Das Wirken der Apostel

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Kapitel 19: Jude und Nichtjude

Auf der Grundlage von Apostelgeschichte 15,1-35.

Als Paulus und Barnabas wieder Antiochien in Syrien erreichten, von wo sie zu ihrer Missionsreise ausgesandt worden waren, nutzten sie die erste beste Gelegenheit, die Gläubigen zusammenzurufen und ihnen zu verkündigen, “wieviel Gott, der mit ihnen war, getan hatte und daß er den Heiden hatte die Tür des Glaubens aufgetan”. Apostelgeschichte 14,27. Antiochien hatte eine große, wachsende Gemeinde. Als Mittelpunkt des missionarischen Dienstes bildete sie eine der bedeutendsten Gruppen christlicher Gläubiger. Ihre Glieder kamen aus den verschiedensten Bevölkerungsschichten; darunter waren Juden wie auch Nichtjuden. WA 187.1

Während sich die Apostel gemeinsam mit den Ältesten und Gemeindegliedern zu Antiochien ernstlich darum mühten, Menschen für Christus zu gewinnen, gelang es gewissen jüdischen Gläubigen aus Judäa, die früher der Sekte der Pharisäer angehört hatten, eine Frage aufzuwerfen, die bald zu ausgedehnten Streitigkeiten in der Gemeinde führte und Bestürzung unter den gläubigen Nichtjuden hervorrief. Mit großer Bestimmtheit behaupteten diese judaistischen Lehrer, daß es notwendig sei, sich beschneiden zu lassen und das ganze Zeremonialgesetz zu halten, wenn man selig werden wolle. WA 187.2

Entschieden traten Paulus und Barnabas dieser falschen Lehre entgegen und wollten verhindern, daß diese Angelegenheit vor die Nichtjuden gebracht werde. Andererseits traten aber auch viele gläubig gewordene Juden in Antiochien für den Standpunkt der kürzlich von Judäa gekommenen Brüder ein. WA 187.3

Die Gläubigen aus den Juden waren im allgemeinen nicht geneigt, so schnell voranzugehen, wie Gottes Vorsehung den Weg bereitete. In Anbetracht des erfolgreichen Wirkens der Apostel unter den Heiden war es klar vorauszusehen, daß es bald mehr bekehrte Nichtjuden als jüdische Bekehrte geben werde. Die Juden fürchteten nämlich, daß ihre nationalen Besonderheiten, durch die sie sich bisher von allen anderen Völkern unterschieden hatten, völlig verschwinden würden, wenn die Einschränkungen und Kultvorschriften ihres Gesetzes den Heiden nicht als Vorbedingung für die Aufnahme in die christliche Gemeinde auferlegt würden. WA 188.1

Die Juden hatten sich stets der Gottesdienste gerühmt, die Gott ihnen verordnet hatte. Viele von denen, die sich zum Glauben an Christus bekehrt hatten, hielten es für unwahrscheinlich, daß Gott, der einst die hebräische Ordnung des Gottesdienstes bestimmt hatte, jemals auch nur die geringste Abänderung billigen könnte. Sie bestanden darauf, daß die jüdischen Gesetze und Zeremonien in die Gebräuche der christlichen Religion übernommen würden. Nur langsam erkannten sie, daß alle Sühnopfer auf den Tod des Sohnes Gottes hingewiesen und daß in ihm alle Bilder und Symbole ihre Erfüllung gefunden hatten; deshalb waren die Zeremonien des mosaischen Gottesdienstes auch nicht länger bindend. WA 188.2

