Erziehung
Paulus
Gott wollte, daß alle Welt die Frohe Botschaft von Jesus hören sollte. Deshalb fügte er es so, daß die vom Glauben und der persönlichen Erfahrung getragene Verkündigung der Jünger unterstützt wurde von einem hochgebildeten und energischen jungen Rabbi mit Namen Saulus. ERZ 63.4
Saulus war als Sohn jüdischer Eltern in der kleinasiatischen Stadt Tarsus geboren worden und von Geburt an römischer Bürger. Jude war er nicht nur seiner Abstammung wegen, sondern auch von seiner Erziehung, seiner Ausbildung, seiner patriotischen Gesinnung und seiner strengen religiösen Haltung her. Er hatte in Jerusalem bei einem der angesehensten Gelehrten studiert, so daß er sich bestens auskannte im Gesetz, in den heiligen Schriften und den Überlieferungen der Väter. Sein Stolz auf die jüdische Abstammung war gepaart mit Vorurteilen und mit Geringschätzung derer, die nicht zum auserwählten Volk gehörten. Obwohl er noch sehr jung war, wurde er bald ein angesehenes Mitglied des Hohen Rates. Er galt als vielversprechender Mann, zumal er sich als eifriger und kompromißloser Verfechter des alten Glaubens hervortat. ERZ 63.5
Zur Zeit Jesu waren in den theologischen Schulen Judäas die häufig spitzfindigen rabbinischen Auslegungen der heiligen Schriften wichtiger als das Wort Gottes selbst. Treibende Kraft waren nicht selten der Drang der Gelehrten, sich selbst und ihre Erkenntnis ins rechte Licht zu rücken, andere geistig zu beherrschen sowie rechthaberisch und störrisch an rein menschlichen Traditionen festzuhalten. ERZ 64.1
Die Gesetzeslehrer wachten eifersüchtig über ihre herausgehobene Stellung, viele waren scheinheilig und stolz. Menschen, die nicht ihres Glaubens und ihrer Volkszugehörigkeit waren, verachteten sie, und von ihren einfachen jüdischen Mitbürgern hielten sie nicht viel. Zu diesem religiösen Dünkel kam noch der Haß auf die römische Besatzungsmacht. Viele Juden konnten und wollten sich nicht damit abfinden, daß ihr Land von Rom aus regiert wurde. Sie wollten frei sein und ihre Unabhängigkeit notfalls mit Waffengewalt zurückgewinnen. Kein Wunder, daß sie Jesu Nachfolger, deren Friedensbotschaft ihren Zielen im Wege stand, haßten und verfolgten. Dabei tat sich besonders Saulus durch kompromißlose Härte hervor. ERZ 64.2
Anderthalb Jahrtausende zuvor waren Mose auf der “Militärakademie” Ägyptens die Gesetze von Macht und Gewalt gelehrt worden. Sie hatten ihn so geprägt, daß vierzig Jahre stiller Gemeinschaft mit Gott in der Natur nötig waren, um ihn auf die Führung des Volkes Israels nach den Gesetzen der Liebe vorzubereiten. Auch Paulus mußte diese andere Sicht erst lernen. ERZ 64.3
Dieses Umdenken begann vor den Toren von Damaskus, als der gekreuzigte und auferstandene Herr dem Christenverfolger Saulus in einer Vision erschien. Aus Saulus wurde ein Paulus, aus dem Verfolger ein Nachfolger, aus dem Schriftgelehrten ein Lernender. Die dunklen Tage von Damaskus wogen für ihn schwerer als die Erfahrung vieler Jahre. Plötzlich sah er viele der ihm geläufigen Texte aus den heiligen Schriften in einem völlig neuen Licht, denn nun war Christus sein Lehrer. ERZ 65.1
Auch die Einsamkeit der arabischen Wüste, in die sich Paulus nach seiner Bekehrung für einige Zeit zurückgezogen hatte, um die heiligen Schriften erneut zu studieren, wurde für ihn zur Schule Gottes. Je weiter er zur Quelle der Wahrheit vordrang, desto mehr wurde seine Seele vom Schutt der Vorurteile und Überlieferungen befreit. Hinfort war sein Leben von der Liebe zu Christus geprägt und vom Dienst für ihn bestimmt. Er sagte von sich: “Denn nur allzugern würde ich auch bei euch wie bei anderen Völkern Menschen für Christus gewinnen; fühle ich mich doch allen verpflichtet, ob sie nun eine hohe Kultur haben oder nicht, ob sie gebildet oder ungebildet sind.”1 Oder an anderer Stelle: “Die Liebe, die Christus uns erwies, bestimmt mein ganzes Handeln.”2 ERZ 65.2
