Das Wirken der Apostel

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Kapitel 53: Johannes, der Lieblingsjünger

Johannes wird im Vergleich zu den anderen Aposteln als der Jünger gekennzeichnet, “welchen Jesus liebhatte”. Johannes 21,20. Er erfreute sich offensichtlich in besonderem Maße der Freundschaft Jesu. Viele Zeichen des Vertrauens und der Liebe des Heilandes hatte er empfangen. Er war einer von den dreien, die Zeugen der Herrlichkeit Christi auf dem Verklärungsberg und des Kampfes in Gethsemane sein durften. Und in den letzten Stunden seines Leidens am Kreuz hatte der Herr gerade ihm die Sorge für seine Mutter übertragen. WA 537.1

Die herzliche Zuneigung des Heilandes zu seinem geliebten Jünger war mit der ganzen Kraft begeisterter Hingabe erwidert worden. Johannes schloß sich so fest an Christus an, wie die Weinranke den stützenden Pfosten umrankt. Trotz der Gefahren war er seinem Meister bis in die Gerichtshalle gefolgt und hatte selbst am Kreuz bei ihm ausgehalten. Auf die Kunde, daß Christus auferstanden sei, war er so schnell zum Grabe geeilt, daß er sogar den ungestümen Petrus überholte. WA 537.2

Die vertrauende Liebe und die selbstlose Hingabe, die sich im Leben und Charakter des Johannes zeigten, enthalten für die christliche Gemeinde überaus wertvolle Lehren. Johannes hatte nicht von Natur aus das liebenswürdige Wesen, das sich in seinem späteren Leben zeigte. Anfangs wies er bedenkliche Charakterfehler auf. Er war nicht nur stolz, geltungssüchtig und ehrgeizig, sondern auch ungestüm und empfindlich, wenn er beleidigt wurde. Er und sein Bruder wurden deshalb “Donnerskinder” genannt. WA 537.3

Der geliebte Jünger hatte ein aufbrausendes Temperament, war rachsüchtig und kritisierte gerne. Doch der göttliche Lehrer entdeckte unter all diesen Fehlern ein brennendes, aufrichtiges und liebevolles Herz. Jesus tadelte die Selbstsucht des Johannes, zerbrach seinen Ehrgeiz und stellte seinen Glauben auf die Probe. Gleichzeitig aber offenbarte er ihm das, wonach sich sein Herz sehnte: die Schönheit der Heiligkeit, die umwandelnde Macht der Liebe. WA 538.1

Die Mängel im Charakter des Johannes traten bei verschiedenen Gelegenheiten des gemeinsamen Lebens mit dem Heiland stark hervor. Christus sandte einmal Boten in ein Dorf der Samariter, um die Einwohner zu bitten, einen Imbiß für ihn und seine Jünger vorzubereiten. Als er sich aber dem Ort näherte, sah es so aus, als wolle er nach Jerusalem weiterreisen. Das erregte den Neid der Samariter, und anstatt ihn zum Bleiben einzuladen, erwiesen sie ihm nicht einmal das Entgegenkommen, das sie sonst jedem beliebigen Reisenden zuteil werden ließen. Jesus drängt seine Gegenwart niemandem auf, und die Samariter gingen des Segens verlustig, der ihnen zuteil geworden wäre, wenn sie Jesus als Gast aufgenommen hätten. WA 538.2

Die Jünger wußten, daß Christus die Samariter durch seine Gegenwart hatte segnen wollen; deshalb waren sie angesichts dieser Kälte, Eifersucht und Unhöflichkeit überrascht und empört. Vor allem Jakobus und Johannes ärgerten sich sehr darüber. Daß ihr Meister, den sie hoch verehrten, derartig behandelt wurde, war in ihren Augen ein so großes Unrecht, daß es sofort geahndet werden mußte. In ihrem Eifer fragten sie: “Herr, willst du, so wollen wir sagen, daß Feuer vom Himmel falle und verzehre sie, wie auch Elia tat.” Dabei bezogen sie sich auf die Vernichtung der samaritischen Hauptleute und Soldaten, die seinerzeit ausgesandt worden waren, um den Propheten Elia festzunehmen. Erstaunt stellten die Jünger fest, daß ihre Worte Jesus schmerzten. Noch mehr aber waren sie über die Zurechtweisung aus seinem Munde überrascht: “Wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten!” Lukas 9,54-56. WA 538.3