Vor seiner Bekehrung hatte sich Paulus “nach der Gerechtigkeit im Gesetz” für “unsträflich” (Philipper 3,6) gehalten. Nach der Wandlung seines Herzens aber hatte er eine klare Erkenntnis von dem Wirken des Heilands als Erlöser des ganzen Menschengeschlechts — der Juden wie der Nichtjuden — gewonnen. Er hatte auch den Unterschied zwischen lebendigem Glauben und totem Formenwesen begriffen. Die den Israeliten gegebenen Verordnungen und Gebräuche hatten im Licht des Evangeliums eine neue, tiefere Bedeutung erhalten. Was sie bisher bildlich darstellten, war Wirklichkeit geworden. Dadurch waren alle, die unter dem Neuen Bund lebten, von der Befolgung dieser Anordnungen befreit. Gottes unveränderliches Gesetz aber, die Zehn Gebote, hielt Paulus auch weiterhin sowohl dem Geist als dem Buchstaben nach. WA 188.3

Die Frage der Beschneidung löste in der Gemeinde Antiochien viele Streitgespräche und Auseinandersetzungen aus. Da nun die Glieder der Gemeinde befürchteten, die fortgesetzten Meinungsverschiedenheiten könnten schließlich zu einer Spaltung führen, beschlossen sie, Paulus, Barnabas und einige verantwortliche Männer der Gemeinde nach Jerusalem zu senden, um diese Angelegenheit den Aposteln und Ältesten zu unterbreiten. Sie würden dort mit Abgeordneten der verschiedenen Gemeinden und auch mit Brüdern zusammentreffen, die zum bevorstehenden Fest nach Jerusalem kamen. Aller Streit sollte inzwischen ruhen, bis eine endgültige Entscheidung durch eine allgemeine Beratung getroffen worden sei, die dann von den verschiedenen Gemeinden im ganzen Land angenommen werden sollte. WA 189.1

Die Apostel besuchten die Gläubigen in den Städten, die sie auf dem Wege nach Jerusalem durchreisten, und ermutigten sie dadurch, daß sie ihnen von ihren Erfahrungen im Werke Gottes und von der Bekehrung der Nichtjuden berichteten. WA 189.2

In Jerusalem kamen die Abgeordneten aus Antiochien mit den Brüdern der verschiedenen Gemeinden zusammen, die sich zu dieser allgemeinen Versammlung eingefunden hatten und berichteten ihnen von ihrem erfolgreichen Wirken unter den Nichtjuden. Dann schilderten sie ausführlich, welche Verwirrung dadurch entstanden sei, daß gewisse bekehrte Pharisäer nach Antiochien gekommen waren und erklärt hatten, auch die gläubig gewordenen Nichtjuden müßten beschnitten werden und das Gesetz Moses halten, um selig zu werden. WA 189.3

Diese Frage wurde in der Versammlung eifrig erörtert. Eng verbunden mit der Frage der Beschneidung waren noch einige andere, die gleichfalls eines sorgfältigen Studiums bedurften. Eine davon war, wie man sich zum Genuß von Götzenopferfleisch verhalten sollte. Viele Neubekehrte aus den Nichtjuden lebten unter unwissenden, abergläubischen Menschen, die den Göttern häufig Opfer darbrachten. Die Priester dieser heidnischen Gottesdienste betrieben einen ausgedehnten Handel mit Opfergaben, die zu ihnen gebracht wurden. Und nun befürchteten die Judenchristen, die bekehrten Heiden könnten das Christentum dadurch in Verruf bringen, daß sie kauften, was zuvor den Götzen geopfert worden war; denn dadurch würden sie gewissermaßen die götzendienerischen Gebräuche gutheißen. WA 190.1

Ferner war es unter den Heiden üblich, das Fleisch von Tieren zu essen, die erstickt worden waren. Die Juden dagegen achteten auf Grund einer göttlichen Anweisung darauf, daß beim Töten der Tiere, die als Speise dienen sollten, der Körper ausblutete; andernfalls wurde das Fleisch für die Ernährung als nicht zuträglich angesehen. Gott hatte den Juden dies zur Erhaltung ihrer Gesundheit vorgeschrieben. Sie sahen es deshalb als Sünde an, Blut als Nahrung zu verwenden. Für sie war das Blut das Leben und Blutvergießen eine Folge der Sünde. WA 190.2

