Christi Gleichnisse
Das verlorene Schaf
Christus erinnerte diesmal seine Zuhörer nicht an die Worte der Schrift. Er berief sich auf das Zeugnis ihrer eigenen Erfahrung. Das sich weithin ausdehnende Tafelland östlich vom Jordan bot reichliche Weide für die Herden dar und manches von der Herde entlaufene Schaf hatte sich in den Schluchten und auf den bewaldeten Hügeln verirrt und mußte dann vom Hirten gesucht und zurückgebracht werden. Unter der Schar, die Jesum umgab, waren Hirten und auch Männer, die ihr Geld in Schaf- und Viehherden angelegt hatten, und sie alle konnten das von ihm benutzte Bild gut verstehen. “Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat, und so er der eines verlieret, der nicht lasse die neunundneunzig in der Wüste und hingehe nach dem verlornen, bis daß er’s finde?” CGl 184.3
Diese Seelen, die ihr verachtet, sagte Jesus, sind das Eigentum Gottes. Sie gehören ihm durch die Schöpfung und durch die Erlösung und sind in seinen Augen von großem Wert. Wie der Hirte seine Schafe liebt und nicht ruhen kann, wenn ihm auch nur eines fehlt, so liebt Gott, in einem noch viel höheren Grade, eine jede verlorene Seele. Menschen mögen die Ansprüche seiner Liebe in Abrede stellen, mögen ihn verlassen und einen anderen Herrn gewählt haben; aber sie gehören dennoch Gott, und er sehnt sich darnach, sein Eigentum wiederzuerlangen. Er sagt: “Wie ein Hirte seine Schafe suchet, wenn sie von seiner Herde verirret sind, also will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Örtern, dahin sie zerstreut waren zur Zeit, da es trüb und finster war.” Hesekiel 34,12. CGl 185.1
Im Gleichnis geht der Hirte aus, um nach einem Schaf zu suchen — die geringste Anzahl, die überhaupt in Betracht kommen kann. Wenn es also nur eine verlorene Seele gegeben hätte, so würde Christus für diese eine Seele gestorben sein. CGl 185.2
Das von der Herde verirrte Schaf ist das hilfloseste aller Geschöpfe. Es muß von dem Hirten gesucht werden, denn es kann seinen Weg nicht allein zur Herde zurück finden. So ist es auch mit der Seele, die von Gott fortgegangen ist; sie ist so hilflos wie das verlorene Schaf, und wenn die göttliche Liebe ihr nicht nachginge, um sie zu retten, so könnte sie niemals ihren Weg zu Gott wieder finden. CGl 185.3
Der Hirte, wenn er bemerkt, daß eins seiner Schafe fehlt, blickt nicht gleichgültig auf die Herde, die sicher in der Hürde ist und sagt: Ich habe neunundneunzig und es macht mir zu viel Mühe, das eine verirrte Schaf zu suchen. Wenn es zurückkommt, werde ich die Tür der Schafhürde öffnen und es hereinlassen. Nein, sobald er entdeckt, daß ein Schaf fehlt, erfüllt ihn Kummer und Besorgnis. Er zählt die Herde, zählt sie abermals, und wenn er sicher ist, daß wirklich ein Schaf verloren ist, dann ruht er nicht. Er läßt die neunundneunzig in der Hürde und geht hinaus, um das verirrte Schaf zu suchen. Je dunkler und stürmischer die Nacht und je gefährlicher der Weg ist, desto größer ist seine Besorgnis und desto ernstlicher sucht er. Er macht die äußersten Anstrengungen, um das eine verlorne Schaf zu finden. CGl 185.4
Welche Erleichterung gewährt es ihm, wenn er in der Ferne die ersten schwachen Hilferufe desselben vernimmt! Dem Klange folgend erklettert er die steilsten Höhen, geht unter Gefahr seines eigenen Lebens bis an den Rand des Abgrunds. In dieser Weise sucht er, während das immer schwächer werdende Blöken ihm sagt, daß sein Schaf dem Tode nahe ist. Endlich werden seine Bemühungen belohnt; das verlorene Schaf ist gefunden. Nun schilt er dasselbe nicht, weil es ihm so viel Mühe verursacht hat, er treibt es nicht mit der Peitsche vor sich her, er versucht nicht einmal, es nach Hause zu leiten. In seiner Freude nimmt er das zitternde Geschöpf auf seine Schultern; wenn es zerschlagen und verwundet ist, nimmt er es in seine Arme und drückt es an seine Brust, damit die Wärme seines eigenen Herzens ihm wohltun möchte. Mit innigem Dank, daß sein Suchen nicht vergeblich gewesen ist, trägt er es zur Herde zurück. CGl 186.1
