Das Wirken der Apostel
Kapitel 48: Paulus vor Nero
Als Paulus zur Gerichtsverhandlung vor Kaiser Nero geladen wurde, war sein baldiger Tod mit ziemlicher Gewißheit zu erwarten. Das schwere Verbrechen, dessen man ihn beschuldigte, und die feindselige Gesinnung den Christen gegenüber ließen einen günstigen Ausgang kaum erhoffen. WA 489.1
Bei den Griechen und Römern war es Brauch, jedem Angeklagten das Recht einzuräumen, sich einen Verteidiger zu nehmen, der ihn vor Gericht vertrat. Durch klare Beweisführung, schlagfertige Rede oder durch Anflehen, Bitten und Tränen gelang es solch einem Verteidiger mitunter, eine günstige Entscheidung für den Angeklagten herbeizuführen oder, wenn dies fehlschlug, zumindest die Härte des Urteils zu mildern. Als aber Paulus vor Nero geladen wurde, wagte niemand, für ihn als Ratgeber oder Verteidiger aufzutreten. Kein Freund war anwesend, der die gegen ihn erhobenen Anklagen oder die Argumente zu seiner Verteidigung aufgezeichnet hätte. Keiner der Christen in Rom wagte es, dem Apostel in dieser schweren Stunde beizustehen. WA 489.2
Den einzigen zuverlässigen Bericht über dieses Geschehen gibt Paulus in seinem zweiten Brief an Timotheus: “Bei meinem ersten Verhör stand mir niemand bei, sondern sie verließen mich alle. Es sei ihnen nicht zugerechnet. Der Herr aber stand mir bei und stärkte mich, auf daß durch mich die Verkündigung reichlich geschähe und alle Heiden sie hörten; so ward ich erlöst aus des Löwen Rachen.” 2.Timotheus 4,16.17. WA 489.3
Paulus vor Nero — welch ein Gegensatz! Der hochmütige Herrscher, vor dem der Gottesmann sich um seines Glaubens willen zu verantworten hatte, stand auf dem Gipfel weltlicher Macht, irdischen Ansehens und Reichtums; er hatte aber auch die tiefste Stufe an Laster und Bosheit erreicht. An Macht und Größe konnte sich niemand mit ihm vergleichen. Niemand wagte es, seine Autorität in Frage zu stellen, noch sich seinem Willen zu widersetzen. Fürsten legten ihre Kronen zu seinen Füßen nieder; mächtige Heere marschierten auf seinen Befehl, und die Flaggen seiner Flotten verkündeten Sieg. Sein Standbild war in den Gerichtssälen aufgestellt; die Erlasse der Senatoren und die Entscheidungen der Richter waren nichts weiter als ein Echo seines Willens. Millionen beugten sich gehorsam seinen Befehlen. Der Name Nero ließ die Welt erzittern. Sein Mißfallen zu erregen, bedeutete meist den Verlust von Eigentum, Freiheit und Leben, und sein tadelnder Blick war gefürchteter als die Pest. WA 490.1
Ohne Geld, Freunde und Ratgeber stand der Gefangene vor Nero — dem Kaiser, dessen Gesichtszüge ein beschämendes Zeugnis ablegten von den Leidenschaften, die in ihm tobten. Das Antlitz des Angeklagten dagegen kündete von einem Herzen voller Frieden mit Gott. Paulus hatte Armut, Selbstverleugnung und Leiden erfahren. Trotz der ständigen Verleumdungen, Schmähungen und Beschimpfungen, durch die ihn seine Feinde hatten abschrecken wollen, hatte er das Banner des Kreuzes furchtlos hochgehalten. Gleich seinem Herrn war er ein heimatloser Wanderer gewesen und hatte wie er gelebt, um ein Segen für die Menschheit zu sein. Wie konnte Nero, dieser launische, jähzornige und lasterhafte Tyrann, das Wesen und die Beweggründe dieses Gottesmannes verstehen oder auch nur zu würdigen wissen! WA 490.2
