Das Wirken der Apostel

39/59

Kapitel 38: Paulus als Gefangener

Auf der Grundlage von Apostelgeschichte 21,17-23,35.

“Als wir nun nach Jerusalem kamen, nahmen uns die Brüder mit Freuden auf. Des andern Tages aber ging Paulus mit uns zu Jakobus, und es kamen die Ältesten alle dahin.” Apostelgeschichte 21,17.18. WA 397.1

Bei dieser Gelegenheit überreichten Paulus und seine Begleiter den Leitern des Werkes zu Jerusalem die Spende, die sie von den Christen aus den Heidenländern zur Unterstützung der Armen unter den jüdischen Brüdern erhalten hatten. Die Sammlung dieser Beträge hatte den Apostel und seine Mitarbeiter viel Zeit, sorgfältige Überlegung und mühevolle Arbeit gekostet. Die Summe, die die Erwartungen der Ältesten zu Jerusalem weit übertraf, zeugte von vielen Opfern und großen Entbehrungen seitens der nichtjüdischen Gläubigen. WA 397.2

Diese freiwilligen Gaben bezeugten die Treue der Bekehrten aus dem Heidentum zum Werke Gottes in der weiten Welt und hätten von allen mit dankbarer Anerkennung angenommen werden sollen. Trotzdem wurde es Paulus und seinen Gefährten offenbar, daß selbst unter den Gläubigen, vor denen sie jetzt standen, manche nicht imstande waren, den Geist der brüderlichen Liebe recht zu würdigen, der diese Gaben veranlaßt hatte. WA 397.3

In den Anfangsjahren des Evangeliumsdienstes unter den Nichtjuden hatten einige der leitenden Brüder zu Jerusalem, die noch an alten Vorurteilen und Denkgewohnheiten festhielten, nicht so bereitwillig mit dem Apostel und seinen Gefährten Hand in Hand gearbeitet. In ihrem Bestreben, gewisse bedeutungslose Formen und Bräuche zu bewahren, hatten sie die Segnungen aus dem Auge verloren, die ihnen wie auch der ganzen Sache, die sie liebten, zuteil geworden wären, wenn sie sich bemüht hätten, alle Bereiche des Werkes des Herrn zusammenzufassen. WA 397.4

Obgleich sie auf das Wohl der christlichen Gemeinde bedacht waren, hatten sie es doch versäumt, den sich ihnen durch Gottes Fügungen eröffnenden Gelegenheiten entsprechend voranzugehen, und hatten in ihrer menschlichen Weisheit versucht, den Arbeitern im Werke Gottes unnötige Beschränkungen aufzuerlegen. So bildete sich eine Gruppe von Männern, denen die wechselnden Verhältnisse und besonderen Bedürfnisse der Arbeit in den entfernten Feldern nicht persönlich bekannt waren, die sich aber dennoch die Autorität anmaßten, den Brüdern draußen genau vorzuschreiben, wie sie arbeiten sollten. Sie meinten, die Evangeliumsverkündigung müsse in Übereinstimmung mit ihrer Auffassung geschehen. WA 398.1

Mehrere Jahre waren bereits vergangen, seit die Brüder in Jerusalem gemeinsam mit den Vertretern anderer führender Gemeinden sorgsam über die schwierigen Fragen beraten hatten, die sich aus der Arbeitsweise derer ergeben hatten, die unter den Nichtjuden wirkten. Als Ergebnis dieses Konzils hatten sich die Brüder dahin geeinigt, den Gemeinden klare Anweisungen über gewisse Formen und Gebräuche einschließlich der Beschneidung zu erteilen. Bei dieser Gelegenheit hatten die Brüder ferner einmütig beschlossen, den christlichen Gemeinden Barnabas und Paulus als Arbeiter zu empfehlen, die des vollen Vertrauens eines jeden Gläubigen würdig waren. WA 398.2

Unter denen, die bei dieser Versammlung zugegen gewesen waren, hatte es einige gegeben, die zunächst die Arbeitsweise der Apostel, auf denen die Hauptlast der Verkündigung des Evangeliums unter den Heiden ruhte, scharf kritisierten. Aber noch während der Beratung war ihr Blick für Gottes Ratschluß geweitet worden, und sie hatten gemeinsam mit den Brüdern weise Beschlüsse gefaßt, die den Zusammenschluß aller Gläubigen zu einer großen Gemeinschaft ermöglicht hatten. WA 398.3

Als sich später herausstellte, daß die Zahl der Gemeindeglieder aus den Nichtjuden rasch zunahm, erhoben einzelne leitende Brüder in Jerusalem aufs neue ihre Vorurteile gegenüber der Arbeitsweise des Paulus und seiner Gefährten. Diese Voreingenommenheit hatte sich mit den Jahren immer mehr vertieft, bis schließlich einige leitende Männer den Beschluß faßten, daß die Evangeliumsverkündigung fortan nur noch in Übereinstimmung mit ihren eigenen Vorstellungen zu geschehen habe. Wenn Paulus sich in seinem Wirken an die von ihnen vertretenen Richtlinien hielte, wollten sie seine Arbeit anerkennen und unterstützen, andernfalls sahen sie sich gezwungen, ihm gegenüber eine mißbilligende Haltung einzunehmen und ihm jede weitere Unterstützung zu versagen. WA 399.1

