Erziehung
Kapitel 30: Glaube und Gebet
“Ihr werdet alles bekommen,
wenn ihr im festen Glauben darum bittet.”
Matthäus 21,22.
Glauben heißt: Gott vertrauen — in der Gewißheit, daß er uns liebt und am besten weiß, was gut für uns ist. ERZ 255.1
Solches Vertrauen führt uns dahin, statt eigener Wege den Weg des Herrn zu wählen. An die Stelle unserer Unwissenheit tritt dann der Glaube, der sich auf Gottes Weisheit stützen darf. Unserer Schwachheit verleiht er seine Stärke, unserem sündhaften Wesen seine Gerechtigkeit. Unser Leben gehört ja schon ihm, aber der Glaube bejaht Gottes Eigentumsrecht an uns und empfängt dadurch die verheißenen Segnungen. ERZ 255.2
Wahrhaftigkeit, Rechtschaffenheit und Reinheit sind das Geheimnis eines gottgefälligen Lebens. Der Glaube schafft solch ein Wesen in uns. ERZ 255.3
Jede Verheißung Gottes ist an Bedingungen geknüpft. Wenn wir bereit sind, Gottes Willen zu tun, wird uns seine Kraft zuteil werden. Welche Gabe er auch verspricht — sie ist schon in der Verheißung enthalten. Deshalb heißt es: “Das Samenkorn ist Gottes Wort.”1 So sicher, wie der Keim für die riesige Eiche schon in der unscheinbaren Eichel steckt, so gewiß ruht auch das Geschenk Gottes bereits in seinem Versprechen. ERZ 255.4
Der Glaube, der uns dazu bringt, Gottes Gaben anzunehmen, ist ein Geschenk. Er wächst, indem wir uns mit Gottes Wort beschäftigen. Wenn wir wollen, daß unser Glaube wächst und stark wird, muß die Heilige Schrift unsere tägliche geistliche Nahrung werden. ERZ 255.5
Beim Lesen der Bibel gilt es, der Kraft des Wortes Raum zu geben. Bei der Schöpfung sprach der Herr, und es geschah. Denn “er sprach, und es geschah, er befahl, und die Erde war da.”1 ERZ 256.1
Im Laufe der Kirchengeschichte haben Menschen, die ihr Vertrauen auf Gottes Wort setzten, selbst den widrigsten Verhältnissen standgehalten, obwohl sie das von sich aus nicht gekonnt hätten. Henoch, von dem die Schrift sagt, daß er reines Herzens war und ein geheiligtes Leben führte, ließ sich nicht von dem Glauben abbringen, daß mitten in einem verworfenen und bösen Geschlecht am Ende doch die Gerechtigkeit siegen werde. Noah und seine Familie bewahrten ihren Glauben, obwohl sie in einer Stadt wohnten, wie sie verworfener nicht sein konnte. ERZ 256.2
Die Kinder Israel, damals noch ein Haufe verschreckter Sklaven, waren am Roten Meer selbst für die Weltmacht Ägypten unantastbar. David, ein einfacher Hirtenjunge, setzte sich gegen den ränkevollen und gewalttätigen König Saul durch, weil Gott ihn für den Königsthron bestimmt hatte. ERZ 256.3
Die drei Freunde Daniels triumphierten mitten im Feuer durch den Glauben über den König der Weltmacht Babylon. Daniel hielt Gott auch dann noch die Treue, als seine Widersacher ihn in den Löwenzwinger geworfen hatten. Jesus besiegte seine Feinde, indem er am Kreuz für sie betete. Und Paulus wurde in seinem Glauben nicht wankend, als er auf Geheiß Kaiser Neros in Ketten zur Hinrichtung geführt wurde. ERZ 256.4
