Christi Gleichnisse
Der verlorene Groschen
Nachdem Christus das Gleichnis vom verlorenen Schaf gegeben hatte, gab er noch ein anderes. Er sagte: “Welch Weib ist, die zehn Groschen hat, so sie der einen verliert, die nicht ein Licht anzünde, und kehre das Haus, und suche mit Fleiß, bis daß sie ihn finde?” CGl 190.1
Im Orient hatten die Häuser der Armen gewöhnlich nur ein Zimmer und dieses war oft ohne Fenster und daher dunkel. Das Zimmer wurde nur selten gekehrt, und ein auf den Boden fallendes Geldstück wurde leicht durch den Staub und Unrat verdeckt. Um es zu finden, mußte selbst zur Tageszeit ein Licht angezündet und das Haus gründlich gekehrt werden. CGl 190.2
Das Heiratsgut der Frau bestand gewöhnlich aus Geldstücken, die sie sorgfältig als ihren größten Schatz bewahrte, um ihn ihren Töchtern zu vererben. Der Verlust eines dieser Geldstücke wurde als ein ernstliches Unglück betrachtet, und das Wiederfinden desselben war die Ursache großer Freude, an welcher die Nachbarsfrauen sich gern beteiligten. CGl 190.3
“Und wenn sie ihn gefunden hat,” sagte Christus, “rufet sie ihren Freundinnen und Nachbarinnen, und spricht: Freuet euch mit mir, denn ich habe meinen Groschen gefunden, den ich verloren hatte. Also auch, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.” CGl 190.4
Dieses Gleichnis gleich dem vorhergehenden, beschreibt den Verlust von etwas, das durch fleißiges Suchen wieder erlangt werden kann und dann große Freude verursacht. Aber die zwei Gleichnisse stellen zwei verschiedene Klassen dar. Das verlorene Schaf weiß, daß es verloren ist. Es hat die Herde verlassen und kann sich nicht selber retten. Es stellt diejenigen dar, welche erkennen, daß sie von Gott getrennt und von Schwierigkeiten, Demütigungen und schweren Versuchungen umgeben sind. Der verlorene Groschen dagegen stellt solche dar, die in Missetaten und Sünden tot und sich ihres Zustandes nicht bewußt sind. Sie sind von Gott entfremdet, aber sie wissen es nicht. Ihre Seelen sind in Gefahr, aber sie sind sich dessen nicht bewußt und daher ganz unbekümmert. In diesem Gleichnis lehrt Christus, daß Gott selbst solche, die sich gleichgültig gegen seine Ansprüche verhalten, bemitleidet und liebt. Man sollte sie aufsuchen, damit sie zu Gott zurückgebracht werden könnten. CGl 191.1
Das Schaf lief von der Hürde fort, es verirrte sich in der Wüste oder auf den Bergen. Der Groschen ging im Hause verloren. Er war ganz in der Nähe, konnte aber dennoch nur durch fleißiges Suchen gefunden werden. CGl 191.2
In dem Gleichnis liegt eine Lehre für Familien. Oft herrscht in einem Haushalt große Gleichgültigkeit mit Bezug auf das Seelenheil der verschiedenen Familienglieder. Es mag unter ihrer Zahl eins sein, das Gott entfremdet ist, und doch wie wenig Besorgnis wird in der Familie gehegt, damit nicht eins der ihr von Gott Anvertrauten verloren gehe. CGl 192.1
Der Groschen, selbst wenn er unter Staub und Unrat liegt, ist immer noch ein Stück Silber. Sein Eigentümer sucht ihn seines Wertes wegen. So ist auch eine jede Seele, gleichviel wie entartet sie durch die Sünde auch sein mag, in den Augen Gottes köstlich erachtet. Wie der Groschen das Bild und die Inschrift der regierenden Macht trägt, so trug der Mensch, als er geschaffen wurde, das Bild und die Inschrift Gottes; und obgleich die Seele jetzt durch den Einfluß der Sünde entstellt und unkenntlich geworden ist, sind dennoch die Spuren dieser Inschrift bei jeder einzelnen vorhanden. Gott wünscht diese Seele zu erretten und ihr sein eigenes Ebenbild in Gerechtigkeit und Heiligkeit neu aufzuprägen. CGl 192.2
