Patriarchen und Propheten
Kapitel 10: Der Turm zu Babel
Um nach der Sintflut die unbewohnte, von Verderbtheit gereinigte Erde wieder zu bevölkern, hatte Gott nur eine Familie gerettet, Noah und seine Angehörigen. Zu ihm hatte er gesagt: “Dich habe ich gerecht erfunden vor mir zu dieser Zeit.” 1.Mose 7,1. Doch bei seinen drei Söhnen zeigten sich bald wieder die charakterlichen Merkmale der untergegangenen Welt. Schon in Sem, Ham und Japheth, den Stammvätern des Menschengeschlechts, war die Wesensart ihrer Nachkommen erkennbar. PP 94.1
Unter dem Einfluß des Heiligen Geistes sagte Noah die Geschichte der drei großen Menschenrassen voraus, die von ihnen herkommen sollten. Als er die Nachkommen Hams allerdings mehr im Sohne als im Vater skizzierte, sagte er: “Verflucht sei Kanaan und sei seinen Brüdern ein Knecht aller Knechte!” 1.Mose 9,25. Der widernatürliche Frevel Hams machte deutlich, daß er kindliche Ehrfurcht schon lange nicht mehr kannte. In seiner Pietätlosigkeit zeigte sich ein häßlicher Charakter. Diese schlechten Eigenschaften vererbten sich auf Kanaan und seine Nachkommen, die durch ihre fortgesetzte Schuld Gottes Strafgerichte heraufbeschworen. PP 94.2
Die Ehrfurcht, mit der sich dagegen Sem und Japheth ihrem Vater gegenüber verhielten und damit vor dem göttlichen Gesetz, verhieß ihnen und ihren Nachkommen eine lichtere Zukunft. Der Spruch über diese Söhne lautete: “Gelobt sei der Herr, der Gott Sems, und Kanaan sei sein Knecht! Gott breite Japheth aus und lasse ihn wohnen in den Zelten Sems, und Kanaan sei sein Knecht!” 1.Mose 9,26.27. Sems Linie sollte das auserwählte Volk des göttlichen Bundes und des verheißenen Erlösers werden. Jahwe war der Gott Sems. Von ihm würden Abraham und das Volk Israel abstammen und aus diesem wiederum Christus kommen. “Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist!” Psalm 144,15. Und Japheth sollte “wohnen in den Zelten Sems”. An den Segnungen des Evangeliums sollten hauptsächlich die Nachkommen Japheths Anteil haben. PP 94.3
Die Nachkommenschaft Kanaans sank in die entwürdigendsten Formen des Heidentums ab. Obwohl der Fluch der Weissagung sie zur Sklaverei verdammt hatte, hielt Gott das Verhängnis jahrhundertelang zurück. Er ließ ihre Gottlosigkeit und Verderbtheit zu, bis die Grenzen seiner Geduld erreicht waren. Dann gingen sie ihres Besitztums verlustig und wurden Knechte der Nachkommen Sems und Japheths. PP 95.1
Noahs Weissagung war keine eigenmächtige Zornesandrohung oder Gnadenverkündigung. Sie legte weder Charakter noch Schicksal seiner Söhne fest. Aber sie zeigte die Folgen der selbsterwählten Lebensweise und Wesensart, die jeder entwickeln würde. So machte Gott ihnen und ihren Nachkommen seine Absicht deutlich, wobei er ihre Wesensart und Verhaltensweise berücksichtigte. In der Regel erben Kinder die Veranlagung und Neigungen ihrer Eltern; da sie auch deren Beispiel folgen, begehen sie außerdem die Sünden der Eltern. So werden die Sünden von einer Generation zur andern vererbt. Damit trat die Schlechtigkeit und Unehrerbietigkeit Hams bei seinen Nachkommen wieder zutage und brachte über viele Generationen Fluch. “Ein einziger Bösewicht verdirbt viel Gutes.” Prediger 9,18. PP 95.2
Wie reich wurde andererseits Sems Achtung vor seinem Vater belohnt, und welche glänzende Reihe frommer Männer tritt in seiner Nachkommenschaft auf! “Der Herr kennt die Tage der Frommen”, und ihr “Geschlecht wird zum Segen sein”. Psalm 37,18.26. — “So sollst du nun wissen, daß der Herr, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten.” 5.Mose 7,9. PP 95.3