Und auch über die Berichte der Bibel hinaus lassen sich solche Beispiele finden. Die Waldenser und Hugenotten, Wyklif und Hus, Hieronymus von Prag und Luther, Tyndale und Knox, Zinzendorf und Wesley sowie unzählige andere haben durch ihr Verhalten Zeugnis abgelegt für die Wahrheit des Wortes Gottes. Sie alle waren treue Zeugen in ihrer Zeit, und wir sind dazu berufen, diese Reihe fortzusetzen. ERZ 256.5
Glaube ist in den kleinen Dingen des Lebens nicht weniger wichtig als in den großen. Was immer wir tun, wir brauchen das unerschütterliche Vertrauen in die Kraft Gottes. ERZ 256.6
Menschlich gesehen liegt das Leben vor uns wie ein unbekannter Pfad. Es ist ein Weg, den jeder, soweit es um die letzten, tiefen Erfahrungen geht, für sich allein gehen muß. Unser innerstes Leben kann kein anderer mit uns teilen. Deshalb wollen wir uns ernsthaft bemühen, schon das Vertrauen unserer Kinder auf einen sicheren Führer und Helfer zu richten; denn früher oder später müssen sie ihren eigenen Weg wählen, der über ihr ewiges Geschick entscheidet. ERZ 257.1
Für den Gläubigen gibt es keinen stärkeren Ansporn zur Wahrhaftigkeit und Reinheit als das Wissen um die Gegenwart Gottes. “Gottes Augen bleibt nichts verborgen; vor ihm ist alles sichtbar und offenkundig. Jeder — ohne Ausnahme — muß Gott Rechenschaft geben.”1 Dieser Gedanke war Josefs Schutzwehr inmitten der Verderbtheit Ägyptens. Deshalb lautete seine Antwort auf alle lockenden Versuchungen: “Wie könnte ich ... ein so großes Unrecht tun und gegen Gott sündigen!”2 ERZ 257.2
Das Bewußtsein der Gegenwart Gottes bannt auch die Furcht, die einem schüchternen Kind das Leben zur Last machen kann. Wir haben die Verheißung: “Der Engel des Herrn stellt sich schützend vor alle, die Gott ernst nehmen, und bringt sie in Sicherheit. Probiert es aus und erlebt selbst, wie gut der Herr ist! Glücklich ist, wer bei ihm Zuflucht sucht!”3 Lest mit den Kindern die Geschichte von Elisa, der von Feinden umzingelt wurde und in eine ausweglose Lage geraten war. Doch weil Gott ihm die Augen geöffnet hatte, brauchte er nicht zu verzagen, denn zwischen ihn und die feindlichen Krieger hatten sich Gottes Engel geschoben, um ihn zu beschützen. ERZ 257.3
Es tröstet jeden Gläubigen, wenn er liest, wie dem gefangenen, zum Tode verurteilten Petrus der Engel Gottes erschien und ihn durch die Schar der Bewacher, die gesicherte Zellentür und das schwere eiserne Tor hindurch in Sicherheit brachte. ERZ 257.4
Das alles wurde nicht bloß geschrieben, damit wir es lesen und darüber staunen, sondern damit derselbe Glaube, der in den Menschen von damals lebendig war, auch in uns wirksam werde. Wie in alter Zeit wird er auch heute überall dort spürbar, wo sich gläubige Herzen der von Gott gewirkten Kraft öffnen. ERZ 257.5
Lehrt die Schüchternen, deren Mangel an Selbstvertrauen sie vor Verantwortung zurückschrecken läßt, auf Gott zu bauen. Dann wird manch einer mit dem Apostel Paulus sagen können: “Allem bin ich gewachsen, weil Christus mich stark macht.”1 ERZ 258.1
