Patriarchen und Propheten
Kapitel 6: Seth und Henoch
Der nächste Sohn, der Adam geboren wurde, sollte der Erbe der göttlichen Verheißung und des geistlichen Geburtsrechts sein. Sein Name Seth bedeutete soviel wie “Ersatz”; “denn Gott hat mir”, so sagte die Mutter, “einen andern Sohn gegeben für Abel, den Kain erschlagen hat.” 1.Mose 4,25. Dazu besaß er ein edles Wesen und trat in Abels Fußtapfen. Doch hatte er von Natur aus nicht mehr gute Eigenschaften geerbt als Kain. Zur Erschaffung Adams sagt der Bericht: “Zum Bilde Gottes schuf er ihn.” 1.Mose 1,27. Aber nach dem Fall zeugte Adam “einen Sohn, ihm gleich und nach seinem Bilde”. 1.Mose 5,3. Während Adam sündlos nach Gottes Bild erschaffen wurde, erbte Seth wie Kain die dem Verfall unterworfene Natur seiner Eltern. Zugleich aber empfing er das Wissen um den Erlöser und Unterweisung in der Rechtschaffenheit. Er war dazu begnadet, Gott zu ehren und zu dienen. Und wie Abel es getan hätte, wenn er am Leben geblieben wäre, so bemühte sich Seth, Sünder zur Umkehr und zum Gehorsam gegenüber ihrem Schöpfer zu bewegen. PP 58.1
“Und Seth zeugte auch einen Sohn und nannte ihn Enosch. Zu der Zeit fing man an, den Namen des Herrn anzurufen.” 1.Mose 4,26. Die Gläubigen beteten Gott auch vorher an. Aber als die Menschen sich vermehrten, machte sich der Unterschied zwischen den beiden Klassen deutlicher bemerkbar. Die einen bekannten offen ihre Treue zu Gott, die anderen verhehlten ihre Verachtung und ihren Ungehorsam nicht. PP 58.2
Vor dem Fall hielten unsere ersten Eltern den Sabbat, der in Eden gestiftet worden war. Und sie beobachteten ihn auch nach ihrer Vertreibung aus dem Paradiese. Sie hatten von der bitteren Frucht des Ungehorsams gekostet und erfahren, was jeder, der Gottes Gebote mit Füßen tritt, früher oder später lernen wird: daß Gottes Gebote heilig und unveränderlich sind und daß die Strafe für die Übertretung mit Sicherheit kommt. Alle Kinder Adams, die Gott treu blieben, ehrten den Sabbat. Aber Kain und seine Nachkommen achteten nicht den Ruhetag, an dem Gott geruht hatte. Sie wählten ihre Arbeits- und Ruhezeiten ohne Rücksicht auf Jahwes ausdrückliches Gebot. PP 58.3
Nachdem Kain von Gott verflucht worden war, verließ er sein Vaterhaus und betrieb zunächst Ackerbau. Dann gründete er eine Stadt, die er nach dem Namen seines ältesten Sohnes nannte. Er hatte die Gegenwart Gottes verlassen, dachte nicht mehr an die Verheißung von der Wiederherstellung Edens und suchte Besitz und Freuden auf der fluchbeladenen Erde zu finden. So stand er an der Spitze der großen Klasse von Menschen, die den Gott dieser Welt anbeten. Seine Nachkommen kannten sich bald im rein irdischen und materiellen Vorankommen aus. Um Gott jedoch kümmerten sie sich kaum und setzten seiner Absicht mit den Menschen nur Widerstand entgegen. Kain hatte mit dem Mord den Anfang gemacht, Lamech, fünfter in der Reihe seiner Nachkommen, fügte die Vielehe hinzu. In seiner überheblichen Art erkannte er Gott wohl an, aber nur um aus der Schutzverheißung für Kain die Gewähr der eigenen Sicherheit abzuleiten. Abel hatte ein Hirtenleben geführt und in Zelten oder Hütten gewohnt. Seths Nachkommen folgten diesem Beispiel und nannten sich “Gäste und Fremdlinge auf Erden”, die “eines besseren Vaterlandes, nämlich eines himmlischen” (Hebräer 11,13.16) begehrten. PP 59.1
