Erziehung
Eine Lektion Nächstenliebe
Niemand läßt sich gern ermahnen und zurechtweisen — das ging den Jüngern damals wohl nicht anders als uns heute. Aber deshalb wandten sich Johannes, Petrus oder die anderen aus dem engeren Kreis nicht von Jesus ab. Sie hatten sich freiwillig für ein Leben mit ihm entschieden und wollten bei ihm bleiben. Und Jesus andererseits zog sich trotz ihrer Fehler und Schwächen nicht von ihnen zurück. ERZ 93.2
Auch im Jüngerkreis lief nicht alles glatt, doch diese jungen Männer waren bereit, von Christus zu lernen, und er nutzte jede Gelegenheit, sie zu lehren. Wenn jemand zu ihm kommt, fragt Jesus nicht nach dem Ist-Zustand, sondern blickt auf das, was er aus ihm machen und mit ihm erreichen kann. Er nimmt die Menschen an wie sie sind, aber er läßt sie nicht so, sondern wandelt sie um und macht sie zu Mitarbeitern im Dienst an anderen. Voraussetzung ist allerdings, daß sie sich von ihm erziehen und ausbilden lassen wollen. Deshalb heißt es auch in den Evangelien, daß Jesus seine Freunde schalt, korrigierte, manchmal sogar scharf zurechtwies.1 ERZ 93.3
Nur einer aus dem Jüngerkreis scheint bis unmittelbar vor Jesu Gefangennahme von direktem Tadel verschont geblieben zu sein: Judas Iskariot. Mit ihm war ein höchst widersprüchlicher junger Mann zum Jüngerkreis hinzugestoßen. Wahrscheinlich fühlte er sich von der Persönlichkeit, der Botschaft, der wunderwirkenden Kraft und dem Lebensstil Jesu angezogen. Möglicherweise litt er selber unter seiner Widersprüchlichkeit und hoffte, die enge Gemeinschaft mit dem jungen Rabbi aus Nazareth könne da Abhilfe schaffen. Was ihm allerdings noch mehr am Herzen lag, waren Einfluß und Macht, die denen winkten, die Christus bei der Aufrichtung des neuen jüdischen Gottesstaats unterstützten. Obwohl sich Jesus immer wieder ganz anders geäußert hatte, verband Judas — andere übrigens auch! — Israels Zukunft mit rein irdisch-machtpolitschen Zielen. Und da er Jesus für den hielt, der die Macht hatte, diese Vorstellungen durchzusetzen, schloß er sich dem Jüngerkreis an. Allerdings fiel es ihm schwer, sich einzufügen — von Unterordnung gar nicht zu reden. ERZ 93.4
Er war ein kluger Kopf, der sehr wohl imstande war, sich eine eigene Meinung zu bilden. Nur, wenn sein Urteil einmal feststand, war er kaum noch gewillt, sich zu korrigieren. Das machte ihn im Umgang mit anderen rechthaberisch, überkritisch und hart. Wenn er etwas tat, mußte es sich lohnen, zumindest sollte es Eindruck machen. Daß sich Jesus in seinem Handeln nicht von Nützlichkeitserwägungen bestimmen ließ, konnte er nicht begreifen. Deshalb weckte vieles von dem, was Jesus tat, was er lehrte und wie er reagierte sein Mißfallen. Er sprach das zwar nicht offen aus, aber sein Ehrgeiz, seine Unzufriedenheit und seine Zweifel teilten sich in gewissem Sinne auch dem Jüngerkreis mit. Bei manchen internen Streitigkeiten und beim Feilschen um Einfluß und zukünftige Posten führte Judas geschickt Regie. ERZ 94.1
Natürlich blieb das Jesus nicht verborgen, doch er vermied die direkte Auseinandersetzung mit Judas, weil sich dadurch die Fronten nur verhärtet hätten. Der Selbstsucht und Unredlichkeit des Judas setzte er vielmehr seine aufopfernde Liebe entgegen. Außerdem formulierte er manche seiner Lehren und Grundsätze so, daß Judas dadurch im Gewissen getroffen wurde, ohne sich jedoch bloßgestellt fühlen zu müssen. Auf diese Weise erteilte er ihm eine Lektion nach der anderen, aber Judas war nicht gewillt, sich zu ändern. Und je mehr er sich innerlich dem Einfluß Jesu entzog, desto stärker gewann das Böse in ihm die Oberhand. Er fühlte sich mehr und mehr angegriffen, obwohl Jesus ihn nie direkt getadelt hatte, sondern ihm trotz allem mit Fürsorge und Liebe begegnete. ERZ 94.2