Die Heiden dagegen fingen das Blut der Opfertiere auf und verwendeten es zur Zubereitung von Speisen. Die Juden vermochten nicht zu glauben, daß sie ihre Bräuche ändern sollten, die sie auf besondere Anweisung Gottes angenommen hatten. Deshalb mußte es ihnen Anstoß und Ärgernis sein, wenn sie genötigt werden sollten, mit Nichtjuden an einem Tisch zu essen. WA 190.3

Die nichtjüdischen Völker, besonders die Griechen, führten häufig ein ausschweifendes Leben. So lag die Gefahr nahe, daß manche, die in ihrem Herzen noch unbekehrt waren, ein Glaubensbekenntnis ablegen könnten, ohne ihre schlechten Gewohnheiten aufgegeben zu haben. Die jüdischen Christen aber konnten Unsittlichkeit, die von den Heiden durchaus nicht als Unrecht angesehen wurde, nicht dulden. Darum hielten sie es für angebracht, den bekehrten Nichtjuden die Beschneidung und die Beachtung des Zeremonialgesetzes als Beweis ihrer Aufrichtigkeit und Frömmigkeit aufzuerlegen. So meinten sie verhindern zu können, daß jemand ohne wahre Bekehrung des Herzens den Glauben annahm und der Gemeinde beitrat, später aber der Sache Christi durch Unsittlichkeit und ausschweifendes Leben Schande bereitete. Die verschiedenen Gesichtspunkte, die bei der Lösung der Hauptfrage zu berücksichtigen waren, schienen der beratenden Versammlung unüberwindliche Schwierigkeiten zu bereiten. Der Heilige Geist aber hatte in der Frage, von deren Regelung das Wohl, wenn nicht das Bestehen der christlichen Gemeinde abzuhängen schien, bereits entschieden. WA 190.4

“Da man sich aber lange gestritten hatte, stand Petrus auf und sprach zu ihnen: Ihr Männer, liebe Brüder, ihr wisset, daß Gott mich lange vor dieser Zeit unter euch erwählt hat, daß durch meinen Mund die Heiden das Wort des Evangeliums hörten und glaubten.” Apostelgeschichte 15,7. Dann führte er aus, daß der Heilige Geist die strittige Angelegenheit bereits dadurch entschieden habe, daß er sowohl auf unbeschnittene Nichtjuden wie auf beschnittene Juden mit gleicher Kraft herabgekommen sei. Nochmals berichtete er von dem Gesicht, in dem Gott ihm in einem Tuch allerlei vierfüßige Tiere dargeboten hatte mit der Aufforderung, sie zu schlachten und zu essen. Als er sich weigerte und darauf berief, noch nie etwas Gemeines oder Unreines gegessen zu haben, sei ihm geantwortet worden: “Was Gott gereinigt hat, das heiße du nicht gemein.” Apostelgeschichte 10,15. WA 191.1

Petrus berichtete erneut, welch unmißverständliche Auslegung dieser Worte er unmittelbar danach durch die Aufforderung erhalten habe, zu dem Hauptmann zu gehen und ihn im Glauben an Jesus Christus zu unterweisen. Diese Botschaft habe gezeigt, daß es bei Gott kein Ansehen der Person gäbe, sondern daß er alle, die ihn fürchten, annehme und anerkenne. Ferner erzählte Petrus, daß er im Hause des Kornelius erstaunt Augenzeuge hatte sein dürfen, wie der Heilige Geist seine Zuhörer — Nichtjuden wie Juden — ergriff, während er ihnen noch das Wort der Wahrheit verkündigte. Das gleiche Licht, die gleiche Herrlichkeit erleuchtete sowohl die Gesichter der beschnittenen Juden wie auch der unbeschnittenen Nichtjuden. Das sei für ihn eine göttliche Warnung gewesen, keinen geringer zu achten als den andern, denn das Blut Christi könne alle Unreinigkeit tilgen. WA 191.2