Es gehört nicht zu Christi Auftrag, Menschen zu zwingen, ihn aufzunehmen. Satan dagegen und die Menschen, die von seinem Geist beherrscht werden, trachten danach, Zwang auf das Gewissen auszuüben. Unter dem Vorwand, sich für die Gerechtigkeit einzusetzen, bringen diese Menschen, die mit bösen Engeln im Bunde stehen, zuweilen Leiden über ihre Mitmenschen, um ihnen ihre religiösen Anschauungen aufzunötigen. Christus jedoch erweist sich stets barmherzig, immer sucht er Menschen dadurch zu gewinnen, daß er ihnen seine Liebe offenbart. Er kann keinem Rivalen Raum in der Seele lassen noch sich mit einem halben Dienst begnügen. Doch er möchte freiwilligen Dienst, die willige Übergabe des Herzens aus Liebe. WA 539.1

Bei einer andern Gelegenheit hatten Jakobus und Johannes durch ihre Mutter die Bitte an Christus gerichtet, ihnen in seinem Reiche die höchsten Ehrenstellen einzuräumen. Ungeachtet der wiederholten Aussagen Jesu über das Wesen seines Reiches hegten diese jungen Nachfolger Jesu immer noch die Hoffnung auf einen Messias, dessen Reich und königliche Macht den menschlichen Vorstellungen entsprach. Die Mutter, die gleicherweise Ehrenplätze für ihre Söhne begehrte, hatte gebeten: “Laß diese meine zwei Söhne sitzen in deinem Reich, einen zu deiner Rechten und den andern zu deiner Linken.” WA 539.2

Der Heiland erwiderte darauf: “Ihr wisset nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde, und euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde?” Obwohl sie sich seiner geheimnisvollen Worte über die ihm bevorstehenden Prüfungen und Leiden erinnerten, antworteten sie zuversichtlich: “Ja, das können wir.” Matthäus 20,21.22. Sie würden, so dachten sie, es sich zur höchsten Ehre anrechnen, ihre Treue dadurch zu beweisen, daß sie alles, was ihrem Herrn zustoßen sollte, mit ihm teilen könnten. WA 539.3

“Ihr werdet ... den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde” (Matthäus 10,39), erklärte ihnen Jesus daraufhin, denn nicht ein Thron, sondern ein Kreuz wartete auf ihn, zwei Übeltäter als Gefährten zu seiner Rechten und zu seiner Linken. Jakobus und Johannes sollten aber teilhaben an den Leiden ihres Meisters. Auf den einen wartete der Tod durch das Schwert, der andere sollte von allen Jüngern am längsten unter Schmach und Verfolgung im Dienst seines Herrn ausharren. Jesus fuhr fort: “Aber das Sitzen zu meiner Rechten und Linken zu geben, steht mir nicht zu, sondern denen es bereitet ist von meinem Vater.” Matthäus 20,23. WA 540.1

Jesus wußte, welche Beweggründe die beiden Jünger zu dieser Bitte veranlaßt hatten. Deshalb tadelte er ihren Stolz und Ehrgeiz mit den Worten: “Ihr wisset: die Fürsten halten ihre Völker nieder, und die Mächtigen tun ihnen Gewalt. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer groß sein will unter euch, der sei euer Diener; und wer der Erste sein will unter euch, sei euer Knecht; gleichwie des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.” Matthäus 20,25-28. WA 540.2

Im Reiche Gottes werden ehrenvolle Stellungen nicht durch Begünstigung erlangt. Man kann sie weder verdienen noch werden sie willkürlich verliehen; sie sind vielmehr die Frucht des Charakters. Die Krone und der Thron sind Zeichen einer erfüllten Voraussetzung — Zeichen der Selbstüberwindung durch die Gnade unseres Herrn Jesus Christus. WA 540.3

Lange danach, als Johannes wie Christus durch Leiden gegangen war und ihn verstehen gelernt hatte, offenbarte ihm der Herr Jesus, unter welcher Voraussetzung man Teilhaber seines Reiches wird. “Wer überwindet”, sagte er, “dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie ich überwunden habe und mich gesetzt mit meinem Vater auf seinen Thron.” Offenbarung 3,21. Christus am nächsten stehen wird, wer am meisten von Jesu selbstaufopfernder Liebe in sich aufgenommen hat. Diese Liebe “prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf sie tut nichts Unschickliches, sie sucht nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht an”. 1.Korinther 13,5 (Zürcher). Das ist eine Liebe, die den Jünger ebenso wie seinen Herrn dazu bewegt, für die Rettung der Menschheit alles hinzugeben, dafür zu leben, zu wirken und selbst das Leben einzusetzen. WA 541.1