Auch für das überempfindliche Kind kann der Glaube eine wichtige Hilfe sein. Die Neigung, dem Übel zu widerstehen oder sich gegen das Unrecht aufzulehnen, entspringt häufig einem starken Gerechtigkeitsgefühl und einem regen Geist. Solch einem Kind sage man, daß Gott der beste Hüter des Rechts ist. Er sorgt für seine Kinder, die er so sehr liebt, daß er seinen eigenen Sohn zu ihrer Rettung hingab. Er wird jeden zur Rechenschaft ziehen, der den Seinen Unrecht tut. Es gibt eine Reihe von Texten, die genau in diese Richtung weisen: “Wer euch zu nahe tritt, der tritt mir selbst zu nahe.”2 “Lege dein Schicksal in Gottes Hand; verlaß dich auf ihn, er macht es richtig! Deine Treue zu ihm macht er sichtbar wie ein Licht, und dein Recht läßt er strahlen wie die Mittagssonne.”3 “Der ganzen Welt spricht er gerechtes Urteil, unparteiisch entscheidet er über die Völker. Den Unterdrückten bietet er sicheren Schutz; in schlimmen Zeiten sind sie bei ihm geborgen.”4 ERZ 258.2
Gott gebietet uns, dasselbe Mitleid anderen gegenüber zu bekunden, das er uns entgegenbringt. Wer schnell und unüberlegt handelt, von sich eingenommen oder rachsüchtig ist, der sollte es lernen, auf unseren sanftmütigen und demütigen Herrn zu schauen, der wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt wurde und widerstandslos gleich einem Schaf vor seinem Scherer verstummte. An ihm sollte er sich orientieren, der um unserer Sünde willen durchbohrt wurde und der unsere Schmerzen auf sich lud; dann wird er selber dulden, tragen und vergeben lernen. ERZ 258.3
Durch den Glauben an Christus kann jeder charakterliche Mangel behoben, jeder Fleck getilgt, jeder Fehler beseitigt und jede Tugend entfaltet werden. Denn in Christus “wohnt Gott mit der ganzen Fülle seines Wesens, und nur durch ihn habt ihr Anteil an dieser Fülle.”1 ERZ 259.1
Gebet und Glaube sind eng miteinander verwandt. Deshalb müssen sie auch in ihrer Wechselbeziehung zueinander gesehen werden. Im Gebet des Glaubens liegt eine göttliche Kraft für jeden, der seinen Lebensweg sinnvoll gestalten will. Christus sagt: “Es ist wirklich so: Alles, worum ihr im festen Glauben betet, wird Gott euch geben.”2 ERZ 259.2
Wir dürfen bitten um die Vergebung der Sünden, um den Heiligen Geist, um einen christusähnlichen Charakter und um Weisheit und Stärke zur Mitarbeit in seinem Werk. Wir sollen aber auch glauben, daß wir’s empfangen werden, und Gott danken, wenn wir’s empfangen haben. Wir brauchen nicht nach äußeren Segensbeweisen zu suchen. Die Gabe liegt bereits in der Verheißung. Wir dürfen also in der Gewißheit ans Werk gehen, daß Gott tun wird, was er versprochen hat. ERZ 259.3
So aus dem Worte Gottes zu leben, bedeutet unsere völlige Übergabe an ihn. Als gläubiger Mensch fühlt man sich stets bedürftig und von Gott abhängig; das Herz verlangt nach ihm. Das Gebet ist eine Notwendigkeit, denn es verkörpert ein Stück Leben der Seele. Das Gebet im Familienkreis oder in der Gemeinde ist wichtig und hat seinen Stellenwert, aber das persönliche Gespräch mit Gott ist die eigentliche Nahrung, von der unser innerer Mensch lebt. ERZ 259.4
Während seines Erdenlebens bezog Jesus Weisheit und Kraft aus eben jenem persönlichen Gespräch mit Gott. Wir sollten diesem Beispiel folgen und morgens und abends eine stille Zeit schaffen, in der wir ungestört Zwiesprache mit Gott halten können. Das schließt nicht aus, daß wir uns nicht auch im Laufe des Tages immer wieder in Gedanken Gott zuwenden könnten. Schließlich steht jeder unserer Schritte unter der Verheißung: “Denn ich bin der Herr, dein Gott. Ich nehme dich an deiner rechten Hand und sage: Hab keine Angst! Ich helfe dir.”1 ERZ 259.5