Der weite Raum war von vielen neugierigen und unruhigen Menschen angefüllt, die sich nach vorne schoben und drängten, um alles zu sehen und zu hören, was dort vor sich ging. Da waren Hoch- und Niedriggestellte, Reiche und Arme, Gebildete und Ungebildete, Stolze und Bescheidene. Aber den Weg zum wahren Leben und zum Heil kannten sie alle nicht. WA 491.1
Die Juden erhoben gegen Paulus die alten Beschuldigungen des Aufruhrs und der Ketzerei. Gemeinsam mit den Römern bezichtigten sie ihn der Anstiftung des Brandes in der Stadt. Paulus aber bewahrte eine unerschütterliche Ruhe, als man diese Anklagen gegen ihn erhob. Verwundert schauten das Volk und die Richter auf ihn. Sie hatten schon vielen Gerichtsverhandlungen beigewohnt, viele Verbrecher beobachtet, aber noch nie einen Mann gesehen, der eine solch heilige Ruhe ausstrahlte, wie dieser Gefangene vor ihnen. Die scharfen Augen der Richter, die gewohnt waren, in den Gesichtszügen der Gefangenen zu lesen, suchten bei Paulus vergebens nach irgendwelchen Anzeichen einer Schuld. Als ihm gestattet wurde, zu den Anklagen Stellung zu nehmen, lauschten alle gespannt seinen Worten. WA 491.2
Wieder einmal hatte Paulus Gelegenheit, vor einer aufhorchenden Menschenmenge das Banner des Kreuzes aufzurichten. Als er die Menge vor sich erblickte, unter ihnen Juden, Griechen, Römer und Besucher aus verschiedenen Ländern, entbrannte sein Herz von dem Verlangen, ihnen den Weg des Heils zu zeigen. Darüber vergaß er völlig seine Umgebung und die drohenden Gefahren sowie das schreckliche Schicksal, das ihm unmittelbar bevorstand. Er sah nur noch Jesus, den Mittler, der vor Gott für die sündigen Menschen bittet. Mit mehr als menschlicher Beredsamkeit und Kraft verkündigte Paulus seinen Zuhörern das Evangelium. Er wies sie auf das für die sündige Menschheit gebrachte Opfer hin und zeigte, daß für die Erlösung des Menschen ein unvorstellbar hoher Preis bezahlt worden war. Gott habe Vorkehrungen getroffen, daß der Mensch seinen Anteil an der Herrschaft Gottes wiedererhalte. Durch Engel sei die Erde mit dem Himmel verbunden, so daß alle Taten der Menschen, ob gut oder böse, vor dem Auge der ewigen Gerechtigkeit offen dalägen. WA 491.3
So plädierte der Verteidiger der Wahrheit. Gläubig unter Ungläubigen, treu unter Ungetreuen, stand er da als Gottes Repräsentant, und seine Stimme klang wie eine Stimme vom Himmel. Weder in seinen Worten noch in seinen Blicken war die geringste Spur von Furcht, Traurigkeit oder Entmutigung zu spüren. Im Bewußtsein seiner Unschuld und angetan mit der Rüstung der Wahrheit (Epheser 6,11-20), erfüllte ihn die Freude, ein Gotteskind zu sein. Seine Worte glichen einem Siegesruf über dem Schlachtgetümmel. Er erklärte, daß die Sache, der er sein Leben geweiht habe, niemals fehlschlagen könne. Möchte er selbst umkommen — das Evangelium könne nie untergehen. Gott lebe, und seine Wahrheit werde den Sieg behalten. Viele, die damals auf Paulus schauten, “sahen sein Angesicht wie eines Engels Angesicht.” Apostelgeschichte 6,15. WA 492.1
