgebaut und seinem Jünger eine Zusage gemacht, die der zunächst nicht verstand, die aber später wie ein Lichtstrahl in das Dunkel des Versagens und der Schuld hineinfiel: “Simon, Simon! Der Satan ist hinter euch her, die Spreu vom Weizen zu trennen. Aber ich habe für dich gebetet, damit du den Glauben nicht verlierst. Wenn du dann zu mir zurückkehrst, so stärke den Glauben deiner Brüder!”2 ERZ 91.1

Diese Zusage und der traurige, mitfühlende Blick, den Jesus ihm zuwarf, bewahrte Petrus vor dem Sturz ins Verderben. Als er in die Nacht hinauslief und vor Scham und Schuld bitterlich weinte, wurde ihm plötzlich klar, was sein Herr gemeint hatte, als er ihm zusagte: “Aber ich habe für dich gebetet ...” Das war es, was ihn vor der Verzweiflung bewahrte, in die er unweigerlich geraten wäre, hätte ihm der Blick Jesu statt Liebe und Vergebung Verurteilung signalisiert. ERZ 91.2

Gewiß, Christus wollte und konnte ihm diese bittere Lektion nicht ersparen, aber er ließ Petrus trotz allem nicht im Stich. Das war damals so und ist heute nicht anders. ERZ 91.3

Wir Menschen gehen miteinander meist nicht so verständnisvoll um. Im Gegenteil, häufig zeigt sich, daß ausgerechnet diejenigen, die selbst in Sünde geraten und der Vergebung bedürftig sind, sehr unbarmherzig mit anderen umgehen. Weil niemand von uns einem anderen ins Herz schauen kann — wir also weder seine Beweggründe kennen, noch seine inneren Kämpfe —, sollten wir unseren Mitmenschen begegnen, wie Jesus es mit seinen Jüngern tat. Er scheute sich nicht, die Seinen deutlich auf ihre Schwächen und Sünden hinzuweisen, aber immer geschah das in Liebe. Wenn er Wunden schlug, dann nicht, um zu verletzen, sondern um zu heilen. Und wenn er von Schuld und Versagen sprach, dann ließ er zugleich auch immer einen Strahl Hoffnung aufleuchten. ERZ 91.4

Und seltsam genug: In der ersten Botschaft, die Jesus den Jüngern nach seiner Auferstehung zukommen läßt, wird Petrus ausdrücklich beim Namen genannt. Nicht Johannes, der Jesus bis in den Gerichtssaal gefolgt war, der zugegen war, als Jesus am Kreuz starb, und der sich als Erster aus dem Kreis der Zwölf am Grab davon überzeugte, daß der Herr wirklich auferstanden war — nicht Johannes wurde erwähnt, sondern Petrus. Ein Engel hatte zu den Frauen, die Jesu Leichnam suchten gesagt: “Und nun geht zu seinen Jüngern und zu Petrus, und sagt ihnen, daß Jesus euch nach Galiläa vorausgehen wird. Dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch versprochen hat.”1 ERZ 92.1

Bei der letzten Zusammenkunft vor seiner Himmelfahrt ließ Christus alle wissen, daß Petrus trotz seines Versagens weiterhin zum engsten Jüngerkreis gehören sollte. Er wandte sich dreimal mit derselben Frage an den Versager: “Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?”2 Und jedesmal antwortete Petrus: “Ja, Herr, du weißt doch, daß ich dich liebe.” Mit diesem dreifachen Bekenntnis seiner Liebe war zwar die dreifache Verleugnung nicht ungeschehen gemacht, aber Petrus wußte: Ich bin wieder angenommen! Und nicht nur das, der Herr hatte ihm nicht nur vergeben, sondern erteilte ihm zugleich einen neuen Auftrag: “Hüte meine Schafe!” ERZ 92.2

Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er verstand plötzlich Aussagen und Handlungen Jesu, deren Sinn ihm bisher verborgen geblieben war. Zum Beispiel, warum Christus eines Tages ein Kind in ihren Kreis gestellt und von ihnen verlangt hatte, auch so zu werden wie dieses Kind. Nachdem er am eigenen Leib erfahren hatte, wie unzuverlässig und schwach er war und wie treu und stark Jesus ist, vertraute und gehorchte er seinem Herrn wie nie zuvor. Und als er nach einem schweren und aufopferungsvollen Leben für Christus und seine Gemeinde selbst den Märtyrertod sterben mußte, meinte er, daß diese Ehre für einen, der seinen Herrn verleugnet hatte, viel zu groß sei. ERZ 92.3

Das, was Christus durch seine Liebe im Leben dieses Mannes erreicht hat, soll allen, die dem großen Lehrer nachfolgen, Mut machen. ERZ 93.1