Diese Lehren kann nur der weitergeben, der sie selbst angenommen hat. Weil viele Eltern zwar vorgeben, an das Wort Gottes zu glauben, in ihrem Leben aber seine Kraft verleugnen, springt der Funke des Glaubens nicht auf ihre Kinder über. Glücklich zu preisen die Kinder, die trotz mangelnder Vorbilder etwas von der Kraft des göttlichen Wortes verspüren. Sie erkennen, wie köstlich die Liebe Christi ist. Sie sehen die Schönheit seines Wesens und verspüren den Wunsch, ihr Leben in seinen Dienst zu stellen. Leider bleibt es ihnen nicht erspart, Menschen zu begegnen, die zwar von Gottes Weisungen reden, sie aber nicht beachten. Auch heute trifft vielfach zu, was der Prophet Hesekiel seinen Landsleuten zum Vorwurf machte: “Du Mensch, die Leute aus deinem Volk reden über dich, wenn sie vor ihren Häusern beisammenstehen. Sie sagen zueinander: ‘Wir wollen zum Propheten gehen und hören, was der Herr ihm gesagt hat!’ Und dann kommen sie scharenweise zu dir, sitzen im Kreis um dich und hören, was du sagst; aber sie nehmen es nicht ernst. Sie reden nur von dem, was ihnen am Herzen liegt, nämlich von ihren Geschäften. Wie eingängige Musik klingen ihnen deine Worte, aber sie denken nicht daran, sie ernst zu nehmen.”2 ERZ 260.1
Es genügt nicht, die Bibel als ein Buch voll beachtenswerter, guter moralischer Grundsätze anzusehen. Entscheidend ist, sie als das zu verstehen, was sie in Wirklichkeit ist — als das Wort des lebendigen Gottes, das unser Leben, unsere Taten, Worte und Gedanken formen soll. Gottes Wort für etwas Geringeres als das zu halten heißt: es abzulehnen. Diese Art, die Heilige Schrift zu mißachten, zählt zu den Hauptursachen der Zweifelsucht und des Unglaubens. ERZ 260.2
Viele bringen sich selbst in ihrer Andachtszeit um den Segen inniger Gemeinschaft mit Gott. Sie haben es zu eilig und kommen deshalb nicht zu wirklicher innerer Stille. Raschen Schrittes begeben sie sich in die Gegenwart Christi, verweilen kurze Zeit in dem geheiligten Umkreis, ohne allerdings auf Weisungen des Herrn zu warten. Weil sie sich nicht die Zeit nehmen, ihre Last wirklich bei Jesus abzuladen und dort zu lassen, kehren sie mit all den Belastungen zu ihren täglichen Pflichten zurück. Solche Mitarbeiter Gottes werden solange nicht zum Erfolg gelangen, bis sie das Geheimnis der geistlichen Kraft begreifen. Sie müssen sich Zeit nehmen zum Nachdenken, zum Beten, zum Hören auf Gott, um eine Erneuerung ihrer körperlichen, geistigen und geistlichen Kräfte zu erfahren. Sie brauchen den veredelnden Einfluß des Heiligen Geistes. Wenn sie den empfangen, wird sie neues Leben durchpulsen; der ermattete Körper und der müde Geist werden erfrischt, das belastete Herz wird leicht. ERZ 260.3
Was wir brauchen, ist nicht ein flüchtiger Augenblick in Christi Gegenwart, sondern persönliche Berührung und innige Gemeinschaft mit ihm. Wohl den Kindern und Schülern, die Eltern oder Lehrer haben, die selbst aus dieser engen Beziehung zu Christus heraus leben. ERZ 261.1