Dieses Gemisch aus Scham, enttäuschter Erwartung, Ehrgeiz, Machtstreben und Geldgier führte schließlich dazu, daß Judas den Entschluß faßte, Jesus zu verraten. Besonders schlimm erscheint dabei der Höhepunkt dieser Entwicklung. Eben noch in der vertrauten Atmosphäre des Jüngerkreises, wo der Herr mit den Seinen das Abendmahl feierte — und selbst da noch um den schon fast verlorenen Sohn rang —, trat Judas in die Nacht hinaus, um sein finsteres Werk zu vollenden. Und der Finsternis der Nacht entsprach auch die Finsternis in seinem Herzen. Als er Jesus und den Kreis der Jünger verließ, setzte er die Füße auf einen Weg, der kein Ziel mehr hatte, sondern nur noch ein Ende — ein schreckliches Ende! ERZ 95.1
“Jesus wußte nämlich von Anfang an, wer nicht an ihn glaubte, und kannte auch den, der ihn später verraten würde.”1 Im Falle des Judas wurde ganz deutlich, mit welcher Liebe sich Jesus gerade um Menschen kümmerte, die seine Geduld und sein Verständnis über Gebühr beanspruchten. ERZ 95.2
“Jesus wußte von Anfang an” heißt doch nichts anderes, als daß Jesus sich von vornherein der Gefahren bewußt gewesen sein muß, die die Aufnahme des Judas in den Jüngerkreis mit sich bringen würde. Er wußte auch um den Widerspruchsgeist, den Judas unterschwellig im Jüngerkreis verbreitete, und mußte dem immer wieder entgegenwirken. Dennoch nahm er ihn in die vertraute Gemeinschaft der Zwölf auf, um ihm jede nur denkbare Gelegenheit zur Umkehr geben zu können. Selbst als er schon das eigene bittere Leid und den Tod am Kreuz vor Augen hatte, bemühte er sich noch um diesen zwiespältigen und halsstarrigen jungen Mann. Hier bewahrheitete sich, was im Hohenlied so ausgedrückt ist: “... unüberwindlich wie der Tod, so ist die Liebe [...] Mächtige Fluten können sie nicht auslöschen, gewaltige Ströme sie nicht fortreißen.”2 ERZ 95.3
Soweit es Judas betraf, hatten Jesu Bemühungen nicht zum Erfolg geführt, doch im Blick auf die anderen Jünger waren sie nicht ohne Auswirkungen geblieben. Jesu Umgang mit schwierigen oder irregeleiteten Menschen bestimmte später auch ihr Verhalten anderen gegenüber. Doch sie lernten noch mehr. Als es darum ging, Judas in den engsten Jüngerkreis aufzunehmen, hatten sich die anderen Jünger eindeutig dafür ausgesprochen. Sie versprachen sich viel von diesem weltgewandten, scharfsinnigen und tatkräftigen Mann. ERZ 95.4
Judas hatte Format, war eine Führernatur und konnte sich und seine Fähigkeiten gut verkaufen. Jesus ließ sich davon nicht täuschen, aber bei den Jüngern dauerte es lange, ehe sie merkten, daß dieser Mann nicht geistlich gesinnt war, sondern der Sache Jesu nach weltlichen Spielregeln dienen wollte, und daß er auch mehr oder weniger irdische Ziele verfolgte. Er wollte, daß Jesus die weltliche Herrschaft an sich riß und den Seinen Einfluß und Macht sicherte. Doch als sich die hochfliegenden Pläne des Judas in Nichts auflösten, begriffen die Jünger, daß sich Ehrgeiz und Machtstreben nicht mit den Grundsätzen des geistlichen Königreichs Jesu vertragen — mit Demut beispielsweise und Opferbereitschaft. Am Leben und Verhalten des Judas sahen sie, wohin es führt, wenn ein Mensch nur sich selbst dient und seine eigenen Pläne und Wünsche zu verwirklichen sucht. ERZ 96.1