Eine Zeitlang blieben Noahs Nachkommen in den Bergen wohnen, wo die Arche gelandet war. Aber als sie zahlenmäßig wuchsen, führte der Glaubensabfall bald zur Trennung. Die ohne Gott und Gesetzeszwang leben wollten, fühlten sich durch das Beispiel und die Verkündigung ihrer gottesfürchtigen Mitmenschen ständig behelligt. Deshalb beschlossen sie nach einiger Zeit, sich von denen zu trennen, die Gott verehrten. Sie zogen in die Ebene Sinear am Ufer des Euphrat. Die Schönheit und die Fruchtbarkeit des Bodens lockten zum Ansiedeln, also entschieden sie sich zu bleiben. PP 95.4
Ferner planten sie, hier eine Stadt und in ihr einen Turm von solch gewaltiger Höhe zu bauen, daß er einmal die Bewunderung der Welt erregen sollte. Der Sinn dieses Unternehmens war, kleine, verstreute Ansiedlungen zu verhindern. Gott hatte den Menschen geboten, sich über die ganze Erde auszubreiten, sie zu füllen und sich untertan zu machen. Aber die Erbauer von Babel wurden sich einig, beieinander zu bleiben und ein Reich zu gründen, das schließlich die ganze Erde umfassen sollte. Ihre Stadt würde dann Mittelpunkt dieses Weltreiches sein. Solche Herrlichkeit mußte der ganzen Welt Bewunderung und Huldigung abnötigen und sie berühmt machen. Der bis in den Himmel aufstrebende großartige Turm sollte als ein Denkmal der Macht und Weisheit seiner Erbauer gelten und ihren Ruhm bis zu den fernsten Geschlechtern weiterleben lassen. PP 96.1
Die Bewohner der Ebene Sinear zweifelten an der Bundesverheißung, daß keine Flut wieder über die Erde kommen werde. Viele bestritten nachgerade das Dasein Gottes und machten natürliche Ursachen für die Flut verantwortlich. Andere glaubten noch an ein höheres Wesen, das die vorsintflutliche Welt vernichtete, aber sie begehrten dagegen auf wie einst Kain. Jene Leute hatten bei der Errichtung des Turmes auch ihre Sicherheit im Auge, falls doch wieder eine Sintflut käme. Sie wollten den Bau weit höher ausführen, als die Wasserflut damals gestiegen war, und damit glaubten sie, alle Gefahren gebannt zu haben. Und da sie es für möglich hielten, im Turm bis in die Wolken zu steigen, hofften sie, die Ursache der Sintflut feststellen zu können. Das ganze stolze Unternehmen war dazu bestimmt, den Ruhm seiner Erbauer zu mehren sowie künftige Generationen von Gott abzulenken und zur Abgötterei zu verführen. PP 96.2
Als der Turm teilweise fertiggestellt war, benutzte man einige Räume als Wohnung. Andere prächtig eingerichtete und ausgeschmückte Gemächer weihten sie ihren Göttern. Alle freuten sich über ihren Erfolg, priesen die silbernen und goldenen Götzen und erhoben sich gegen den Herrscher des Himmels und der Erde. PP 96.3
Plötzlich wurde dem scheinbar so glücklich vorangegangenen Werk Einhalt geboten. Engel kamen, die Absicht der Erbauer zunichte zu machen. Der Turm hatte inzwischen eine stattliche Höhe erreicht. Jene Männer, die oben bauten, konnten die Untenstehenden nicht mehr verstehen. Deshalb wurden an verschiedenen Stellen Posten aufgestellt. Jeder dieser Posten übernahm Befehle für notwendiges Material oder andere Arbeitsanweisungen und gab sie an den nächsten weiter. Als eines Tages wie bisher Anweisungen hin und her gegeben wurden, verwirrte Gott die Sprache. Daraufhin wurden zunächst die falschen Materialien und Befehle weitergeleitet, bis schließlich ein völliges sprachliches Durcheinander und Bestürzung herrschte. Eine Zusammenarbeit war nicht mehr möglich. Das ganze Werk kam zum Stillstand. Die Bauenden konnten sich die merkwürdigen Mißverständnisse nicht erklären, und weil sie ebenso zornig wie enttäuscht waren, ging es dabei nicht ohne gegenseitige Vorwürfe ab. Ihr Gemeinschaftswerk endete in Streit und Blutvergießen. Zum Zeichen des göttlichen Mißfallens zerschmetterten Blitze den oberen Teil des Turmes und schleuderten ihn zur Erde. Wieder einmal begriffen die Menschen, daß es einen Gott im Himmel gibt. PP 96.4
