Erziehung

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Mose

Mose war noch jünger als Josef und Daniel, als er die behütete Umgebung seines Elternhauses verlassen mußte. Doch auch sein Leben wurde wie bei jenen von den biblischen Grundsätzen geprägt, nach denen er erzogen worden war. ERZ 60.2

In den zwölf Jahren, die er in seiner hebräischen Familie verbringen durfte, wurde der Grund für seine spätere Größe gelegt. Wesentlichen Anteil daran hatte eine Frau, deren Namen man vergeblich auf den Ehrentafeln der Geschichte suchen würde: seine Mutter. ERZ 60.3

Jochebed war eine hebräische Frau und zugleich Sklavin in Ägypten. Vom Leben konnte sie nicht viel mehr als Mühe und Last erwarten. Dennoch erfuhr die Welt durch keine andere Frau, ausgenommen Maria von Nazareth, größeren Segen als durch sie. Sie wußte, daß ihr Sohn nur für wenige Jahre in seiner israelitischen Familie bleiben würde, um dann in einer Umgebung zu leben, in der man nichts von Gott hielt. Deshalb war es ihr wichtigstes Ziel, in Mose die Liebe zu Gott zu wecken und in seinem Herzen die Treue zum Herrn fest zu verankern. Und sie hatte Erfolg. Später zeigte sich nämlich, daß Mose durch nichts dazu zu bewegen war, den Grundsätzen untreu zu werden, die seine Mutter ihm eingeprägt und vorgelebt hatte. ERZ 60.4

Mit zwölf Jahren wurde Mose aus seinem einfachen Zuhause in Goschen herausgerissen und mußte fortan als Adoptivsohn einer ägyptischen Prinzessin am Pharaonenhof leben. Dort erhielt er die beste zivile und militärische Ausbildung, die es zur damaligen Zeit gab. Und Mose lernte schnell, sah gut aus und hatte eine starke persönliche Ausstrahlung. Er war gebildet, wußte sich in der Hofgesellschaft zu bewegen und bewährte sich als militärischer Befehlshaber. Wer Augen im Kopf hatte, prophezeite ihm eine glänzende Karriere bis hin zur Herrschaft über ganz Ägypten. ERZ 61.1

Die Pharaonen waren nicht nur Könige, das heißt weltliche Herrscher über das Land am Nil, sondern zugleich auch Mitglieder der Priesterkaste. Deshalb wurden Thronfolger nicht nur in Politik und Staatskunst eingeführt, sondern auch in die Geheimnisse der ägyptischen Religion eingeweiht. Ägypten war zu jener Zeit die mächtigste und kultivierteste Nation. Einem zukünftigen Pharao Mose hätte die ganze Welt zu Füßen gelegen. Doch Jochebeds Sohn traf eine andere Wahl. Um der Ehre Jahwes und der Befreiung seines geknechteten Volks willen verzichtete er auf seine politische Karriere in Ägypten. Und nun übernahm Gott selbst in ganz spezieller Weise Moses Erziehung, um ihn auf die Aufgaben vorzubereiten, die er später zu erfüllen haben würde. ERZ 61.2

Mose hatte sich zwar eindeutig auf Gottes Seite gestellt, aber für sein eigentliches Lebenswerk war er noch nicht genügend befähigt. Vor allem mußte er lernen, sich ganz auf Gott zu verlassen. Offensichtlich fühlte er sich dazu berufen, sein versklavtes Volk zu befreien, hatte aber Gott völlig mißverstanden, indem er meinte, das könne und müsse mit Gewalt geschehen. Um dieses Zieles willen setzte er alles auf eine Karte — und verlor! Statt Israel zu befreien, verschlimmerte er nur die Lage der Hebräer und wurde selbst zum Flüchtling, der in einem fremden Land leben mußte. ERZ 61.3