Ein anderes Mal — es war während der ersten Zeit ihres Verkündigungsdienstes — begegneten Jakobus und Johannes einem Manne, der im Namen Christi Teufel austrieb, obwohl er nicht zum Jüngerkreis gehörte. Die beiden Jünger untersagten ihm das und meinten, sie hätten ein Recht dazu. Als sie aber die Angelegenheit Christus unterbreiteten, wies er sie zurecht: “Ihr solt’s ihm nicht verbieten. Denn niemand, der ein Wunder tut in meinem Namen, kann bald übel von mir reden.” Markus 9,39. Niemand sollte zurückgestoßen werden, der sich in irgendeiner Weise freundlich gegen Christus verhielt. Die Jünger sollten weder engherzig noch überheblich gesinnt sein, sondern dasselbe großzügige Verständnis bekunden, das sie von ihrem Meister kannten. Jakobus und Johannes hatten gedacht, für die Ehre ihres Herrn eintreten zu müssen, als sie diesem Mann Einhalt geboten; nun aber erkannten sie, daß sie es aus Selbstsucht getan hatten. Sie sahen ihren Irrtum ein und nahmen die Zurechtweisung an. WA 541.2

Die Lehre Christi, daß Sanftmut, Geduld und Liebe wesentliche Voraussetzungen für ein Wachstum in der Gnade und für die Brauchbarkeit in seinem Dienst sind, war für Johannes von höchstem Wert. Sorgfältig prägte er sie sich ein und trachtete beständig danach, daß sein Leben dem göttlichen Vorbild ähnlich werde. Johannes hatte zu erkennen angefangen, worin die Herrlichkeit Christi besteht — nicht in weltlicher Pracht und Macht, auf die zu hoffen er gelehrt worden war, sondern daß es sich um “eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit” (Johannes 1,14) handelt. WA 541.3

Die innige Zuneigung des Johannes zu seinem Meister hatte nicht Christi Liebe zu ihm zur Folge, sondern war das Ergebnis seiner Liebe. Johannes wünschte Jesus ähnlich zu werden, und unter dem umwandelnden Einfluß der Liebe Christi wurde er sanftmütig und demütig. Sein Ich war in Jesus verborgen. Mehr als alle seine Mitjünger ordnete sich Johannes der Macht jenes wunderbaren Lebens unter. Er bekannte: “Das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen ... das Leben.” 1.Johannes 1,2. “Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.” Johannes 1,16. Johannes kannte den Heiland aus persönlicher Erfahrung. Die Lehren seines Meisters waren ihm ins Herz geschrieben. Wenn er von der Gnade des Heilandes sprach, dann verlieh die Liebe, die sein ganzes Wesen durchdrang, seinen Worten Vollmacht. WA 542.1

Diese innige Liebe zu Jesus ließ Johannes immer danach trachten, in seiner Nähe zu bleiben. Wohl liebte der Heiland alle Zwölf doch keiner von ihnen war innerlich so aufgeschlossen wie Johannes. Er war jünger als die andern und hatte mit der Treuherzigkeit eines Kindes sein Herz dem Herrn geöffnet. So kam er in immer innigere Übereinstimmung mit Christus, und durch ihn teilte der Erlöser seine tiefsten geistlichen Lehren seinem Volke mit. WA 542.2

Jesus liebt alle; die den himmlischen Vater recht darstellen, und Johannes konnte von der Liebe des Vaters reden wie kein anderer Jünger. Er bezeugte seinen Mitmenschen, was er in seinem Innern empfand, und offenbarte in seinem Charakter die Eigenschaften Gottes. Die Herrlichkeit des Herrn fand Ausdruck in seinem Angesicht. Die Schönheit, die der Heiligkeit entspringt, und die ihn umgewandelt hatte, ließ sein Angesicht wie Christi Antlitz strahlen. In Anbetung und Liebe blickte er auf den Heiland, bis er nur noch den einen Wunsch hatte: Christus ähnlich zu sein und Gemeinschaft mit ihm zu haben, so daß sich in seinem Leben das Wesen des Meisters widerspiegelte. WA 542.3

“Sehet”, schrieb er, “welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, daß wir Gottes Kinder sollen heißen! ... Meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder; und es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.” 1.Johannes 3,1.2. WA 543.1