Bis zu dieser Zeit hatten alle Menschen dieselbe Sprache gesprochen. Jetzt fanden sich die in Gruppen zusammen, die sich verständigen konnten. Dann ging jede ihren Weg. “So zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder.” 1.Mose 11,8. Auf diese Weise wurde die Erde bevölkert. Und das eben war die Absicht des Herrn, die sich gerade dadurch verwirklichte, daß Menschen ihre Erfüllung zu verhindern suchten. PP 97.1
Nur, welchen Schaden brachte es denen ein, die sich gegen Gott erhoben hatten! Nach seinem Willen sollten sie mit ihrer Ausbreitung über die Erde nicht nur Völker bilden, sondern auch die Erkenntnis des göttlichen Willens vermitteln, damit künftigen Geschlechtern das Licht der Wahrheit hell strahlen würde. Noah, der treue Prediger der Gerechtigkeit, lebte noch 350 Jahre nach der Flut, Sem noch 500 Jahre. Ihre Nachkommen hatten also die Möglichkeit, Gottes Forderungen und die Geschichte ihrer Vorväter kennenzulernen. Aber über diese ihnen so widerwärtigen Lehren wollten sie gar nichts hören. Sie hatten kein Verlangen, Gott im Gedächtnis zu behalten. Und durch das Sprachengewirr war ihnen weitgehend ein Gedankenaustausch mit denen verschlossen, die ihnen die erforderliche Erkenntnis hätten vermitteln können. PP 97.2
Babels Erbauer waren ein mit Gott unzufriedenes Volk. Anstatt sich dankbar seiner Barmherzigkeit an Adam und des Gnadenbundes mit Noah zu erinnern, beklagten sie sich über seine Härte, weil er das erste Menschenpaar aus Eden vertrieben und die Welt durch eine Flut vernichtet hatte. Obwohl sie Gott wegen seiner Strenge und Willkür beschimpften, nahmen sie jedoch selbst die Herrschaft des grausamsten Tyrannen an. Satan suchte den Opferdienst, der Christi Tod versinnbildete, herabzuwürdigen. Und als der Götzendienst die Erinnerung daran ganz verwischt hatte, verführte er sie dazu, diese Opfer nachzuahmen und die eigenen Kinder auf den Altären ihrer Götter zu opfern. Mit der Abwendung von Gott wurden dessen Eigenschaften — Gerechtigkeit, Reinheit und Liebe — verdrängt von Unterdrückung und roher Gewalt. PP 98.1
Babels Bewohner wollten ein von Gott unabhängiges Reich errichten. Einzelne fürchteten zwar noch den Herrn, ließen sich jedoch durch die anmaßende Haltung der Gottlosen täuschen und in deren Pläne hineinziehen. Und um dieser Gläubigen willen verzögerte der Herr seine Strafgerichte, so daß die Bösen Zeit fanden, ihre wahre Wesensart zu offenbaren. Als dies die Kinder Gottes erkannten, bemühten sie sich, ihre Mitmenschen von deren üblen Vorhaben abzubringen. Aber diese waren sich in ihrer gotteslästerlichen Herausforderung völlig einig. Hätten sie sich in dieser Weise ungehindert entfalten können, hätten sie die Welt bereits in deren Anfangszeit verdorben, weil sie sich zum Zweck des Aufruhrs zusammengetan hatten. In ihrem Reich billigten sie Gott weder Herrschaft noch Ehre zu, sondern suchten die Verherrlichung ihrer selbst. Hätte Gott dieses Bündnis bestehen lassen, wäre durch eine machtvolle Bewegung alle Gerechtigkeit — und damit zugleich Friede, Glück und Sicherheit — von den Erdbewohnern genommen worden. Denn das göttliche Gesetz, das “heilig, recht und gut” (Römer 7,12) ist, suchten jene Leute durch Gebote zu ersetzen, die ihren eigenen selbstsüchtigen und grausamen Wünschen besser entsprachen. PP 98.2