Gott sei Dank, daß Jesus unseren Augen kein Bild vorführte von einem ohne das Schaf zurückkehrenden, kummererfüllten Hirten. Das Gleichnis spricht nicht von einem Mißlingen, sondern von Erfolg und großer Freude über die Wiedererlangung des Verlorenen. Darin liegt für uns die göttliche Versicherung, daß nicht eins der verirrten Schafe aus der Hürde Gottes übersehen, nicht eins ohne Hilfe gelassen wird. Einen jeden, der sich erlösen lassen will aus dem Abgrund der Verderbnis und von den Dornen der Sünde, wird Christus erretten. CGl 186.2
Verzweifelnde Seele, fasse Mut, obgleich du gottlos gehandelt hast. Denke nicht, daß Gott deine Übertretungen vielleicht vergeben und dir erlauben wird, in seine Gegenwart zu kommen. Gott hat den ersten Schritt getan. Während du in Empörung gegen ihn warst, ging er hinaus, um dich zu suchen. Mit dem liebenden Herzen des Hirten ließ er die neunundneunzig und ging in die Wüste, um zu suchen, was verloren war. Er umfaßt die zerschlagene und verwundete, dem Umkommen nahe Seele mit seinen Liebesarmen und trägt sie mit Freuden in die sichere Hürde. CGl 186.3
Die Juden lehrten, daß ein Sünder erst Buße tun müsse, ehe ihm die Liebe Gottes angeboten werde. Nach ihrer Ansicht war die Buße ein Werk, durch welches die Menschen sich die Gunst Gottes verdienten. Dieser Gedanke war es auch, der die Pharisäer veranlaßte, erstaunt und ärgerlich auszurufen: “Dieser nimmt die Sünder an!” Nach ihren Ansichten sollte er nur denen erlauben, sich ihm zu nahen, die Buße getan hatten. Aber im Gleichnis vom verlornen Schaf lehrt Christus, daß das Heil nicht dadurch erlangt wird, daß wir Gott suchen, sondern dadurch, daß Gott uns sucht. “Da ist nicht, der verständig sei; da ist nicht, der nach Gott frage; sie sind alle abgewichen.” Römer 3,11.12. Wir tun nicht Buße, damit Gott uns lieben möge, sondern er offenbart uns seine Liebe, damit wir Buße tun möchten. CGl 187.1
Wenn das verirrte Schaf endlich heimgebracht ist, dann findet des Hirten Dankbarkeit Ausdruck in melodischen Freudengesängen. Er ruft seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: “Freuet euch mit mir, denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.” So vereinigen sich auch, wenn ein verlorner Sünder vom großen Hirten der Schafe gefunden wird, Himmel und Erde in Danksagungen und Freudenbezeugungen. CGl 187.2
“Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen.” Ihr Pharisäer, sagte Christus, betrachtet euch als Günstlinge des Himmels. Ihr glaubt euch sicher in eurer eigenen Gerechtigkeit. Wisset aber, daß, wenn ihr der Buße nicht bedürft, meine Mission nicht für euch ist. Diese armen Seelen, die ihre Armut und Sündhaftigkeit fühlen, sind gerade die, zu deren Rettung ich gekommen bin. Die Engel des Himmels nehmen Anteil an den Verlornen, die ihr verachtet. Ihr murrt und spöttelt, wenn eine dieser Seelen zu mir kommt, wisset aber, daß die Engel sich freuen und daß in den Himmelshallen dort droben Triumphlieder erschallen. CGl 187.3
Die Rabbiner hatten die Behauptung aufgestellt, daß Freude im Himmel sei, wenn jemand, der gegen Gott gesündigt hat, vernichtet werde; Jesus aber lehrte, daß das Zerstören ein unserem Gott fremdes Werk ist. Worüber der ganze Himmel sich freut, ist, wenn das Ebenbild Gottes in den von ihm geschaffenen Seelen wieder hergestellt wird. CGl 187.4
Wenn jemand, der lange Zeit ein Sündenleben geführt hat, sich wieder zu Gott wenden will, dann ist er dem Mißtrauen und Kritisieren ausgesetzt. Einige bezweifeln, daß seine Buße echt ist. Andere flüstern sich zu: Der hat keine Standhaftigkeit; ich glaube nicht, daß er aushalten wird. Solche Personen tun nicht das Werk Gottes, sondern das Werk Satans, welcher der Verkläger der Brüder ist. Durch das Kritisieren hofft der Böse, jene Seele zu entmutigen, ihr alle Hoffnung zu nehmen und sie noch weiter von Gott fortzutreiben. Möchte der bußfertige Sünder doch an die Freude denken, die im Himmel ist über die Rückkehr des einen, der verloren war! Möchte er doch ruhen in der Liebe Gottes und sich nicht entmutigen lassen durch das Mißtrauen und den Argwohn der Pharisäer. CGl 188.1