Eine Zeitlang hielten sich die beiden Klassen voneinander fern. Das Geschlecht Kains breitete sich von seinem ersten Wohnort über die Ebenen und Täler aus, wo zuvor die Kinder Seths wohnten. Diese wiederum zogen sich in die Berge zurück, um dem verderblichen Einfluß der Kainiten zu entgehen. Solange diese räumliche Trennung bestand, pflegten die Nachkommen Seths auch reinen Gottesdienst. Aber im Laufe der Zeit wagten sie, Verbindungen mit den Talbewohnern einzugehen. Das hatte die schlimmsten Folgen. “Da sahen die Gottessöhne, wie schön die Töchter der Menschen waren.” 1.Mose 6,2. Die jungen Kainitinnen fesselten Seths Söhne so sehr, daß sie sich mit ihnen verheirateten, ohne zu bedenken, wie sehr dies Gott mißfiel. Viele Anbeter Gottes erlagen den Verlockungen, die sie jetzt ständig vor Augen hatten. Sie ließen sich zur Sünde verleiten und verloren ihr besonderes, heiliges Gepräge, wurden in Gesinnung und Tun diesen sittlich Verdorbenen ähnlich. Sie kannten kein siebentes Gebot mehr “und nahmen sich zu Frauen, welche sie wollten.” 1.Mose 6,2. Die Kinder Seths gingen “den Weg Kains”. Judas 11. Nur noch auf irdischen Wohlstand und weltliches Vergnügen bedacht, vernachlässigten sie allmählich Gottes Gebote. Die Menschen “haben ihn nicht gepriesen als einen Gott”, “sondern haben ihre Gedanken dem Nichtigen zugewandt, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert”. Deshalb “hat sie auch Gott dahingegeben in verworfenen Sinn, zu tun, was nicht taugt”. Römer 1,21.28. Wie tödlicher Aussatz breitete sich die Sünde nun über die Erde aus. PP 59.2
Nahezu tausend Jahre lebte Adam als Zeuge für die Folgen der Sünde. Vertrauensvoll suchte er gegen die Flut des Bösen anzukämpfen. Ihm war ja aufgetragen worden, seine Nachkommen in den Wegen Gottes zu unterweisen, und so bewahrte er sorgfältig, was Gott ihm offenbart hatte, um es den nachfolgenden Geschlechtern zu wiederholen. Kindern und Kindeskindern bis zur neunten Generation schilderte er ihren heiligen, glücklichen Zustand im Paradies. Er erzählte ihnen oft von seinem Fall und den Leiden, durch die Gott ihn die Notwendigkeit lehrte, sich unbedingt an sein Gesetz zu halten. Und weiter erklärte er ihnen, welche Vorkehrungen Gott in seiner Gnade zu ihrer Errettung getroffen hatte. Doch achteten nur wenige auf seine Worte. Und wie oft mußte er sich bittere Vorwürfe anhören, weil die Sünde soviel Leid über die Nachwelt gebracht hatte. PP 60.1
Adams Lebenszeit war angefüllt von Sorge in Demut und Reue. Als er Eden verließ, erfüllte ihn der Gedanke an das Sterbenmüssen mit Schrecken. Was die grauenvolle Wirklichkeit des Todes für die menschliche Familie bedeutete, erfuhr er, als sein erstgeborener Sohn Kain der Mörder seines Bruders wurde. Wegen seiner Schuld von ärgsten Gewissensbissen gequält, war Adam außerdem durch Abels Tod und Kains Verwerfung in zweifacher Weise beraubt und von Kummer niedergedrückt. Er sah die immer mehr um sich greifende Verderbtheit, die schließlich den Untergang der Welt durch eine Flut herbeiführen mußte. Das vom Schöpfer ausgesprochene Todesurteil war ihm zuerst schrecklich erschienen. Nachdem er aber beinahe tausend Jahre lang die Folgen der Sünde hatte ansehen müssen, empfand er es als Gnade, als Gott seinem leidgeprüften und sorgenvollen Dasein ein Ende setzte. PP 60.2