Schon früher einmal hatte sich Petrus mit seinen Brüdern über die Bekehrung des Kornelius und dessen Freunden sowie über seine eigene Gemeinschaft mit ihnen ausgesprochen. Damals hatte er ihnen berichtet, daß der Heilige Geist auch auf die Nichtjuden gefallen war, und erklärt: “Wenn nun Gott ihnen die gleiche Gabe gegeben hat wie auch uns, die da gläubig geworden sind an den Herrn Jesus Christus: wer war ich, daß ich könnte Gott wehren?” Apostelgeschichte 11,17. Mit gleichem Eifer und Nachdruck sagte er jetzt: “Gott, der die Herzen kennt, gab Zeugnis für sie, denn er gab ihnen den heiligen Geist gleichwie auch uns und machte keinen Unterschied zwischen uns und ihnen, nachdem er ihre Herzen gereinigt hatte durch den Glauben. Was versucht ihr denn nun Gott dadurch, daß ihr ein Joch auf der Jünger Hälse legt, welches weder unsre Väter noch wir haben tragen können?” Apostelgeschichte 15,8-10. Dieses Joch war nicht etwa das Gesetz der Zehn Gebote, wie manche behaupten, die die bindenden Forderungen des Gesetzes leugnen; Petrus bezog sich hier lediglich auf das Zeremonialgesetz, das durch den Kreuzestod Christi null und nichtig geworden war. WA 192.1

Die Ausführungen des Petrus bewirkten, daß die Versammelten nun geduldig anhören konnten, welche Erfahrungen Paulus und Barnabas von ihrer Arbeit unter den Nichtjuden berichteten. “Da schwieg die ganze Menge stille und hörte Paulus und Barnabas zu, die da erzählten, wie große Zeichen und Wunder Gott durch sie getan hatte unter den Heiden.” Apostelgeschichte 15,12. WA 192.2

Auch Jakobus bezeugte mit aller Entschiedenheit, daß es Gottes Absicht sei, den Heiden die gleichen Gnadengaben und Segnungen zu schenken, die er den Juden gewährt habe. WA 193.1

Der Heilige Geist hielt es für gut, den Bekehrten aus den Heiden das Zeremonialgesetz nicht aufzuerlegen; und die Überzeugung der Apostel in dieser Angelegenheit stimmte bei dieser Beratung mit der Meinung des Geistes Gottes überein. Bei diesem Konzil führte Jakobus den Vorsitz; seine abschließende Entscheidung lautete: “Darum urteile ich, daß man denen, die aus den Heiden zu Gott sich bekehren, nicht Unruhe mache.” Apostelgeschichte 15,19. WA 193.2

Damit endete die Aussprache. Diese Begebenheit widerlegt die von der römisch-katholischen Kirche vertretene Auffassung, daß Petrus das Haupt der Urgemeinde gewesen sei. Wer, wie die Päpste, den Anspruch erhebt, dessen Amtsnachfolger zu sein, steht mit dieser Forderung nicht auf biblischem Boden. Auch die Behauptung, Petrus sei als Statthalter des Allerhöchsten über seine Brüder gesetzt worden, findet keinerlei Bestätigung in seinem Leben. Wären alle, die als seine Nachfolger bezeichnet wurden, wirklich seinem Beispiel gefolgt, so hätten sie sich stets damit begnügt, ihren Brüdern gleich zu sein. WA 193.3

Vermutlich war in diesem besonderen Fall Jakobus dazu ausersehen worden, den von der Versammlung gefaßten Beschluß bekanntzugeben. Sein Entscheid besagte, daß weder das Zeremonialgesetz noch die Verordnung der Beschneidung den Heiden aufgedrängt, ja nicht einmal empfohlen werden sollte. Jakobus bemühte sich, seinen Brüdern begreifbar zu machen, daß man den Nichtjuden gegenüber, die bereits infolge ihrer Bekehrung zu Gott eine entscheidende Veränderung in ihrem Leben zu vollziehen hatten, große Nachsicht walten lassen sollte. Sie sollten deshalb nicht durch verwirrende Streitfragen von untergeordneter Bedeutung beunruhigt und dadurch in der Nachfolge Christi entmutigt werden. WA 193.4