Was Jesus bei Judas nicht geglückt war, gelang ihm wenigstens im Blick auf die anderen Jünger. Seine Liebe und Selbstverleugnung formte mehr und mehr den Charakter dieser Männer. Und als er starb, begruben sie ihre rein weltlich orientierten Vorstellungen von der Zukunft Israels vollends. Sie begriffen auch, daß ihre Selbsteinschätzung weit von der Wirklichkeit entfernt gewesen war: Judas hatte den Herrn verraten, Petrus hatte ihn verleugnet und die anderen hatten ihn allein gelassen, als er sie am dringendsten brauchte. Mehr oder weniger hatten sie alle versagt. Angesichts der Aufgabe, Jesu Werk auf dieser Erde weiterzuführen, wurde ihnen klar, wie sehr sie auf seine Führung angewiesen waren. ERZ 96.2
Vieles von dem, was er sie gelehrt und was er getan hatte, erschien ihnen jetzt in einem anderen Licht. An manchen Stellen hätten sie gern nachgefragt, um sich letzte Klarheit zu verschaffen, aber das war nun, da er nicht mehr bei ihnen war, unmöglich. Glücklicherweise hatte der Herr ihnen zugesagt: “Doch glaubt mir: Es ist besser für euch, wenn ich gehe. Sonst käme der nicht, der meine Stelle einnehmen soll, um euch zu helfen und zu trösten. Wenn ich euch verlassen habe, werde ich ihn zu euch senden [...] Ihr aber seid meine Freunde, denn ich habe euch alles gesagt, was ich vom Vater gehört habe [...] Der Heilige Geist, den euch der Vater an meiner Stelle senden wird, der wird euch an all das erinnern, was ich euch gesagt habe, und ihr werdet es verstehen.”1 ERZ 96.3
Als die Jünger erlebten, wie Jesus vor ihren Augen vom Ölberg aus in die unsichtbare, himmlische Welt zurückkehrte, trösteten sie sich mit seiner Zusage: “Ihr dürft sicher sein: Ich bin immer und überall bei euch, bis an das Ende dieser Welt!”2 ERZ 97.1
Sie wußten, daß er immer an sie denken würde und daß sie jetzt direkt am Thron Gottes einen Fürsprecher hatten. In dieser Gewißheit beteten sie hinfort zu Gott und beriefen sich dabei auf Jesu Zusage: “Ich versichere euch: Wenn ihr den Vater in meinem Namen um etwas bittet, wird er es euch geben.”3 ERZ 97.2
Obwohl Jesus von ihnen gegangen war, fühlten sich die Jünger nicht verlassen, sondern geborgen, denn sie wußten: “Wer könnte es wagen, die von Gott Auserwählten anzuklagen? [...] Wer wollte es wagen, sie zu verurteilen? Keiner, denn Christus ist für sie gestorben, ja noch mehr: Er ist vom Tode auferweckt worden und tritt jetzt vor Gott für sie ein. Was also könnte uns von Christus und seiner Liebe trennen? Leiden und Angst vielleicht? Verfolgung? Hunger? Armut? Gefahr oder gewaltsamer Tod? Gewiß nicht!”4 ERZ 97.3
Wie versprochen, ließ der erhöhte Christus seine Nachfolger auf Erden teilhaben an seiner Gnadenfülle. Als der Heilige Geist über sie ausgegossen wurde, war das für die Jünger die Bestätigung dafür, daß Christus seinen Platz auf Gottes Thron wieder eingenommen hatte. Zugleich spürten sie, daß Gottes Geist sie auf die große Aufgabe der Evangeliumsverkündigung vorbereitete. Plötzlich spielten widerstreitende Gedanken, persönliche Gefühle und ehrgeizige Ziele keine Rolle mehr. Ihr Denken war auf Christus gerichtet, und ihre Kraft setzten die Jünger rückhaltlos für die Verkündigung seiner Botschaft und den Bau seines Reiches ein. Und ihr Zeugnis blieb nicht ohne Wirkung. Die Menschen drängten zu Tausenden in die Nachfolge Jesu. Selbst solche, die ihn kurz zuvor noch abgelehnt oder gar bekämpft hatten, wollten jetzt zu Christus gehören und seine Zeugen sein. Das führte dazu, daß die Christusbotschaft innerhalb einer einzigen Generation überall in der damals bekannten Welt bekannt wurde. ERZ 97.4
Das, was Gottes Geist an den Menschen in alter Zeit vollbrachte, kann und will er auch heute tun. Auch uns gilt seine Zusage: “Ihr dürft sicher sein: Ich bin immer und überall bei euch, bis an das Ende dieser Welt!” Voraussetzung ist freilich, daß wir uns dem Wirken des Heiligen Geistes ebenso öffnen, wie es die Jünger Jesu damals taten. Das zu erreichen, zumindest dazu beizutragen, ist Sinn und Ziel christlicher Erziehung. ERZ 98.1