Die Rabbiner begriffen es, daß das Gleichnis Christi auf die Zöllner und Sünder Anwendung fand, aber es hatte noch eine weitere Bedeutung. Durch das verlorene Schaf stellte Christus nicht nur den einzelnen Sünder dar, sondern auch die eine Welt, die abgefallen und durch die Sünde verdorben worden ist. Diese Welt ist nur ein winziges Teilchen des großen Weltalls, über welches unser Gott herrscht; dennoch ist diese gefallene kleine Welt — das eine verlorene Schaf — in seinen Augen köstlicher geachtet, als die neunundneunzig, die sich nicht von der Hürde verirrt haben. Christus, der geliebte Befehlshaber in den himmlischen Höfen, stieg von seiner hohen Stellung herunter, legte die Herrlichkeit, die er bei dem Vater hatte, beiseite, um die eine verlorene Welt zu retten. Er verließ die sündenlosen Welten in der Höhe, die neunundneunzig, die ihn liebten, und kam auf diese Erde, um hier “um unserer Missetat willen verwundet, und um unserer Sünde willen zerschlagen” (Jesaja 53,5) zu werden. Gott gab sich selbst in seinem Sohne, damit er die Freude haben möchte, das Schaf, welches verloren war, zurück zu erhalten. CGl 188.2
“Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, daß wir Gottes Kinder sollen heißen.” Und Christus sagt: “Gleichwie du mich gesandt hast in die Welt, so sende ich sie auch in die Welt” — um zu erstatten, “was noch mangelt an Trübsalen in Christo, für seinen Leib, welcher ist die Gemeinde.” 1.Johannes 1,3. Eine jede Seele, die Christus gerettet hat, ist berufen, in seinem Namen zur Rettung der Verlorenen zu wirken. Dies Werk war in Israel vernachlässigt worden. Wird es nicht auch heute vernachlässigt von denen, die da bekennen, Christi Nachfolger zu sein? CGl 189.1
Wie viele der Verirrten hast du, lieber Leser, gesucht und zur Hürde zurückgebracht? Erkennst du, daß du, wenn du dich von solchen abwendest, die nichts Anziehendes haben und nicht viel zu versprechen scheinen, Seelen vernachlässigst, nach welchen Christus sucht? Gerade dann, wenn du dich von ihnen abwendest, mögen sie deines Mitleids am allerbedürftigsten sein. In jeder gottesdienstlichen Versammlung sind Seelen, die nach Ruhe und Frieden verlangen. Es mag den Anschein haben, als ob sie unbekümmert dahinleben, aber sie sind abgestumpft gegen den Einfluß des Heiligen Geistes. Viele von ihnen könnten für Christum gewonnen werden. CGl 189.2
Wenn das verlorene Schaf nicht zur Hürde zurückgebracht wird, so irrt es umher, bis es umkommt. So gehen auch viele Seelen ins Verderben, weil sich ihnen keine Hand entgegenstreckt, um sie zu retten. Diese Irrenden mögen verhärtet und gleichgültig zu sein scheinen, wenn sie aber dieselben Vorteile genossen hätten, die andere gehabt haben, so hätten sie vielleicht viel edlere Charakterzüge und größere Gaben zum Nützlichsein offenbart. Engel bemitleiden diese Irrenden. Engel weinen, während menschliche Augen trocken sind und menschliche Herzen sich dem Mitleid verschließen. CGl 189.3
O, welch ein Mangel an tiefem, die Seele berührendem Mitleid ist da! O, daß mehr vom Geiste Christi und weniger, viel weniger vom eigenen Ich da wäre! CGl 189.4
Die Pharisäer faßten das Gleichnis Christi als eine auf sie gemünzte Strafpredigt auf. Anstatt ihre Kritik über sein Tun und Treiben anzunehmen, hatte er ihre Vernachlässigung der Zöllner und Sünder getadelt. Er hatte dies nicht öffentlich getan, damit ihre Herzen gegen ihn nicht verschlossen würden, aber er veranschaulichte ihnen gerade dadurch das Werk, welches Gott von ihnen forderte und welches sie zu tun unterlassen hatten. Wären diese Leiter in Israel wahre Hirten gewesen, dann hätten sie das Amt eines Hirten treu verrichtet. Sie hätten die Barmherzigkeit und Liebe Christi bekundet und sich mit ihm in seiner Mission vereinigt. Ihre Weigerung, dies zu tun, hatte ihre Ansprüche auf Frömmigkeit als falsch erwiesen. Viele verwarfen den von Christo ausgesprochenen Tadel, doch einige wurden durch seine Worte überzeugt. Auf diese kam nach der Himmelfahrt Christi der Heilige Geist, und sie verbanden sich mit seinen Jüngern gerade in dem Werke, welches durch das Gleichnis vom verlorenen Schaf vorgeführt wurde. CGl 189.5