Die bekehrten Nichtjuden ihrerseits sollten alle Gebräuche aufgeben, die sich mit den Grundsätzen eines Christenlebens nicht vereinbaren ließen. Die Apostel und Ältesten wurden sich einig, sie brieflich davon zu unterrichten, sich fortan der Götzenopfer, des Blutgenusses, des Erstickten und der Unzucht zu enthalten. Sie sollten vielmehr ermahnt werden, die Gebote zu halten und ein heiliges Leben zu führen. Außerdem wurde ihnen versichert, daß keiner der Männer, die die Beschneidung als verbindlich gefordert hatten, hierzu von den Aposteln ermächtigt gewesen sei. WA 194.1

Paulus und Barnabas wurden ihnen als Männer empfohlen, die ihr Leben für den Herrn aufs Spiel gesetzt hatten. Zugleich mit diesen Aposteln wurden Judas und Silas ausgesandt, um den “Brüdern aus den Heiden” (Apostelgeschichte 15,23) die Entscheidung der Versammlung mündlich mitzuteilen. “Beschlossen haben der heilige Geist und wir, euch keine Last weiter aufzulegen als nur diese nötigen Stücke: daß ihr euch enthaltet vom Götzenopfer und vom Blut und vom Erstickten und von Unzucht; wenn ihr euch vor diesen bewahret, tut ihr recht.” Apostelgeschichte 15,28.29. Die vier Diener Gottes wurden mit einem Brief und dieser Botschaft nach Antiochien gesandt, wodurch alle Streitfragen beendet werden sollten, denn hier sprach die höchste Autorität auf Erden. WA 194.2

Das Konzil, das in dieser Angelegenheit entschied, setzte sich aus Aposteln und Lehrern zusammen, die sich bei der Gründung von Christengemeinden unter Juden und Nichtjuden hervorgetan hatten, sowie aus Abgeordneten aus den verschiedensten Gegenden. Älteste aus Jerusalem und Beauftragte aus Antiochien waren zugegen, ferner Vertreter der einflußreichsten Gemeinden. Das Konzil handelte, wie es ihm ein erleuchtetes Gewissen gebot, und mit der Würde einer nach dem Willen Gottes gegründeten Gemeinde. Als Ergebnis ihrer Beratungen erkannten alle, daß Gott selbst durch die Ausgießung des Heiligen Geistes auch auf die Heiden die vorliegende Frage beantwortet hatte. Und allen wurde bewußt, daß es nun ihre Pflicht sei, der Leitung des Geistes zu folgen. WA 194.3

Die Christen wurden nicht in ihrer Gesamtheit aufgefordert, über die Fragen abzustimmen, sondern die “Apostel und Ältesten”, Männer von Einfluß und Urteil, verfaßten und erließen den Beschluß, der dann von den Gemeinden angenommen wurde. Nicht alle waren mit dieser Entscheidung zufrieden: Eine Gruppe ehrgeiziger, von sich überzeugter Brüder stimmte nicht mit ihr überein. Diese Männer beanspruchten, in eigener Verantwortung im Werk zu arbeiten. Sie ergingen sich in Murren und Tadeln, schlugen neue Pläne vor und versuchten das Werk jener Männer niederzureißen, die Gott zur Verkündigung des Evangeliums berufen hatte. Von Anfang an ist die Gemeinde auf solche Hindernisse gestoßen, und so wird es bis ans Ende der Zeit bleiben. WA 195.1