Diese Männer hatten die Tatsache aus den Augen verloren, daß Gott selbst der Lehrer seines Volkes ist, daß seinem Willen nach jeder Mitarbeiter in seinem Werk zu einer persönlichen Erfahrung in der Nachfolge des göttlichen Führers gelangt und nicht von Menschen geführt zu werden erwartet und daß seine Diener nicht nach menschlichen Vorstellungen, sondern nach dem Bilde Gottes zubereitet und gestaltet werden sollen. WA 399.2

Paulus hatte in seinem Predigtdienst die Leute “nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft” (1.Korinther 2,4) belehrt. Durch den Heiligen Geist war ihm die Wahrheit offenbart worden, die er verkündigte; “denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit. Denn welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, als allein der Geist des Menschen, der in ihm ist? So weiß auch niemand, was in Gott ist, als allein der Geist Gottes.” 1.Korinther 2,10.11. Paulus erklärte: “Davon reden wir auch nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt, und deuten geistliche Sachen für geistliche Menschen.” 1.Korinther 2,13. WA 399.3

Während seines Predigtdienstes hatte Paulus stets auf Gott geschaut und sich von ihm führen lassen. Zugleich war er aber auch sehr darauf bedacht, in Übereinstimmung mit den Beschlüssen des Jerusalemer Konzils zu handeln, und so “wurden die Gemeinden im Glauben befestigt und nahmen täglich zu an Zahl”. Apostelgeschichte 16,5. Als ihm jetzt einige wenig Verständnis entgegenbrachten, tröstete ihn das Bewußtsein, seine Pflicht getan zu haben, hatte er doch die durch ihn Bekehrten zu Treue, Freigebigkeit und brüderlicher Liebe ermutigt. Die ansehnlichen Beträge, die er den jüdischen Ältesten überreichen konnte, bewiesen dies. WA 400.1

Nachdem Paulus die Spenden übergeben hatte, “erzählte er eines nach dem andern, was Gott getan hatte unter den Heiden durch seinen Dienst”. Apostelgeschichte 21,19. Durch den Bericht dieser Tatsachen wurden alle, selbst die Zweifler, davon überzeugt, daß der Segen des Himmels sein Wirken begleitet hatte. “Da sie aber das hörten, lobten sie Gott.” Apostelgeschichte 21,20. Sie erkannten, daß der Himmel die Arbeit des Apostels bestätigt hatte. Die vor ihnen liegenden freiwilligen Gaben bekräftigten das Zeugnis des Apostels über die Treue der unter den Nichtjuden gegründeten neuen Gemeinden. Nun sahen die Männer, die zu den Verantwortlichen des Werkes in Jerusalem gerechnet wurden und die gefordert hatten, den Apostel durch willkürliche Maßnahmen zu überwachen, sein Wirken in einem neuen Licht. Sie kamen zu der Überzeugung, daß der von ihnen eingeschlagene Weg falsch gewesen war und daß sie an jüdische Sitten und Überlieferungen gebunden waren und dadurch den Fortgang des Evangeliumswerkes stark behindert hatten; denn sie hatten nicht erkannt, daß die Scheidewand zwischen Juden und Nichtjuden durch den Tod Christi niedergerissen worden war. WA 400.2

Doch nun bot sich allen leitenden Brüdern eine besonders günstige Gelegenheit, ganz offen zu bekennen, daß Gott durch Paulus gewirkt habe und sie sich durch die Berichte seiner Feinde zu Eifersucht und Vorurteilen gegen ihn hatten verleiten lassen. Anstatt aber gemeinsam dem von ihnen Geschädigten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, gaben sie ihm einen Rat, der durchblicken ließ, daß sie immer noch der Gedanke beherrschte, Paulus sei selbst schuld an dem bestehenden Vorurteil. Statt großmütig für ihn einzutreten und den Unzufriedenen ihr Unrecht nachzuweisen, wollten sie dadurch einen Ausgleich herbeiführen, daß sie ihm einen Weg einzuschlagen rieten, auf dem nach ihrer Meinung alle Mißverständnisse beseitigt werden könnten. WA 401.1

“Bruder, du siehst”, erwiderten sie auf sein Zeugnis, “wieviel tausend Juden gläubig geworden sind, und sind alle Eiferer für das Gesetz; ihnen ist aber berichtet worden über dich, daß du alle Juden, die unter den Heiden wohnen, lehrest von Mose abfallen und sagest, sie sollen ihre Kinder nicht beschneiden, auch nicht nach jüdischer Weise leben. Was nun? Auf jeden Fall werden sie hören, daß du gekommen bist. So tu nun dies, was wir dir sagen. Wir haben vier Männer, die haben ein Gelübde auf sich; die nimm zu dir und lasse dich reinigen mit ihnen und trage die Kosten für sie, daß sie ihr Haupt scheren können; so werden alle erkennen, daß es nicht so sei, wie ihnen über dich berichtet ist, sondern daß du selber auch nach dem Gesetz lebst und es hältst. Denn nur den Gläubigen aus den Heiden haben wir geschrieben und beschlossen, daß sie sich bewahren sollen vor dem Götzenopfer, vor Blut, vor Ersticktem und vor Unzucht.” Apostelgeschichte 21,20-25. WA 401.2