Obwohl Paulus zweifellos zu den größten Lehrern der Menschheit gehörte, war er sich nicht zu schade, auch ganz einfache Dienste zu übernehmen. Er wußte, daß es gut ist, wenn geistiges Schaffen durch körperliches Tätigsein ergänzt wird. Deshalb hielt er es durchweg so, daß er nicht nur predigte und lehrte, sondern auch noch in seinem Beruf arbeitete. Als er sich von den Ältesten in Ephesus verabschiedete, betonte er ausdrücklich: “Ihr wißt selbst, daß ich den Lebensunterhalt für mich und die Leute, die bei mir waren, mit diesen meinen Händen durch eigene Arbeit verdient habe.”3 ERZ 65.3
Paulus zeichnete sich nicht nur durch hohe geistige Fähigkeiten aus, sondern besaß auch etwas, was vielen anderen Geistesgrößen abgeht: Weisheit. In dem, was er lehrte, und in seiner Lebensart offenbaren sich Wahrheiten und Leitlinien, von denen selbst große Geister seiner Zeit nicht einmal etwas ahnten. Er konnte Zusammenhänge schnell durchschauen und verfügte über das notwendige Einfühlungsvermögen, um Menschen einander näher zu bringen, das Gute in ihnen zu wecken und sie zu einem besseren Leben anzuregen. ERZ 65.4
Das zeigte sich beispielsweise in Lystra, wo er die Verkündigung des wahren Gottes mit den Bedürfnissen seiner heidnischen Zuhörer verknüpfte und sie so für das Evangelium interessierte. Den lebendigen Gott beschrieb er so: “Er gibt euch den Regen und läßt die Ernte reifen; er gibt euch zu essen und macht euch froh und glücklich.”1 ERZ 66.1
Wie stark sein Einfluß auf andere selbst in kritischen Situationen war, zeigte sich auch in Philippi. Schwer mißhandelt und von Schmerzen gepeinigt, klagte er im Kerker nicht, sondern sang Psalmen und lobte Gott. Und als ausgerechnet in dieser Nacht ein Erdbeben alle Gefängnistüren sprengte, gelang es ihm, alle Mitgefangenen von der Flucht abzuhalten, so daß er dem verzweifelten Gefängnisaufseher zurufen konnte: “Töte dich nicht! [...] Wir sind alle hier!”2 ERZ 66.2
Der Beamte war von der Glaubenshaltung und der Tatkraft des Paulus so beeindruckt, daß er sich auch nach solch einer inneren Sicherheit sehnte, wie sie dieser Mann offenbar hatte. Der Apostel knüpfte an dieser Stelle an und führte ihn samt seiner Familie zu Christus. ERZ 66.3
Im Bericht vom Zusammentreffen mit Ratsherren und gebildeten Bürgern auf dem Areopag von Athen lernen wir Paulus von einer anderen Seite kennen. Dort begegnete er den Gelehrten mit wissenschaftlichen Argumenten, auf logische Überlegungen reagierte er mit logischen Argumenten, und auf philosophische Einlassungen antwortete er mit philosophischen Gedanken. Die Liebe, die ihren Ursprung in Gott hat, machte es ihm möglich, das Interesse seiner Zuhörer taktvoll auf Jahwe zu lenken, den sie in Gestalt des unbekannten Gottes bereits verehrten, ohne es zu wissen. Er zitierte dabei Verse eines Dichters aus ihren Reihen, um ihnen Gott als Vater darzustellen, dessen Kinder sie waren. Man muß sich wundern, wie Paulus in einer Klassengesellschaft, in der Menschenrechte völlig unbekannt waren, von Brüderlichkeit unter den Menschen sprach und die großartige Wahrheit verkündigte, daß Gott “die Welt erschaffen hat und alles, was darin lebt.” Und dann zeigte er den Athenern auf, daß sich durch alles, was den Menschen bestimmt ist, wie ein goldener Faden der Sinn zieht, die Liebe und Gnade Gottes zu erkennen: “Für jedes Volk hat er im Voraus bestimmt, wie lange es bestehen und in welchen Grenzen es leben soll. Er wollte, daß die Menschen ihn suchen und sich bemühen, ihn zu finden. Er ist jedem von uns nahe; denn durch ihn, leben, handeln und sind wir.”1 ERZ 66.4