Welch ein Abstieg! Der ehemalige ägyptische Thronfolger verbrachte vierzig Jahre als Schafhirte in der Einöde von Midian. Nach menschlichem Ermessen mußte es heißen: Karriere zu Ende, Lebensaufgabe verfehlt! In Wirklichkeit aber war das Gegenteil der Fall. Mose erhielt von Gott gerade in dieser Zeit die Lektionen, die ihn zu seinem zukünftigen Lebenswerk erst befähigten. Die Weisheit, Besonnenheit und Geduld, die notwendig waren, einen Haufen ungebildeter und undisziplinierter Sklaven zu einem Volk zu machen, ließen sich offenbar nicht am Pharaonenhof erwerben, sondern nur durch das harte Leben als Hirte in der Einöde Midians. Ehe Mose Hirte Israels werden konnte, mußte er lernen, was es heißt, für eine Herde verantwortlich zu sein. Sein Verhalten in Ägypten hatte gezeigt, wie sehr es ihm an Selbstbeherrschung fehlte. Aber gerade die würde er als Führer Israels brauchen. Damit er ein Botschafter Gottes werden konnte, mußte er erst von Jahwe lernen. Und ehe er als Vermittler zwischen Gott und Israel auftreten konnte, mußte er erst einmal selber erleben, wer Gott wirklich ist. ERZ 61.4

Zwar hatte Mose die wichtigste charakterliche Prägung in früher Jugend in seinem hebräischen Elternhaus empfangen, aber das Leben am Pharaonenhof hatte selbstverständlich ebenfalls prägende Wirkung gehabt. Seine Pflegemutter vergötterte ihn. Seine Stellung als Enkel des Pharao verlieh ihm Ansehen und Macht. Luxus, Verschwendung und Laster am Königshof lockten in tausenderlei Gestalt. Und auch die religiösen Riten und die Geheimnisse der Priesterschaft waren nicht ohne Einfluß auf sein Denken und seine Seele geblieben. All diese belastenden Eindrücke verwischten sich erst durch das jahrzehntelange Leben in der Abgeschiedenheit Midians. ERZ 62.1

In der majestätischen Einsamkeit der Berge war Mose mit Gott allein. Überall stieß er auf die Spuren des Schöpfers. Es schien ihm, als ob er sich in Gottes Gegenwart befände und ihm ganz nahe sei. In dieser Umgebung kamen ihm seine frühere Selbstherrlichkeit, sein Dünkel und sein eigenwilliges Handeln ziemlich töricht vor. Denn in der Gegenwart des ewigen Gottes wurde ihm bewußt, wie schwach, machtlos und kurzsichtig der Mensch in Wirklichkeit ist. ERZ 62.2

Hier erlangte Mose das, was ihn die schier übermenschlichen Belastungen der folgenden Jahrzehnte durchstehen ließ: die Gewißheit der Gegenwart Gottes. Wenn man ihn später als Führer des Volkes mißverstand, verleumdete, anfeindete, beleidigte und bekämpfte, rechnete er “so fest mit Gott, als könnte er ihn sehen. Deshalb gab er nicht auf”.1 Mose dachte nicht nur hin und wieder an Gott, sondern hatte ihn stets vor Augen. Er sah ihn gleichsam mit dem inneren Auge und lebte deshalb praktisch immer in der Gegenwart seines Herrn. Der Glaube war für ihn kein bloßes Mutmaßen, sondern eine unumstößliche Gewißheit. Weil er sein Leben generell Gott übergeben hatte, verstand er auch das, was ihm im Einzelfall begegnete, als göttliche Fügung. Er vertraute darauf, daß der Herr ihm die Kraft geben würde, allen Versuchungen zu widerstehen. ERZ 62.3

Nachdem er Gottes Auftrag angenommen hatte, tat er alles, um ihn so gewissenhaft wie möglich zu erfüllen. Aber nun verließ er sich nicht mehr auf seine eigene Kraft, sondern vertraute auf Gottes Macht. ERZ 63.1

Auf diese Weise hatte Mose in den vierzig scheinbar verlorenen Jahren in der Einöde mehr gelernt als es in Ägypten je möglich gewesen wäre. Und noch etwas zeigt diese Geschichte: Gott ist kein Preis zu hoch und keine Zeit zu lang, wenn es darum geht, Menschen für den Dienst auszurüsten, den er ihnen zugedacht hat. ERZ 63.2

Die Auswirkung solcher Erziehung und der dabei erteilten Lehren ist nicht nur unauflösbar mit der Geschichte Israels verbunden, sondern zugleich wegweisend bis in unsere Zeit. Welche Bedeutung Mose zukommt, läßt sich aus der abschließenden Beurteilung dieses Gottesmannes ablesen: “Nach Mose hat es keinen Propheten mehr gegeben, dem der Herr von Angesicht zu Angesicht begegnet ist. Nie wieder sind so große Wunder durch einen Menschen geschehen ...”1 ERZ 63.3