Die Brüder hofften, daß Paulus auf diese Weise die falschen Berichte über ihn eindeutig widerlegen würde. Sie versicherten ihm überdies, daß der Beschluß des allgemeinen Konzils zu Jerusalem über die bekehrten Nichtjuden und das Zeremonialgesetz immer noch in Kraft sei. Aber ihr jetziger Rat ließ sich mit jener Entscheidung nicht vereinbaren. Gottes Geist hatte diese Anweisung nicht gegeben, sie war eine Frucht der Feigheit. Die Leiter der Gemeinde zu Jerusalem wußten nur zu gut, daß sich die Christen durch Nichtbeachtung des Zeremonialgesetzes den Haß der Juden zuziehen und Verfolgungen aussetzen würden. Der Hohe Rat tat alles, um den Fortschritt des Evangeliums aufzuhalten. Er beauftragte Männer, die den Aposteln, besonders aber Paulus, auf den Fersen bleiben und sich ihrem Wirken auf jede nur mögliche Weise widersetzen sollten. Konnten nun Christusgläubige dem Hohen Rat als Gesetzesübertreter überantwortet werden, dann hatten sie als Abgefallene vom jüdischen Glauben sofortige und schwere Strafe zu erwarten. WA 401.3

Viele Juden, die das Evangelium angenommen hatten, bewahrten noch eine hohe Achtung vor dem Zeremonialgesetz und waren nur allzu bereit, unkluge Zugeständnisse zu machen. Sie hofften dadurch das Vertrauen ihrer Landsleute zu gewinnen, deren Vorurteile zu beseitigen und sie für den Glauben an Christus als den Welterlöser zu gewinnen. Paulus sah ein, daß viele der leitenden Glieder der Gemeinde zu Jerusalem auch weiterhin darauf hinarbeiten würden, seinen Einfluß zu untergraben, solange sie gegen ihn voreingenommen waren. Ihm war klar, daß ein großes Hindernis für den Erfolg des Evangeliums an andern Orten beseitigt werden konnte, wenn er sie durch irgendein annehmbares Zugeständnis für die Wahrheit gewinnen würde. Gott hatte ihn jedoch nicht dazu ermächtigt, so weit zu gehen, wie sie es von ihm forderten. WA 402.1

Wenn wir an den Herzenswunsch des Apostels denken, mit seinen Brüdern übereinzustimmen, an seine Rücksichtnahme auf die Schwachen im Glauben, seine Achtung vor den Aposteln, die mit Christus gewesen waren, besonders vor Jakobus, dem Bruder des Herrn, und an seinen Vorsatz, jedem soweit wie möglich entgegenzukommen, ohne dabei Grundsätze aufzugeben, — wenn wir das alles bedenken, dann überrascht es uns weniger, daß er sich drängen ließ, von dem festen, sicheren Weg abzuweichen, den er bisher so entschieden gegangen war. Anstatt dem ersehnten Ziel näherzukommen, beschleunigte er durch sein Bemühen um Ausgleich nur die Entscheidung. Die Folge war, daß die vorhergesagten Leiden schneller über ihn hereinbrachen, zu einer Trennung von seinen Brüdern führten, die Gemeinde um einen ihrer stärksten Pfeiler beraubte und die Christen in allen Landen mit Kummer erfüllte. WA 402.2

Am folgenden Tag begann Paulus den Rat der Ältesten auszuführen. Er ging mit den vier Männern, die das Gelübde des Gottgeweihten auf sich genommen hatten, dessen vorgesehene Zeit fast abgelaufen war, “in den Tempel und zeigte an, daß die Tage der Reinigung vollendet seien, sobald für einen jeglichen unter ihnen das Opfer gebracht wäre”. Apostelgeschichte 21,26. Doch noch mußten bestimmte kostspielige Reinigungsopfer gebracht werden. WA 403.1

Die Paulus zu diesem Schritt geraten hatten, hatten nicht bedacht, welcher großen Gefahr sie ihn dadurch aussetzten. Zu dieser Zeit weilten in Jerusalem Gottesdienstbesucher aus vielen Ländern. Paulus hatte entsprechend dem Auftrag Gottes das Evangelium den Nichtjuden gebracht und dabei viele der größten Städte der Welt besucht. So war er Tausenden von Festteilnehmern, die von auswärts nach Jerusalem gekommen waren, wohl bekannt. Unter ihnen befanden sich Männer, deren Herzen von bitterem Haß ihm gegenüber erfüllt waren. Daher war das Betreten des Tempels bei solch einem öffentlichen Anlaß für ihn mit Lebensgefahr verbunden. Einige Tage konnte er anscheinend unbemerkt unter den Anbetern aus- und eingehen, aber als er kurz vor Schluß der angesetzten Frist gerade mit einem Priester über das darzubringende Opfer sprach, wurde er von einigen Juden aus Asien erkannt. WA 403.2