Oder man erinnere sich daran, wie seelsorgerlich und einfühlsam der Apostel auf König Herodes Agrippa einging, der seine Verteidigungsrede vor dem römischen Prokurator Festus mit folgenden Worten kommentiert hatte: “Es fehlt nicht viel, und du überredest mich noch, ein Christ zu werden!” Paulus antwortete: “Wollte Gott [...] daß nicht nur du, sondern alle hier über kurz oder lang Christen würden wie ich — nur ohne Fesseln!”2 ERZ 67.1
In seinen Briefen an die Christen in Korinth gibt Paulus schlaglichtartig einen Einblick in sein schweres und doch zugleich erfülltes Leben als Apostel: “Auf meinen vielen Reisen haben mich Hochwasser und Räuber bedroht. Juden und Nichtjuden haben mir nachgestellt. Es gab Gefahren in den Städten und in der Wüste, Gefahren auf hoher See und Gefahren bei falschen Brüdern. Ich habe Mühe und Not durchgestanden. Ich habe oft schlaflose Nächte gehabt; ich bin hungrig und durstig gewesen. Oft habe ich überhaupt nichts zu essen gehabt oder ich habe gefroren, weil ich nichts anzuziehen hatte.”3 Aber das war nur die eine Seite der Medaille, denn trotz all dieser Beschwernisse bezeugte Paulus: “Wir segnen, wenn man uns flucht, wir ertragen es, wenn man uns verfolgt; wenn man uns beschimpft, antworten wir mit freundlichen Worten [...] Man macht mir Kummer und doch bin ich immer fröhlich. Ich bin arm wie ein Bettler und mache doch viele Menschen reich. Ich besitze nichts und habe doch alles.”1 ERZ 67.2
Weil der Dienst für Christus und an den Mitmenschen für Paulus im Mittelpunkt stand, konnte er im Rückblick auf sein an Kämpfen, Niederlagen und Siegen reiches Leben zusammenfassend sagen: “... ich habe mit vollem Einsatz gekämpft; jetzt ist das Ziel erreicht, und ich bin Christus im Glauben treu geblieben.”2 ERZ 68.1
Positive Vorbilder sind für uns alle von Bedeutung, besonders natürlich für junge Menschen, die den größten Teil ihres Lebens noch vor sich haben. ERZ 68.2
Mose beispielsweise verzichtete um der Zukunft seines Volkes willen auf ein Königreich; Paulus war die Verkündigung der Frohen Botschaft wichtiger als Karriere und Reichtum. Beide nahmen die Belastungen, die ein Leben im Dienst für Gott mit sich bringen kann, auf sich, weil sie sich ganz ihrem Auftrag verschrieben hatten. Viele sehen das Leben dieser Männer nur unter dem Aspekt von Verzicht und Opferbereitschaft. Aber war es wirklich nicht mehr als das? Im Hebräerbrief heißt es: Mose “... zog es vor, mit dem Volk Gottes zu leiden, anstatt für kurze Zeit gut zu leben und dabei Schuld auf sich zu laden. Er war sicher, daß alle Schätze Ägyptens nicht so viel wert waren wie die Verachtung, die einer für Christus auf sich nimmt.”3 Er hoffte nicht nur, daß es so sei, sondern war davon überzeugt, daß es so ist. ERZ 68.3
