Christi Gleichnisse

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Kapitel 15: “Dieser nimmt die Sünder an”

Auf der Grundlage von Lukas 15,1-10.

Als die “Zöllner und Sünder” sich um Christum versammelten, drückten die Rabbiner ihr Mißfallen aus. “Dieser nimmt die Sünder an”, sagten sie, “und isset mit ihnen.” CGl 183.1

Durch diese Beschuldigung deuteten sie an, daß Christus gern mit den Sündhaften und Gemeinen verkehre und ihre Gottlosigkeit ihm kein Anstoß sei. Die Rabbiner waren enttäuscht. Wie kam es, daß jemand, der einen so hohen Charakter bekundete, nicht mit ihnen verkehrte und ihre Lehrmethoden nicht befolgte? Warum ging er so anspruchslos umher und wirkte unter allen Klassen? Wenn er ein wahrer Prophet wäre, sagten sie, so würde er im Einklang mit ihnen sein und die Zöllner und Sünder mit Gleichgültigkeit behandeln, wie sie es verdienten. Es ärgerte diese Hüter der menschlichen Gesellschaft, daß er, mit dem sie beständig Streitfragen hatten, dessen lauterer Lebenswandel sie aber verdammte, mit dem Auswurf der Menschheit anscheinend so teilnehmend verkehrte. Sie billigten seine Methoden durchaus nicht. Sie hielten sich für gebildet, feinfühlend und außerordentlich religiös, aber das Beispiel Christi legte ihre Selbstsucht bloß. CGl 183.2

Es ärgerte sie auch, daß die, welche den Rabbinern nur Verachtung bezeigten und nie in den Synagogen gesehen wurden, sich um Jesum scharten und seinen Worten mit solcher Aufmerksamkeit lauschten. Die Schriftgelehrten und Pharisäer fühlten sich in der Gegenwart dieses Reinen und Edlen verdammt; wie kam es denn aber, daß die Zöllner und Sünder sich zu Jesu hingezogen fühlten? CGl 183.3

Sie wußten es nicht, daß die Erklärung gerade in den Worten lag, die sie als Beschuldigung ausgesprochen hatten: “Dieser nimmt die Sünder an.” Die Seelen, die zu Jesu kamen, empfanden in seiner Gegenwart, daß es selbst für sie noch Rettung aus dem Abgrund der Sünde gebe. Die Pharisäer hatten nur Hohn und Verachtung für sie; Christus aber begrüßte sie als Kinder Gottes, die zwar dem Vaterhause entfremdet, aber vom Vaterherzen nicht vergessen worden waren, desto ernster war sein Verlangen und desto größer seine Opferwilligkeit, sie zu retten. CGl 184.1

Dies alles hätten die Lehrer Israels aus den heiligen Schriftenrollen lernen können, deren Bewahrer und Ausleger zu sein sie sich rühmten. Hatte nicht David — David, der doch in eine Todsünde gefallen war — geschrieben: “Ich bin wie ein verirret und verloren Schaf; suche deinen Knecht”? Psalm 119,176. Und hatte nicht Micha die Liebe Gottes für den Sünder offenbart, indem er sagte: “Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässet die Missetat den Übrigen seines Erbteils; der seinen Zorn nicht ewiglich behält, denn er ist barmherzig”? Micha 7,18. CGl 184.2