Das Weib im Gleichnis sucht fleißig nach dem verlorenen Groschen. Sie zündet das Licht an und kehrt das Haus. Sie entfernt alles, was ihr beim Suchen hinderlich ist. Obgleich nur ein Groschen verloren ist, will sie doch ihre Anstrengungen nicht aufgeben, bis sie denselben gefunden hat. So sollen auch in der Familie, wenn ein Glied sich von Gott abgewandt hat, alle nur möglichen Mittel angewandt werden, um es wieder zurückzubringen. Alle anderen sollten eine ernste, sorgfältige Selbstprüfung vornehmen, ihre Lebensgewohnheiten untersuchen, und forschen, ob nicht irgend ein Fehler, ein Irrtum in denselben begangen ist, wodurch jene Seele in ihrer Unbußfertigkeit gestärkt wurde. CGl 192.3
Wenn in der Familie ein Kind ist, welches sich seines sündigen Zustandes nicht bewußt ist, so sollten die Eltern nicht ruhen. Zündet das Licht an! Durchforscht das Wort Gottes und laßt im Lichte desselbigen alles, was im Hause ist, aufs fleißigste durchsucht werden, um zu sehen, warum dies Kind verloren geht. Eltern sollten ihre eigenen Herzen erforschen und ihre Gewohnheiten und Gebräuche einer genauen Prüfung unterziehen. Kinder sind das Erbteil des Herrn, und wir müssen ihm Rechenschaft darüber ablegen, wie wir sein Eigentum verwalten. CGl 193.1
Es gibt Väter und Mütter, die darnach verlangen, in irgend einem auswärtigen Missionsfelde zu wirken; es gibt viele die außerhalb der Familie in christlichen Werken tätig sind, während ihre eigenen Kinder den Heiland und seine Liebe nicht kennen. Viele Eltern überlassen es dem Prediger oder Sabbatschullehrer, ihre Kinder für Christum zu gewinnen; aber indem sie das tun, vernachlässigen sie das ihnen von Gott auferlegte Amt. Die Erziehung und Heranbildung der Kinder zu Christen ist der höchste Dienst, den Eltern Gott leisten können. Es ist eine Aufgabe, welche geduldiges Wirken und lebenslängliches, fleißiges und andauerndes Streben erfordert. Durch Vernachlässigung dieser uns anvertrauten Aufgabe erweisen wir uns als ungetreue Haushalter, und Gott wird keine Entschuldigung für solche Vernachlässigung annehmen. CGl 193.2
Doch brauchen die, welche sich eine Vernachlässigung dieser Art haben zu schulden kommen lassen, nicht zu verzweifeln. Das Weib, dessen Groschen verloren war, suchte bis es ihn fand. So sollen auch die Eltern in Liebe, Glauben und Gebet für ihre Familien wirken, bis sie mit Freuden vor Gott kommen und sagen können: “Siehe, hier bin ich und die Kinder, die mir der Herr gegeben hat.” Jesaja 8,18. CGl 193.3
Dies ist wahre Missionsarbeit im Familienkreise, und sie nützt denen, die sie tun, gerade soviel, als denen, für die sie geschieht. Durch treues Wirken im Familienkreise werden wir geschickt, für die Glieder der Familie Gottes zu wirken, mit denen wir, wenn wir Christo treu bleiben, die ganze Ewigkeit hindurch zusammen leben werden. Wir sollen für unsere Brüder und Schwestern in Christo dieselbe Teilnahme zeigen, wie wir als Glieder einer Familie für einander haben. CGl 193.4
