Frühe Schriften von Ellen G. White

42/115

Kapitel 21: E. G. Whites Träume1

Mir träumte, ich sähe einen Tempel, dem viele Leute zuströmten. Nur die, die in diesem Tempel ihre Zuflucht suchten, würden am Ende der Zeit errettet werden. Alle, die draußen blieben, waren für ewig verloren. Die Menge draußen, die ihre eigenen Wege ging, verlachte jene, die in den Tempel eintraten, und sagte, daß diese Art der Rettung eine listige Täuschung und daß in Wahrheit keine Gefahr da sei, der man entfliehen müsse. Sie hielten sogar einige an und versuchten, sie daran zu hindern, in den Tempel zu eilen. FS 69.2

Da ich fürchtete, verspottet und verlacht zu werden, hielt ich es für das beste zu warten, bis die Menge sich zerstreut hätte oder bis ich unbeachtet hineingehen könnte. Aber anstatt sich zu vermindern, vergrößerte sich die Schar immer mehr, und da ich fürchtete, zu spät zu kommen, verließ ich eilend mein Heim und drängte mich durch die Menge. Da ich den Tempel unbedingt erreichen wollte, beachtete ich nicht das Gedränge, das mich umgab. Als ich in das Gebäude eintrat, sah ich, daß der riesige Tempel von einem gewaltigen Pfeiler gestützt wurde, an dem ein verwundetes und blutendes Lamm angebunden war. FS 69.3

Wir, die wir anwesend waren, schienen zu wissen, daß das Lamm um unsertwillen verwundet und zerschlagen war. Alle, die den Tempel betraten, mußten vor das Lamm kommen und ihre Sünden bekennen. FS 70.1

Gerade vor dem Lamm befanden sich erhöhte Sitze, auf denen eine Anzahl Leute saßen, die sehr glücklich aussahen. Das Licht des Himmels schien auf ihren Angesichtern zu ruhen; sie priesen Gott und sangen Lob- und Danklieder, die wie die Musik der Engel klangen. Dies waren jene, die vor das Lamm gekommen, ihre Sünden bekannt und Vergebung erlangt hatten und nun froh irgend ein freudiges Ereignis erwarteten. FS 70.2

Nachdem ich das Gebäude betreten hatte, kam Furcht und ein Gefühl der Scham über mich, weil ich mich vor diesen Leuten demütigen sollte. Aber es schien mich etwas vorwärts zu drängen, und ich ging langsam um den Pfeiler herum, um zu dem Lamm zu gelangen. Da ertönte eine Posaune, der Tempel erbebte, es erhob sich ein Triumphgeschrei der versammelten Heiligen, und ein blendender Glanz erleuchtete das Gebäude; dann herrschte tiefe Finsternis. Die glücklichen Leute waren alle mit dem Licht verschwunden, und ich war allein im lautlosen Schrecken der Nacht. FS 70.3

Ich erwachte in Seelenangst und konnte mich kaum davon überzeugen, daß ich nur geträumt hatte. Es schien mir, als ob meine Verdammnis sicher sei und der Geist des Herrn mich verlassen habe, um nie mehr zurückzukehren. Meine Mutlosigkeit nahm angesichts dieser Möglichkeit noch zu. FS 70.4

Bald danach hatte ich einen anderen Traum. Ich schien in tiefster Verzweiflung dazusitzen und, das Gesicht mit den Händen bedeckt, folgende Betrachtungen anzustellen: Wenn Jesus auf Erden wäre, würde ich zu ihm gehen, mich ihm zu Füßen werfen und ihm all meine Leiden erzählen. Er würde sich nicht von mir abwenden, er würde Erbarmen mit mir haben, und ich würde ihn lieben und ihm immer dienen. Da öffnete sich die Tür, und eine Person, herrlich von Gestalt und Aussehen, trat ein. Sie blickte mich mitleidig an und sagte: “Möchtest du Jesus gerne sehen? Er ist hier, und wenn du willst, kannst du ihn sehen. Nimm alles, was du hast, und folge mir!” FS 70.5

Ich hörte dies mit unaussprechlicher Freude, raffte froh meine kleine Habe, den ganzen Kram, der einem lieb und wert ist, zusammen und folgte meinem Führer. Er geleitete mich zu einer steilen und offenbar schwachen Treppe. Als ich anfing, die Stufen hinaufzugehen, ermahnte er mich, meine Augen aufwärts gerichtet zu halten, damit ich nicht schwindlig würde und falle. Viele andere, die die Stufen hinaufstiegen, fielen, ehe sie oben angekommen waren. FS 71.1

Endlich erreichten wir die letzte Stufe und standen vor einer Tür. Mein Führer wies mich an, hier alle Sachen zurückzulassen, die ich mitgebracht hatte. Ich legte sie mit Freuden nieder; dann öffnete er die Tür und hieß mich eintreten. Im nächsten Augenblick stand ich vor Jesus. Welch schönes Antlitz! Hier war kein Mißverständnis möglich; ein solch strahlender Ausdruck von Wohlwollen und Hoheit konnte keinem anderen gehören. Als sein Blick auf mir ruhte, wußte ich sofort, daß ihm alle Umstände meines Lebens, alle meine inneren Gedanken und Gefühle bekannt seien. FS 71.2

Ich versuchte, mich vor seinem Blick zu schützen, da ich nicht imstande war, seine forschenden Augen zu ertragen. Er aber kam lächelnd näher, legte seine Hand auf mein Haupt und sagte: “Fürchte dich nicht!” Der Ton seiner lieblichen Stimme durchdrang mein Herz mit einer Glückseligkeit, die ich vorher noch nie empfunden hatte. Ich war zu glücklich, um ein Wort äußern zu können. Von unbeschreiblicher Seligkeit überwältigt, sank ich zu seinen Füßen nieder. Während ich hilflos dalag, zogen schöne und herrliche Szenen an mir vorüber. Ich schien die Sicherheit und den Frieden des Himmels erreicht zu haben. Endlich kehrte meine Kraft wieder zurück, und ich erhob mich. Die liebevollen Augen Jesu ruhten noch auf mir, und sein Lächeln erquickte meine Seele. Seine Gegenwart erfüllte mich mit heiliger Ehrfurcht und unaussprechlicher Liebe. FS 71.3

Mein Führer öffnete nun die Tür, und wir gingen beide hinaus. Dann gebot er mir, alle die Dinge wieder aufzunehmen, die ich draußen gelassen hatte. Als ich dies getan hatte, gab er mir ein grünes, fest aufgewickeltes Knäuel. Er wies mich an, dies an mein Herz zu legen, und wenn ich wünschte, Jesus zu sehen, sollte ich es herausnehmen und soviel als möglich aufrollen. Er warnte mich, es nicht lange aufgewickelt zu lassen, damit es sich nicht verknote und schwer aufzurollen sei. Ich legte das Knäuelchen an mein Herz und stieg freudig die Treppe hinab, lobte den Herrn und erzählte allen, denen ich begegnete, wo sie Jesus finden könnten. Dieser Traum gab mir Hoffnung. Das grüne Knäuelchen stellte für mich den Glauben dar, und in der Dunkelheit meiner Seele begann es zu tagen: Wie schön und einfach war es, Jesus zu vertrauen! FS 72.1