Mit teuflischer Wut stürzten sie sich auf ihn und schrien: “Ihr Männer von Israel, helft! Dies ist der Mensch, der alle Menschen an allen Enden lehrt wider unser Volk, wider das Gesetz und wider diese Stätte.” Als die Leute diesem Hilferuf folgten, fügten sie eine weitere Begründung hinzu: “Dazu hat er auch Griechen in den Tempel geführt und diese heilige Stätte entweiht.” Apostelgeschichte 21,28. WA 404.1

Dem jüdischen Gesetz nach war es ein todeswürdiges Verbrechen, wenn ein Unbeschnittener die inneren Vorhöfe des heiligen Bauwerkes betrat. Paulus war in der Stadt in Begleitung des Trophimus, eines Ephesers, gesehen worden, und man vermutete, daß er ihn in den Tempel gebracht habe. Das hatte er jedoch nicht getan, und da er selbst ein Jude war, hatte er durch das Betreten des Tempels keineswegs das Gesetz übertreten. Obgleich diese Anklage völlig falsch war, genügte sie doch, das Vorurteil des Volkes zu erregen. Als der Ruf erscholl und die Tempelhöfe erfüllte, geriet die dort versammelte Menge in Empörung. Schnell verbreitete sich die Nachricht durch Jerusalem, “und die ganze Stadt ward erregt, und ward ein Auflauf des Volkes.” Apostelgeschichte 21,30a. WA 404.2

Daß ein Abtrünniger Israelit es wagte, den Tempel zu entweihen in einer Zeit, da Tausende aus allen Teilen der Welt zur Anbetung hingekommen waren, entzündete die Leidenschaften der Volksmassen aufs heftigste. “Sie griffen aber Paulus und zogen ihn zum Tempel hinaus. Und alsbald wurden die Türen zugeschlossen.” Apostelgeschichte 21,30b. WA 404.3

“Da sie ihn aber töten wollten, kam die Kunde hinauf vor den obersten Hauptmann der Schar, wie das ganze Jerusalem in Aufruhr sei.” Apostelgeschichte 21,31. Klaudius Lysias, der die aufrührerischen Elemente, mit denen er es zu tun hatte, wohl kannte, “nahm alsbald Kriegsknechte und Hauptleute zu sich und lief hinunter zu ihnen. Da sie aber den Oberhauptmann und die Kriegsknechte sahen, hörten sie auf Paulus zu schlagen.” Apostelgeschichte 21,32. Der römische Hauptmann kannte nicht die Ursache der Aufregung, er sah nur, daß die Wut der Menge sich gegen Paulus richtete, und hielt ihn für einen ägyptischen Aufrührer, von dem er zwar gehört hatte, der sich aber bis dahin der Gefangennahme hatte entziehen können. So “nahm er ihn an sich und hieß ihn binden mit zwei Ketten und fragte, wer er wäre und was er getan hätte”. Apostelgeschichte 21,33. Sogleich erhoben sich viele Stimmen in lauter, zorniger Anklage. “Einer aber rief dies, der andere das im Volk. Da er aber nichts Gewisses erfahren konnte um des Getümmels willen, hieß er ihn in die Burg führen. Und als er an die Stufen kam, mußten ihn die Kriegsknechte tragen wegen des Ungestüms des Volkes, denn es folgte viel Volks nach und schrie: Weg mit ihm!” Apostelgeschichte 21,34-36. WA 404.4

Inmitten dieses Aufruhrs blieb der Apostel ruhig und gefaßt. Seine Gedanken waren auf Gott gerichtet, wußte er doch, daß ihn Engel vom Himmel umgaben. Es gefiel ihm nur nicht, daß er den Tempel verlassen sollte, ohne den Versuch gemacht zu haben, seinen Landsleuten die Wahrheit darzulegen. Gerade als er in die Burg geführt werden sollte, fragte er den Oberhauptmann: “Darf ich mit dir reden?” Lysias erwiderte: “Kannst du Griechisch? Bist du nicht der Ägypter, der vor diesen Tagen einen Aufruhr gemacht hat und führte in die Wüste hinaus viertausend Meuchelmörder?” Paulus antwortete: “Ich bin ein jüdischer Mann von Tarsus, ein Bürger einer namhaften Stadt in Cilizien. Ich bitte dich, erlaube mir, zu reden zu dem Volk.” Apostelgeschichte 21,37-39. WA 405.1

Die Bitte wurde ihm gewährt, und so trat Paulus “auf die Stufen und winkte dem Volk mit der Hand”. Durch diese Geste fesselte er die Aufmerksamkeit der Juden, und sein Verhalten flößte ihnen Achtung ein. “Da nun eine große Stille ward, redete er zu ihnen auf hebräisch und sprach: Ihr Männer, liebe Brüder und Väter, höret mir zu, wenn ich mich jetzt vor euch verantworte.” Beim Klang der wohlbekannten hebräischen Worte “wurden sie noch stiller”. In dem allgemeinen Schweigen fuhr er fort: WA 405.2