Jerusalem war die Hauptstadt der Juden. In ihr begegnete man ausgeprägtestem Elitedenken und frommer Heuchelei. Die Judenchristen, die in der Nähe des Tempels lebten, dachten oft über die besonderen Rechte der Juden als auserwähltem Volk nach. Als sie nun feststellten, daß die Christengemeinde von den Zeremonien und Überlieferungen des Judentums abwich und infolgedessen die besondere Heiligkeit, die man den jüdischen Sitten beigelegt hatte, im Lichte des neuen Glaubens aus dem Auge verlieren würde, ärgerten sich viele über Paulus; denn ihm gaben sie im wesentlichen die Schuld für diesen Wandel. Selbst manche Jünger wollten die Entscheidung des Konzils nicht ohne weiteres annehmen. Einige eiferten für das Zeremonialgesetz und urteilten abfällig über Paulus, weil sie meinten, seine Einstellung zu den Forderungen des jüdischen Gesetzes sei zu oberflächlich. WA 195.2

Unter den gläubig gewordenen Nichtjuden aber erweckte die klare und an Folgen reiche Entscheidung des Konzils allgemein Vertrauen, so daß Gottes Werk gefördert wurde. Die Gemeinde in Antiochien freute sich außerdem über die Anwesenheit von Judas und Silas, die als besondere Boten mit den Aposteln vom Konzil in Jerusalem gekommen waren. Judas und Silas, diese beiden gottesfürchtigen Männer, “die auch Propheten waren, ermahnten die Brüder mit vielen Reden und stärkten sie”. Sie blieben eine Zeitlang in Antiochien. “Paulus aber und Barnabas blieben in Antiochien, lehrten und predigten samt vielen andern des Herrn Wort.” Apostelgeschichte 15,32.35. WA 196.1

Als Petrus später Antiochien besuchte, gewann er durch sein weises Verhalten gegenüber den Bekehrten aus den Nichtjuden das Vertrauen vieler. Eine Zeitlang handelte er auch in Übereinstimmung mit dem ihm vom Himmel geschenkten Licht. Er überwand sein natürliches Vorurteil so weit, daß er mit den bekehrten Heiden sogar an einem Tische aß. Als aber Judenchristen von Jerusalem kamen, die für das Zeremonialgesetz eiferten, änderte Petrus unbesonnen sein Verhalten gegenüber den Bekehrten aus dem Heidentum. “Mit ihm heuchelten die andern Juden, so daß auch Barnabas verführt ward, mit ihnen zu heucheln.” Galater 2,13. Dieses Offenbarwerden von Schwäche bei denen, die als Leiter geehrt und geliebt worden waren, hinterließ einen schmerzlichen Eindruck bei den gläubig gewordenen Nichtjuden. Die Gemeinde drohte sich zu spalten. Paulus aber, der erkannte, welch verheerenden Schaden Petrus durch sein Doppelspiel der Gemeinde zugefügt hatte, tadelte ihn öffentlich, er habe seine wahre Gesinnung verborgen. Vor der Gemeinde fragte er ihn: “Wenn du, der du ein Jude bist, heidnisch lebst und nicht jüdisch, warum zwingst du denn die Heiden, jüdisch zu leben?” Galater 2,14. WA 196.2

Petrus sah ein, daß er falsch gehandelt hatte, und bemühte sich sofort, den angerichteten Schaden wiedergutzumachen. Gott, der das Ende schon von Anfang an weiß, hatte es zugelassen, daß Petrus eine solche Charakterschwäche offenbarte, damit der so versuchte Apostel einsehen möge, daß in ihm nichts sei, wessen er sich rühmen könnte. Selbst die besten Menschen können sich irren, sobald sie sich selbst überlassen sind. Gott sah auch voraus, daß sich in späterer Zeit manche verleiten lassen würden, für Petrus und seine angeblichen Nachfolger Rechte zu beanspruchen, die allein Gott zukommen. Dieser Bericht von der Schwäche des Apostels sollte deshalb ein bleibender Nachweis seiner Fehlerhaftigkeit und der Tatsache sein, daß er keineswegs über den andern Aposteln stand. WA 196.3