Trotz der Bosheit der vorsintflutlichen Welt war das keine Zeit der Unwissenheit und Barbarei, wie oft vermutet worden ist. Die damaligen Menschen waren durchaus in der Lage, einen hohen sittlichen und geistigen Stand zu erreichen. Sie verfügten über erstaunliche Körper- und Geisteskräfte und besaßen beste Möglichkeiten, ihre Kenntnisse zu erweitern. Es wäre falsch, aufgrund ihres hohen Alters auf eine späte geistige Reife zu schließen. Das Gegenteil war der Fall, und alle, die Gott fürchteten und in Übereinstimmung mit seinem Willen lebten, nahmen trotz der Frühentwicklung ihr ganzes Leben lang noch zu an Weisheit und Erkenntnis. Könnten die fähigsten Geister unserer Zeit Menschen gleichen Alters gegenübergestellt werden, die vor der Flut lebten, würden sie ihnen an geistiger und körperlicher Stärke weit unterlegen sein. Mit der Abnahme des Lebensalters und der körperlichen Stärke verringerten sich eben auch die geistigen Kräfte. Die Leistungen jener Leute, die heutzutage zwanzig bis fünfzig Jahre lang studieren, werden von aller Welt hoch gelobt. Wie begrenzt aber ist das von ihnen Erreichte, wenn man es mit dem vergleicht, was sich die Menschen erwarben, deren geistige und körperliche Kräfte sich jahrhundertelang entwickelten! PP 60.3
Natürlich erfreuen sich die heutigen Menschen der Errungenschaften ihrer Vorfahren. Männer von überragendem Verstand, die geplant, geforscht und geschrieben haben, überließen der Nachwelt die Ergebnisse ihrer Arbeit. Aber wieviel mehr Vorteile hatten sie in jenen alten Zeiten, was allein das menschliche Wissen betrifft! Über Jahrhunderte sahen sie den in ihrer Mitte, der nach Gottes Bild gemacht war, den der Schöpfer selbst als “gut” bezeichnet hatte, den Mann, den Gott persönlich in aller Weisheit bezüglich der Dinge dieser Welt unterwies. Vom Schöpfer hatte Adam die Geschichte der Schöpfung erfahren. Die Ereignisse, die sich in neun Jahrhunderten zutrugen, konnte er bezeugen und diese seine Kenntnisse an die Nachkommen weitergeben. Die Menschen vor der Flut hatten weder Bücher noch geschriebene Berichte, aber bei ihrer guten körperlichen und geistigen Verfassung ein ganz hervorragendes Gedächtnis. Sie waren in der Lage, alles Mitgeteilte zu verstehen, zu behalten und es ihrerseits den Nachkommen uneingeschränkt zu überliefern. Hunderte von Jahren lebten sieben Generationen gleichzeitig auf der Erde. Wie sollten sie da nicht die Gelegenheit nutzen, einander zu beraten, Wissen und Erfahrung auszutauschen? PP 61.1
Der Vorzug jener Menschen damals, Gotteserkenntnis durch seine Werke zu gewinnen, blieb bis heute unübertroffen. Es war demnach keine Zeit geistlicher Finsternis, sondern vielmehr großer Erkenntnis. Alle Menschen konnten sich von Adam unterrichten lassen, und die Gottesfürchtigen wurden dazu von Christus und den Engeln unterwiesen. Auch der Garten Gottes blieb ihnen noch jahrhundertelang ein stummer Wahrheitszeuge. An der Pforte des Paradieses, das Cherubim bewachten, offenbarte sich Gottes Herrlichkeit. Dorthin kamen die ersten Anbeter. Hier errichteten sie Altäre und brachten ihre Opfer dar wie vordem auch Kain und Abel. Und Gott neigte sich herab, mit ihnen Umgang zu pflegen. PP 61.2
Solange Eden im Blickfeld der Menschen stand und der Eingang von wachsamen Engeln versperrt wurde, konnte niemand an seinem Vorhandensein zweifeln. Die Schöpfungsordnung, der Zweck des Gartens, die Geschichte der beiden Bäume, die so eng mit dem Schicksal des Menschen verbunden waren, blieben unbestrittene Tatsachen. Und solange Adam lebte, waren Gottes Dasein und höchste Autorität sowie die Verbindlichkeit seines Gesetzes Wahrheiten, die die Menschen nicht so bald in Frage stellten. PP 62.1