“Ich bin ein jüdischer Mann, geboren zu Tarsus in Cilicien, aber erzogen in dieser Stadt, zu den Füßen Gamaliels unterwiesen mit allem Fleiß im väterlichen Gesetz, und war ein Eiferer für Gott, gleichwie ihr heute alle seid.” Apostelgeschichte 21,40; Apostelgeschichte 22,1-3. Niemand konnte die Darlegung des Apostels in Abrede stellen, denn die Tatsachen, auf die er hinwies, waren vielen, die noch in Jerusalem wohnten, gut bekannt. Er sprach auch davon, mit welchem Eifer er einst die Jünger Christi bis in den Tod verfolgt hatte. Ausführlich schilderte er seinen Zuhörern die Vorgänge bei seiner Bekehrung, und wie sein stolzes Herz sich schließlich vor dem gekreuzigten Nazarener gebeugt hatte. Hätte er versucht, sich mit seinen Gegnern in eine Diskussion einzulassen, so hätten sie sich hartnäckig geweigert, seinen Worten zuzuhören. Aus dem Bericht seiner Erfahrung aber klang eine überzeugende Kraft, die zunächst ihre Herzen besänftigte und überwand. WA 406.1

Dann suchte er ihnen zu erklären, daß er seinen Dienst unter den Nichtjuden nicht aus eigener Entscheidung aufgenommen habe. Sein Wunsch sei es gewesen, unter seinem eigenen Volke zu wirken, aber hier im Tempel habe Gott in einem Gesicht mit ihm geredet und ihn angewiesen: “Ich will dich ferne unter die Heiden senden!” Apostelgeschichte 22,17.18.21. WA 406.2

Bis dahin hatten die Juden mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört. Als Paulus in seinem Bericht aber davon sprach, daß er berufen wurde, Botschafter Christi unter den Nichtjuden zu sein, brach ihre Wut aufs neue aus. Sie waren es gewöhnt, sich selbst für das einzige von Gott auserwählte Volk zu halten. Darum waren sie nicht bereit, den verachteten Nichtjuden zuzugestehen, daß auch sie an den Gnadengaben Gottes Anteil haben sollten, die sie bisher als ausschließlich ihnen gehörend angesehen hatten. Mit überlauter Stimme überschrien sie den Apostel: “Hinweg mit diesem von der Erde! Denn er darf nicht mehr leben. Da sie aber schrien und ihre Kleider abwarfen und Staub in die Luft wirbelten, hieß ihn der Oberhauptmann in die Burg führen und sagte, daß man ihn geißeln und verhören sollte, auf daß er erfahre, um welcher Ursache willen sie so über ihn schrien. WA 406.3

Als man ihn aber zum Geißeln festband, sprach Paulus zu dem Hauptmann, der dabeistand: Dürft ihr einen Menschen, der römischer Bürger ist, ohne Urteil geißeln? Da das der Hauptmann hörte, ging er zu dem Oberhauptmann und berichtete ihm und sprach: Was willst du tun? Dieser Mensch ist römischer Bürger. Da kam zu ihm der Oberhauptmann und sprach zu ihm: Sage mir, bist du römischer Bürger? Er aber sprach: Ja. Und der Oberhauptmann antwortete: Ich habe dieses Bürgerrecht um eine große Summe erworben. Paulus aber sprach: Ich aber bin römisch geboren. Da ließen alsbald von ihm ab, die ihn verhören sollten. Und der Oberhauptmann fürchtete sich, da er vernahm, daß er römischer Bürger war, und er ihn hatte festbinden lassen. WA 407.1

Des andern Tages wollte er sicher erkunden, warum er verklagt wurde von den Juden, und ließ ihn losbinden und hieß die Hohenpriester und den ganzen Hohen Rat zusammenkommen und führte Paulus hinunter und stellte ihn vor sie.” Apostelgeschichte 22,22-30. WA 407.2

Paulus sollte jetzt vor dem gleichen Gerichtshof verhört werden, dessen Mitglied er selbst vor seiner Bekehrung war. Innerlich ruhig stand er vor den jüdischen Führern, seine Gesichtszüge zeugten von dem Frieden Christi. “Paulus aber sah den Hohen Rat an und sprach: Ihr Männer, liebe Brüder, ich bin mit allem guten Gewissen gewandelt vor Gott bis auf diesen Tag.” Apostelgeschichte 23,1. Als sie diese Worte hörten, entbrannte der Haß aufs neue, und der Hohepriester Ananias “befahl denen, die um ihn standen, daß sie ihn auf den Mund schlugen”. Auf diesen rohen Befehl erwiderte Paulus: “Gott wird dich schlagen, du getünchte Wand! Sitzest du, mich zu richten nach dem Gesetz, und hießest mich schlagen wider das Gesetz? Die aber umherstanden, sprachen: Schiltst du den Hohenpriester Gottes?” Mit gewohnter Höflichkeit antwortete Paulus: “Liebe Brüder, ich wußte nicht, daß er Hoherpriester ist. Denn es steht geschrieben: ‘Den Obersten deines Volkes sollst du nicht schmähen.’ WA 407.3