Nie zuvor hatten die Anwesenden solche Worte gehört. Sie schlugen eine Saite an, die selbst in den Herzen der Verhärtetsten in Schwingung geriet. Lautere, überzeugende Wahrheit überwand den Irrtum. Licht fiel in die Herzen vieler Menschen, die später freudig diesen Strahlen folgten. Die Wahrheiten, die an jenem Tag verkündigt wurden, waren dazu bestimmt, ganze Völker zu bewegen und die Zeiten zu überdauern, um selbst dann noch auf Menschenherzen einzuwirken, wenn der, dessen Mund sie gesprochen, längst als Märtyrer gestorben war. WA 492.2
So wie bei dieser Gelegenheit hatte Nero noch nie die Wahrheit vernommen. Niemals hatte die ungeheure Schuld seines Lebens so offen vor ihm gelegen wie jetzt. Das Licht des Himmels drang in sein sündiges Herz ein, und er erzitterte angsterfüllt bei dem Gedanken an ein Gericht, vor das auch er, der Herrscher der Welt, gefordert werden würde, um für seine Taten den gerechten Lohn zu empfangen. Er fürchtete den Gott des Apostels und wagte nicht, Paulus zu verurteilen, da keine der gegen ihn erhobenen Anklagen zu Recht bestand. Heilige Scheu hielt seinen blutdürstigen Geist noch eine Zeitlang in Schranken. WA 492.3
Für einen Augenblick tat sich dem schuldbeladenen und verhärteten Nero der Himmel auf, und dessen Friede und Reinheit erschienen ihm begehrenswert. In diesem Augenblick erging die Einladung der göttlichen Gnade an ihn. Doch nur ganz flüchtig war ihm der Gedanke an Vergebung willkommen. Dann befahl er, Paulus ins Gefängnis zurückzuführen. Als sich die Tür zum Kerker hinter dem Boten Gottes zutat, schloß sich auch für den römischen Kaiser die Tür der Reue für immer. Kein Strahl des himmlischen Lichtes durchdrang je wieder diese Finsternis. Bald sollten die strafenden Gerichte Gottes über ihn hereinbrechen. WA 493.1
Nicht lange danach brach Nero zu dem unheilvollen Feldzug nach Griechenland auf, wo er durch unwürdige und erniedrigende Leichtfertigkeit Schande über sich und sein Reich brachte. Nachdem er mit großem Gepränge nach Rom zurückgekehrt war, gab er sich mit seinen Höflingen empörenden Ausschweifungen hin. Während eines Gelages war plötzlich von der Straße her Getümmel zu hören. Ein Bote, den man ausschickte, um zu erfahren, was geschehen sei, kehrte mit der Schreckensnachricht zurück, daß Galba an der Spitze eines Heeres in Eilmärschen gegen Rom vorrücke. Außerdem sei in der Stadt ein Aufstand ausgebrochen. Eine aufgebrachte Volksmenge fülle die Straßen; sie nähere sich bereits dem Palast und drohe den Kaiser mitsamt seinem Gefolge umzubringen. WA 493.2
Nero konnte sich in dieser verhängnisvollen Lage nicht — wie der treue Apostel Paulus — auf einen mächtigen und barmherzigen Gott verlassen. Aus Furcht vor den Leiden und Qualen, die er möglicherweise von der wütenden Volksmenge zu erwarten hatte, wollte der elende Tyrann seinem Leben selbst ein Ende machen. Doch im entscheidenden Augenblick fehlte ihm der Mut dazu. Aller Mannschaft beraubt, floh er schmählich aus der Stadt und suchte sich auf einem nur einige Kilometer entfernten Landgut zu verbergen. Doch vergeblich. Sein Versteck wurde bald entdeckt. Als die ihn verfolgenden Reiter näherkamen, rief er einen Sklaven zu seiner Hilfe herbei und brachte sich eine tödliche Wunde bei. So endete der Tyrann Nero im frühen Alter von zweiunddreißig Jahren. WA 493.3