Die Darstellung dieses Abweichens von den richtigen Grundsätzen ist eine ernste Warnung für alle, die Vertrauensstellungen im Werke Gottes einnehmen, niemals vom Weg der Rechtschaffenheit abzuweichen, sondern treu zu den Grundsätzen zu stehen. Je größer die Verantwortung ist, die einem Menschen auferlegt wird, und je umfassender er Gelegenheiten hat, Weisungen zu erteilen und Macht auszuüben, desto mehr gerät er in die Gefahr, Schaden anzurichten, wenn er nicht sorgfältig dem Weg des Herrn folgt und im Einklang mit den Entscheidungen handelt, die die Gläubigen in gemeinsamer Beratung getroffen haben. WA 197.1

Nach allen Niederlagen, nach seinem Fall und seiner Wiederannahme, nach seinem langen Dienst und seiner innigen Gemeinschaft mit Christus, nach seiner Kenntnis von des Heilands redlicher Befolgung rechtschaffener Grundsätze, nach aller Unterweisung, die er erhalten hatte, nach all den Gaben und dem Wissen, die ihm zuteil geworden waren, und all dem Einfluß, den er durch das Predigen und Lehren des Wortes ausüben durfte, konnte Petrus noch heucheln und aus Menschenfurcht oder um Ansehen zu gewinnen von den Grundsätzen des Evangeliums abweichen. Ist es nicht seltsam, daß er in seinem Vorsatz, das Rechte zu tun, wankend werden konnte? Möge Gott jeden seine Hilflosigkeit erkennen lassen und ihm helfen, sich bewußt zu werden, daß er unfähig ist, sein Lebensschiff geradewegs und sicher in den Hafen zu steuern. WA 197.2

In seinem Predigtdienst mußte Paulus oft ganz allein stehen. Er wurde von Gott in besonderer Weise unterwiesen, und er wagte es nicht, Zugeständnisse zu machen, die seinen Grundsätzen zuwiderliefen. Manchmal war die Last schwer, doch Paulus trat entschlossen für das Recht ein. Er war sich darüber klar, daß die Gemeinde niemals der Herrschaft menschlicher Macht unterworfen werden sollte. Weder Überlieferungen noch menschliche Maßstäbe durften je an die Stelle der geoffenbarten Wahrheit treten. Der Fortschritt des Evangeliums sollte weder durch Vorurteile noch durch die Willkür einzelner — ganz gleich, welche Stellung sie innerhalb der Gemeinde einnehmen — behindert werden. WA 198.1

Paulus hatte sich mit all seinen Kräften dem Dienste Gottes geweiht. Er hatte die Wahrheiten des Evangeliums unmittelbar vom Himmel empfangen, mit dem er bis ans Ende seines Predigtdienstes eine lebendige Verbindung unterhielt. Gott selbst hatte ihn unterwiesen, den nichtjüdischen Christen keine unnötige Lasten aufzuerlegen. Als nun die judaisierenden Gläubigen in der Gemeinde Antiochien die Frage der Beschneidung aufwarfen, kannte Paulus die Meinung des Geistes Gottes darüber und nahm einen festen und unnachgiebigen Standpunkt ein, der den Gemeinden die Freiheit von jüdischen Gebräuchen und Zeremonien brachte. WA 198.2

Obwohl Paulus persönlich von Gott belehrt worden war, überbewertete er nicht seine eigene Verantwortung. Während er von Gott die unmittelbare Führung erwartete, war er doch stets bereit, die Autorität anzuerkennen, die der Gesamtheit der christlichen Gläubigen übertragen ist. Er fühlte, daß er des Rates bedurfte. Kamen bedeutsame Fragen auf, legte er sie der Gemeinde vor und vereinigte sich mit seinen Brüdern im Gebet, um von Gott Weisheit zu erbitten, damit die richtige Entscheidung getroffen werden konnte. Selbst “die Geister der Propheten” waren nach seinen Worten “den Propheten untertan. Denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens.” 1.Korinther 14,32.33. Mit Petrus lehrte er, daß alle, die der Gemeinde angehören, “untereinander untertan” (1.Petrus 5,5, Jubiläumsbibel) sein sollen. WA 198.3