Da aber Paulus wußte, daß ein Teil Sadduzäer war und der andere Teil Pharisäer, rief er im Rat: Ihr Männer, liebe Brüder, ich bin ein Pharisäer und eines Pharisäers Sohn. Ich werde angeklagt um der Hoffnung und um der Auferstehung der Toten willen. WA 408.1

Da er aber das sagte, ward eine Zwietracht unter den Pharisäern und Sadduzäern, und die Versammlung spaltete sich. Denn die Sadduzäer sagen, es gebe keine Auferstehung, noch einen Engel, noch einen Geist; die Pharisäer aber lehren das alles.” Apostelgeschichte 23,2-8. Die beiden Parteien stritten sich nun untereinander, und damit war die Macht ihres Widerstandes gegen Paulus gebrochen. “Etliche Schriftgelehrte von der Pharisäer Partei standen auf stritten und sprachen: Wir finden nichts Arges an diesem Menschen; vielleicht hat doch ein Geist oder ein Engel mit ihm geredet.” Apostelgeschichte 23,9. WA 408.2

In dem nun folgenden Durcheinander setzten die Sadduzäer alles daran, den Apostel in ihre Gewalt zu bekommen, um ihn zu töten; ebensosehr bemühten sich die Pharisäer, ihn zu schützen. Der oberste Hauptmann befürchtete schließlich, “sie möchten Paulus zerreißen, und hieß das Kriegsvolk hinabgehen und ihn von ihnen reißen und in die Burg führen.” Apostelgeschichte 23,10. WA 408.3

Als Paulus später über die bittere Erfahrung dieses Tages nachdachte, überkam ihn Furcht, daß Gott seine Handlungsweise nicht bejahen konnte. Hatte er einen Fehler begangen, daß er überhaupt Jerusalem besuchte? Hatte sein sehnlicher Wunsch nach einem guten Einvernehmen mit den dortigen Brüdern zu solch einem unheilvollen Ergebnis geführt? WA 408.4

Wie sich die Juden als vorgebliches Gottesvolk vor einer ungläubigen Welt verhielten, verursachte dem Apostel heftige innere Not. Was mochten wohl die heidnischen Offiziere jetzt von ihnen denken? Die Juden gaben vor, als Anbeter des lebendigen Gottes zu heiligem Dienst berufen zu sein, und ließen sich dennoch von blindem, ungerechtfertigtem Zorn hinreißen. Sie versuchten sogar ihre Brüder umzubringen, die in Fragen des Glaubens anderer Meinung zu sein wagten, und wandelten eine heilige Ratsversammlung in einen Schauplatz des Streites und wilder Verwirrung um. Paulus empfand, daß der Name Gottes in den Augen der Heiden geschändet worden war. WA 408.5

Er aber lag nun im Gefängnis und wußte, daß seine Feinde in ihrem unsinnigen Haß nichts unversucht lassen würden, um seinen Tod herbeizuführen. War es möglich, daß seine Arbeit für die Gemeinden schon abgeschlossen sein sollte und daß nun reißende Wölfe eindringen würden? Christi Sache lag dem Apostel sehr am Herzen, und mit tiefer Besorgnis dachte er an die Gefahren, die den zerstreuten Gemeinden durch die Verfolgung seitens der Männer drohten, denen er im Hohen Rat begegnet war. Vor Kummer und Entmutigung weinte und betete er. WA 409.1

Doch auch in dieser dunklen Stunde vergaß der Herr seinen Diener nicht. Er hatte ihn vor der mörderischen Menge im Hofe des Tempels bewahrt, war vor dem Hohen Rat mit ihm gewesen und würde ihn auch jetzt in der Festung nicht verlassen. Und als Antwort auf das ernste Flehen des Apostels um Führung offenbarte Gott sich ihm. “In der folgenden Nacht stand der Herr bei ihm und sprach: Sei getrost! denn wie du für mich Zeuge warst in Jerusalem, so mußt du auch in Rom Zeuge sein.” Apostelgeschichte 23,11. WA 409.2

Schon lange hatte sich Paulus mit dem Gedanken getragen, Rom zu besuchen. Auch dort wollte er gern für Christus wirken, hatte aber wegen der Feindseligkeit der Juden bisher davon absehen müssen. Daher konnte er es kaum fassen, daß er gerade jetzt als Gefangener dorthin kommen sollte. WA 409.3

Während der Herr seinen Diener ermutigte, trachteten seine Feinde wutentbrannt danach, ihn umzubringen. “Als es aber Tag ward, taten sich etliche Juden zusammen und verschworen sich weder zu essen noch zu trinken, bis daß sie Paulus getötet hätten. Ihrer aber waren mehr als vierzig, die solchen Bund machten.” Apostelgeschichte 23,12.13. Das war ein Fasten, wie es der Herr durch Jesaja verurteilt hatte: “Wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein.” Jesaja 58,4. WA 409.4