Es ist kaum anzunehmen, daß der Luxus am Pharaonenhof und die Aussicht auf den Königsthron keinen Reiz auf Mose ausgeübt haben. Doch er ließ sich davon nicht blenden, sondern sah auch, wie sehr das Leben bei Hofe — meist ein Gemisch aus Eitelkeit, Prunksucht, Unmoral, Machtgier und Ränkespiel — die Seelen vergiftete und die Menschen Gott vergessen ließ. Deshalb wollte er sein Leben nicht mit der Zukunft Ägyptens verbinden, sondern mit der Zukunft des von Gott erwählten Volkes. Anstatt vergängliche Gesetze für Ägypten zu erlassen, wurde er für die ganze Welt zum Verkünder der ewigen Gesetze Gottes. In seinem Auftrag gab er Grundsätze weiter, die gleichermaßen ein Schutz sind für die Familie und für die Gesellschaft; Ordnungen, von denen das Wohlergehen der Menschheit abhängt, und die deshalb bis heute das Fundament bilden, auf dem das Zusammenleben von Menschen und Völkern überhaupt erst möglich ist. ERZ 68.4
Von der einstigen Macht und Größe Ägyptens zeugen nur noch Ruinenfelder und ein paar Kulturdenkmäler. Die Grundpfeiler der Gerechtigkeit, die Mose aufrichten durfte, stehen noch heute und werden auch in Zukunft gültig bleiben. Im Hebräerbrief heißt es: “Mose vertraute Gott [...] Er wußte, wie reich Gott ihn belohnen würde.”1 Er wanderte mit Christus durch die Wüste, war mit ihm auf dem Verklärungsberg und lebt nun mit Christus in der himmlischen Welt. Er führte auf Erden ein gesegnetes und segensreiches Leben, und im Himmel erhält er dafür die Ehre. ERZ 69.1
Paulus bekannte am Ende seines entbehrungsreichen und ständig bedrohten Lebens: “Aber dies alles, was mir früher als großer Vorzug erschien, habe ich durch Christus als Nachteil und Schaden erkannt. Ich betrachte überhaupt alles andere als Verlust im Vergleich mit dem überwältigenden Gewinn, daß ich Jesus Christus meinen Herrn kenne. Durch ihn hat für mich alles andere seinen Wert verloren, ja ich halte es für bloßen Dreck. Nur noch Christus besitzt für mich einen Wert.”2 Und wer wissen möchte, woher der Apostel die Kraft zu einem solchen Leben nahm, dem ruft er zu: “Allem bin ich gewachsen, weil Christus mich stark macht.” und: “Kann uns dann noch etwas von Christus und seiner Liebe trennen? Etwa Leiden, Not, Verfolgung, Hunger, Entbehrungen, Gefahr, oder Tod? [...] Nein, mitten in all dem triumphieren wir mit Hilfe dessen, der uns seine Liebe erwiesen hat. Ich bin gewiß, daß uns nichts von dieser Liebe trennen kann: weder Tod noch Leben, weder Engel, noch andere Mächte, weder etwas im Himmel noch etwas in der Hölle. Durch Jesus Christus, unseren Herrn, hat Gott uns seine Liebe geschenkt. Darum gibt es in der ganzen Welt nichts, was uns jemals von Gottes Liebe trennen kann.”1 ERZ 69.2
Und auch für Paulus gab es eine Freude und Belohnung, die ihn alle Mühe vergessen ließ. Es waren die gleiche Freude und der gleiche “Lohn”, für die Christus die Schande des Kreuzes auf sich nahm: die Frucht seiner Arbeit. Den Christen in Thessalonich schrieb Paulus: “Ihr gehört doch zu denen, die unsere Hoffnung und unsere Freude sind. Ihr seid unser Siegespreis, auf den wir stolz sein können, wenn Jesus, unser Herr, kommt. Ja, ihr seid unsere Ehre und unsere Freude!”2 ERZ 70.1
Einiges von der Frucht seiner Arbeit durfte der Apostel schon zu seinen Lebzeiten sehen, aber welche Auswirkungen sein Lebenswerk für das Christentum und die Geschichte dieser Welt wirklich hat, kann niemand ermessen. Fest steht nur, daß durch die von Paulus und anderen Glaubenszeugen verkündigte Christusbotschaft ein Strom des Segens in die Welt geflossen ist, daß Leid gelindert und Trost gespendet, dem Bösen gewehrt und dem Gutem der Weg bereitet wurde — und daß Menschen durch den Glauben an Christus wieder Boden unter die Füße bekamen und neue Hoffnung schöpften. Wie glücklich kann sich jeder schätzen, der in ähnlicher Weise wie Paulus und viele andere Werkzeug Gottes sein darf, auch wenn er erst in der Ewigkeit erfahren wird, wieviel Frucht aus seiner Arbeit wirklich gewachsen ist. ERZ 70.2