Es ist der Plan Gottes, daß dies alles uns geschickt machen soll, für andere zu wirken. Indem unser Mitgefühl für andere wächst und unsere Liebe zunimmt, werden wir überall ein Werk zu tun finden. Gottes große menschliche Familie umfaßt die ganze Welt und keins ihrer Glieder soll vernachlässigt oder übergangen werden. CGl 194.1
Wo wir auch sein mögen, überall wartet der verlorene Groschen unseres Suchens. Suchen wir nach ihm? Tag für Tag treffen wir mit Menschen zusammen, die keinen Anteil an religiösen Dingen nehmen; wir sprechen mit ihnen, wir besuchen sie, zeigen wir aber ein Interesse an ihrem geistlichen Wohlergehen? Führen wir ihnen Christum als einen sündenvergebenden Heiland vor Augen? Erzählen wir ihnen von der Liebe Christi, indem unsere eigenen Herzen von dieser Liebe brennen? Wenn wir das nicht tun, wie sollen wir dann diesen Seelen — verloren, auf ewig verloren — entgegentreten, wenn wir mit ihnen vor dem Throne Gottes stehen? CGl 194.2
Wer kann den Wert einer Seele schätzen? Wenn du den Wert derselben erkennen willst, dann gehe nach Gethsemane und wache dort mit Christo in jenen Stunden des bitteren Seelenkampfes, da sein Schweiß wie große Blutstropfen floß. Blicke auf den am Kreuze erhöhten Heiland. Höre den Ruf der Verzweiflung: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” Markus 15,34. Blicke auf das verwundete Haupt, die durchstochene Seite, die durchbohrten Füße. Bedenke, daß Christus alles daran setzte! Um unserer Erlösung willen wurde selbst der Himmel gefährdet. Wenn du am Fuße des Kreuzes bedenkst, daß Christus für nur einen Sünder sein Leben dahingegeben haben würde, dann kannst du den Wert einer Seele schätzen. CGl 194.3
Wenn du mit Christo in Verbindung stehst, wirst du ein jedes menschliche Wesen so schätzen, wie er es schätzt. Du wirst dieselbe tiefe Liebe für andere empfinden, die Christus für dich fühlte. Dann wirst du imstande sein, Seelen, für die er starb, zu gewinnen und nicht zu vertreiben, sie anzuziehen und nicht abzustoßen. Niemand wäre jemals zu Gott zurückgebracht worden, wenn Christus sich nicht persönlich um ihn bemüht hätte, und es ist wiederum durch persönliche Arbeit, daß wir Seelen retten können. Wenn du Menschen siehst, die dem Tode entgegengehen, wirst du nicht in Ruhe und Gleichgültigkeit müßig zusehen. Je größer ihre Sünde und je tiefer ihr Elend, desto ernster und liebevoller werden deine Bemühungen zu ihrer Rettung sein. Du wirst die Bedürfnisse derer, die da leiden, die gegen Gott gesündigt haben und von dem Gewicht ihrer Sündenschuld niedergedrückt sind, erkennen. Du wirst herzliches Mitleid mit ihnen haben und wirst ihnen eine hilfreiche Hand entgegenstrecken. In den Armen deines Glaubens und deiner Liebe wirst du sie zu Christo bringen; dann wirst du über sie wachen und sie ermutigen und dein Mitgefühl und Vertrauen werden sie stärken, daß sie nicht wieder zurückfallen. CGl 194.4
Alle Engel im Himmel stehen bereit, in dieser Arbeit mitzuwirken. Alle Hilfsquellen des Himmels stehen denen zu Gebote, welche die Verlorenen zu retten versuchen. Engel werden uns helfen, die Gleichgültigsten und Verhärtetsten zu erreichen und wenn eine Seele zu Gott zurückgebracht wird, dann freut sich der ganze Himmel. Seraphim und Cherubim greifen in ihre goldenen Harfen und bringen Gott und dem Lamme Loblieder dar für ihre, den Menschenkindern erwiesene Liebe und Gnade. CGl 195.1
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