Die Verschwörer “traten zu den Hohenpriestern und Ältesten und sprachen: Wir haben uns hart verschworen, nichts zu essen, bis wir Paulus getötet haben. So wirkt nun ihr mit dem Hohen Rat bei dem Oberhauptmann dahin, daß er ihn zu euch herunterführe, als wolltet ihr ihn besser verhören; wir aber sind bereit, ihn zu töten, ehe denn er vor euch kommt.” Apostelgeschichte 23,14.15. WA 410.1

Anstatt diesen grausamen Anschlag zurückzuweisen, stimmten ihm die Priester und Obersten sofort zu. Paulus hatte die Wahrheit gesprochen, als er Ananias mit einer getünchten Wand verglich. WA 410.2

Doch Gott griff ein, um das Leben seines Dieners zu retten. Als der Sohn der Schwester des Paulus von dem Anschlag der Meuchelmörder hörte, “ging er hin und kam in die Burg und berichtete es Paulus. Paulus aber rief zu sich einen von den Hauptleuten und sprach: Diesen Jüngling führe hin zu dem Oberhauptmann, denn er hat ihm etwas zu sagen. Der nahm ihn und führte ihn zum Oberhauptmann und sprach: Der Gefangene Paulus rief mich zu sich und bat mich, diesen Jüngling zu dir zu führen, der dir etwas zu sagen habe.” Apostelgeschichte 23,16-18. WA 410.3

Freundlich empfing Klaudius Lysias den Jüngling, nahm ihn zur Seite und fragte ihn: “Was it’s, das du mir zu sagen hast?” Der Jüngling erwiderte: “Die Juden sind eins geworden, dich zu bitten, daß du morgen Paulus vor den Hohen Rat herunterbringen lassest, als wollten sie ihn besser verhören. Du aber traue ihnen nicht; denn es lauern auf ihn mehr als vierzig Männer von ihnen, die haben sich verschworen, weder zu essen noch zu trinken, bis sie ihn getötet hätten; und sind jetzt bereit und warten auf deine Zusage. WA 410.4

Da ließ der Oberhauptmann den Jüngling von sich und gebot ihm, niemand zu sagen, daß er ihm solches eröffnet hatte.” Apostelgeschichte 23,19-22. WA 411.1

Lysias beschloß daraufhin, Paulus der Gerichtsbarkeit des Landpflegers Felix zu überweisen. Die Juden waren leicht erregbar, und so kam es oft zu Ausschreitungen unter ihnen. Die ständige Anwesenheit des Apostels in Jerusalem hätte für die Stadt gefährliche Folgen nach sich ziehen können, aber auch für den Kommandanten selbst. Deshalb rief er “zu sich zwei Hauptleute und sprach: Rüstet zweihundert Kriegsknechte, daß sie nach Cäsarea ziehen, und siebzig Reiter und zweihundert Schützen auf die dritte Stunde der Nacht; und haltet Tiere bereit, daß sie Paulus draufsetzen und bringen ihn wohlbewahrt zu Felix, dem Landpfleger.” Apostelgeschichte 23,23.24. WA 411.2

Wollte man Paulus wegbringen, so durfte man keine Zeit verlieren. “Die Kriegsknechte, wie ihnen befohlen war, nahmen Paulus und führten ihn bei Nacht nach Antipatris.” Apostelgeschichte 23,31. Von dort zogen die Reiter mit dem Gefangenen weiter nach Cäsarea, während die vierhundert Soldaten nach Jerusalem zurückkehrten. WA 411.3

Der Befehlshaber der Abteilung übergab den Gefangenen an Felix und überreichte ihm gleichzeitig einen Brief, den der Oberhauptmann ihm anvertraut hatte: WA 411.4

“Klaudius Lysias dem edlen Landpfleger Felix, Gruß zuvor! Diesen Mann hatten die Juden gegriffen und wollten ihn töten. Da kam ich mit dem Kriegsvolk dazu und riß ihn von ihnen, als ich erfuhr, daß er ein römischer Bürger ist. Da ich aber erkunden wollte die Ursache, um deretwillen sie ihn beschuldigten, führte ich ihn hinunter vor ihren Hohen Rat. Da fand ich, daß er beschuldigt ward wegen Fragen ihres Gesetzes, aber keine Anklage gegen sich hatte, des Todes oder des Gefängnisses wert. Und da vor mich kam, daß etliche auf ihn lauerten, sandte ich ihn alsbald zu dir und wies auch die Kläger an, daß sie vor dir sagten, was sie wider ihn hätten.” Apostelgeschichte 23,26-30. WA 411.5

Als Felix diese Mitteilung gelesen hatte, fragte er, aus welcher Provinz der Gefangene stamme, und als er hörte, daß er aus Cilizien sei, sprach er: “Ich will dich verhören, wenn deine Verkläger auch da sind. Und hieß ihn verwahren in dem Palast des Herodes.” Apostelgeschichte 23,35. WA 412.1