Die den Herrn fürchteten, schrien zu ihm um Hilfe. “Da fuhr der Herr hernieder, daß er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten.” 1.Mose 11,5. Er ließ sich von Gnade leiten, als er die Absicht der Erbauer vereitelte und das Denkmal ihrer Vermessenheit vernichtete. Aus Barmherzigkeit verwirrte er ihre Sprache und gebot ihrem empörerischen Tun Einhalt. Gott hat lange Geduld mit der Verkehrtheit der Menschen und gibt ihnen reichlich Gelegenheit zur Umkehr. Aber er merkt auf alle ihre Anschläge, die sich gegen die Autorität seines gerechten, heiligen Gesetzes richten. Von Zeit zu Zeit streckt sich seine unsichtbare Hand, die das Zepter der Regierung hält, aus, um der Bosheit Einhalt zu gebieten. Es gibt unmißverständliche Beweise dafür, daß der Schöpfer des Weltalls, der an Weisheit, Liebe und Gerechtigkeit unübertroffen ist, als der unumstrittene Herr Himmels und der Erde zu gelten hat und niemand ihm ungestraft trotzen kann. PP 98.3
Der Turmbau zu Babel endete beschämend für seine Erfinder, und die Reste ihres stolzen Unternehmens blieben zur Erinnerung an ihre Torheit erhalten. Doch die Menschen gehen immer wieder denselben Weg: sie wollen unabhängig sein und weisen darum Gottes Gesetz zurück. Die gleiche Absicht verfolgte Satan im Himmel. Sie beherrschte auch Kain, als er sein Opfer darbrachte. PP 99.1
Es gibt auch in unserer Zeit Menschen mit hochfliegenden Plänen, Turmbauern vergleichbar. Ungläubige bauen ihre Theorien auf mutmaßliche Schlußfolgerungen der Wissenschaft und verwerfen das geoffenbarte Wort Gottes. Sie erkühnen sich, über Gottes geheiligte Herrschaft zu urteilen, sie mißachten sein Gebot und betonen die Hinlänglichkeit der menschlichen Vernunft. Denn “weil das Urteil über böses Tun nicht sogleich ergeht, wird das Herz der Menschen voll Begier, Böses zu tun”. Prediger 8,11. PP 99.2
In der vorgeblich christlichen Welt wenden sich viele von den klaren biblischen Lehren ab und bauen sich ein Glaubensbekenntnis aus menschlichen Überlegungen und gefälligen Unwahrheiten auf, auf das sie als den Weg zur Seligkeit hinweisen. Sie lauschen denen nur zu gern, die mit Beredsamkeit lehren, daß die Übertreter nicht umkommen müssen und daß man die Seligkeit auch ohne Gehorsam gegen das Gesetz Gottes erlangen könne. Wenn aber die angeblichen Nachfolger Christi den göttlichen Maßstab anlegten, kämen sie alle zur Übereinstimmung. Aber solange sie menschliche Weisheit über sein heiliges Wort stellen, werden Trennung und Zwiespalt bestehen bleiben. Die Bibel bezeichnet die verwirrende Vielfalt der Glaubensbekenntnisse und Gefolgschaften treffend mit dem Ausdruck “Babylon”, den der Prophet auf die weltliebenden Kirchen der letzten Zeit anwendet. Offenbarung 14,8; 18,2. PP 99.3
Viele suchen sich schon hier durch den Erwerb von Reichtum und Macht einen Himmel zu verschaffen. “Sie achten alles für nichts und reden böse, sie reden und lästern hoch her” (Psalm 73,8), treten menschliche Rechte mit Füßen und mißachten die göttliche Autorität. Selbstbewußt mögen sie eine Zeitlang Macht und Erfolg bei all ihren Unternehmungen genießen, aber am Ende werden Enttäuschung und Elend stehen. PP 100.1
Die Zeit ist gekommen, daß der Höchste mit der Untersuchung beginnt; er wird herabkommen und sehen, was die Menschenkinder gebaut haben. Seine Allmacht wird dabei offenbar werden und die aus menschlichem Hochmut erstandenen Werke stürzen. “Der Herr schaut vom Himmel und sieht alle Menschenkinder. Von seinem festen Thron sieht er auf alle, die auf Erden wohnen.” Psalm 33,13.14. — “Der Herr macht zunichte der Heiden Rat und wehrt den Gedanken der Völker. Aber der Ratschluß des Herrn bleibt ewiglich, seines Herzens Gedanken für und für.” Psalm 33,10.11. PP 100.2