Das war nicht das erste Mal, daß ein Diener des Herrn bei Nichtjuden vor der Bosheit derer eine Zuflucht fand, die sich als Gottesvolk ausgaben. In ihrer Wut gegen Paulus hatten die Juden der dunklen Liste der Geschichte ihres Volkes ein weiteres Verbrechen hinzugefügt. Ihre Herzen hatten sie noch mehr gegen die Wahrheit verhärtet und besiegelten damit ihr Schicksal um so sicherer. WA 412.2

Nur wenige erfassen die volle Bedeutung der Worte, die Jesus in der Synagoge zu Nazareth sprach, als er sich selbst als den Gesalbten zu erkennen gab. Er bezeichnete es als seine Aufgabe, die Betrübten und Sündenbeladenen zu trösten, glücklich zu machen und zu erretten. Als er aber sah, wie Stolz und Unglauben die Herzen seiner Zuhörer beherrschten, erinnerte er sie daran, daß Gott sich in vergangenen Zeiten von seinem auserwählten Volk abgewandt habe, weil es voll Unglaubens und Empörung war, und daß er sich in den Heidenländern denen offenbart habe, die das göttliche Licht nicht verwarfen. Die Witwe zu Zarpath und Naeman, der Syrer, hatten nach dem ihnen zuteil gewordenen Licht gelebt und seien deshalb gerechter erfunden worden als Gottes auserwähltes Volk, das von ihm abgefallen war und um Bequemlichkeit und irdischer Ehre willen seine Grundsätze preisgegeben hatte. WA 412.3

Jesus sagte den Juden zu Nazareth eine erschreckende Wahrheit, als er ihnen erklärte, daß der treue Gottesbote im abgefallenen Israel nicht sicher leben könne. Sie würden weder seinen Wert schätzen noch seine Arbeit anerkennen. Während die jüdischen Oberen vorgaben, sich mit großem Eifer für Gottes Ehre und das Wohl des Volkes einzusetzen, waren sie beider Feinde. Durch ihr Beispiel und ihre Vorschriften führten sie das Volk immer weiter vom Gehorsam Gott gegenüber ab und brachten es schließlich so weit, daß der Herr ihnen in der Zeit der Not keine Zuflucht mehr sein konnte. WA 412.4

Des Heilands Worte des Tadels, die den Männern von Nazareth galten, trafen im Falle des Apostels Paulus nicht nur auf die Ungläubigen Juden, sondern auch auf seine eigenen Glaubensbrüder zu. Hätten die Leiter der Gemeinde ihre Gefühle der Verbitterung gegen Paulus überwunden und ihn als den anerkannt, der von Gott berufen war, das Evangelium unter die Nichtjuden zu bringen, dann würde der Herr ihnen seinen Knecht erhalten haben. Es entsprach nicht der Absicht Gottes, daß die Arbeit des Apostels Paulus so bald zum Abschluß kommen sollte; er vollbrachte aber auch kein Wunder, um dem entgegenzutreten, was von den Leitern der Gemeinde zu Jerusalem durch ihr Verhalten ausgelöst worden war. WA 413.1

Dieselbe Gesinnung führt immer noch zu den gleichen Folgen. Die Gemeinde hat sich selbst schon mancher Segnung beraubt, weil sie versäumte, Gottes Gnade wahrzunehmen und sich zunutze zu machen. Gar oft hätte der Herr die Wirksamkeit treuer Diener verlängert, wenn deren Arbeit gewürdigt worden wäre! Läßt die Gemeinde es aber zu, daß der Seelenfeind die Worte und Handlungen des Dieners Christi entstellt und verkehrt auslegt, wagt sie es, sich ihm hindernd in den Weg zu stellen und sein Wirken zu beeinträchtigen, dann entzieht der Herr ihr zuweilen den verliehenen Segen. WA 413.2

Satan wirkt beständig durch seine Werkzeuge, um diejenigen zu entmutigen und zu verderben, die Gott erwählt hat, ein bedeutendes und gutes Werk zu tun. Selbst wenn sie bereit sind, für die Sache Christi ihr Leben hinzugeben, so wird der Erzbetrüger ihren Brüdern Zweifel einzuflößen versuchen, die, falls ihnen Raum gegeben wird, das Vertrauen in ihre Rechtschaffenheit untergraben und so ihr Wirken beeinträchtigen. Nur zu oft gelingt es Satan, den Dienern Christi durch ihre eigenen Brüder solche Herzensnot zu bereiten, daß Gott in seiner Barmherzigkeit eingreifen muß, um seinen verfolgten Knechten Ruhe zu geben. Erst wenn deren Hände über der regungslosen Brust gefaltet liegen und ihre warnende und ermutigende Stimme verstummt ist, mögen die Verstockten schließlich aufgerüttelt werden und erkennen, welche wertvollen Segnungen sie von sich gewiesen haben. Vielleicht wird der Tod solcher Diener endlich bewirken, was ihnen im Leben versagt geblieben ist. WA 413.3