Trotz der überhandnehmenden Gottlosigkeit gab es eine Reihe frommer, edler Männer, die durch die Gemeinschaft mit Gott geadelt wurden und wie in himmlischer Vertrautheit lebten. Bei allem gediegenen Verstand und bei allen wunderbaren Kenntnissen empfanden sie es als heiligen Auftrag, durch rechtschaffene Gesinnung und gläubiges Verhalten beispielgebend zu sein — und das nicht nur für ihre Zeitgenossen, sondern auch für künftige Generationen. Die Heilige Schrift nennt nur einige der hervorragendsten Männer. Aber Gott hatte zu allen Zeiten treue Zeugen und aufrichtige Anbeter. PP 62.2
Von Henoch sagt die Schrift, daß er mit 65 Jahren einen Sohn zeugte. Danach “wandelte” er noch dreihundert Jahre “mit Gott”. 1.Mose 5,24. Henoch liebte Gott in aller Ehrfurcht und hielt seine Gebote. Er gehörte zu der frommen Linie, die den rechten Glauben bewahrte, zu den Ahnen des verheißenen Nachkommen. Aus Adams Munde hatte er die traurige Geschichte des Falles erfahren, aber auch die tröstliche Kunde von der Vergebung, wie sie aus Gottes Verheißung zu erkennen war. Deshalb baute er auf den künftigen Erlöser. Aber nach der Geburt eines eigenen Sohnes erlebte Henoch noch etwas viel Wesentlicheres. Er trat in noch engere Beziehung zu Gott, denn er erkannte die Verpflichtungen und die Verantwortung eines Gotteskindes besser. Als er die Liebe seines Kindes erkannte und dessen argloses Vertrauen zum Schutz des Vaters sah, spürte er tiefes, zärtliches Verlangen nach diesem erstgeborenen Sohn. Da erst ging ihm die wunderbare Liebe Gottes zu den Menschen in der Hingabe seines Sohnes auf und das Vertrauen, das Kinder Gottes auf ihren himmlischen Vater setzen dürfen. Die unendliche, unergründliche Liebe Gottes durch Christus beschäftigte ihn Tag und Nacht. Und mit der ganzen Inbrunst seiner Seele suchte er diese Liebe seiner Umwelt kundzutun. PP 62.3
Henochs Gemeinschaft mit Gott bekundete sich weder in Verzükkung noch in Gesichten, sondern in den Pflichten des Alltags. Er wurde kein Einsiedler, der sich von der Welt abschloß. Er hatte ja in der Welt ein Werk für Gott zu tun. Als Ehemann und Vater, als Freund und Bürger war er im Umgang mit Menschen der standhafte Knecht des Herrn. PP 63.1
Er lebte im Einklang mit dem Willen Gottes, denn “können etwa zwei miteinander wandern, sie seien denn einig untereinander?” Amos 3,3. Und dieser fromme Lebenswandel dauerte dreihundert Jahre. Viele Christen wären wohl ernster und frömmer, wenn sie wüßten, daß sie nur noch kurze Zeit zu leben hätten, oder daß die Wiederkunft Christi vor der Tür stünde. Aber Henochs Glaube wurde im Lauf der Zeit nur um so stärker und seine Liebe inniger. PP 63.2
Henoch war ein Mann mit scharfem Verstand und umfassendem Wissen, also hochgebildet. Gott zeichnete ihn auch durch besondere Offenbarungen aus. Und doch blieb er einer der demütigsten Menschen, während er in dauernder Gemeinschaft mit dem Himmel lebte und sich das Gefühl für Gottes Größe und Vollkommenheit bewahrte. Je enger die Verbindung mit Gott war, desto stärker empfand er seine Schwachheit und Unvollkommenheit. PP 63.3
Betrübt wegen der überhandnehmenden Bosheit der Gottlosen und aus Sorge, ihr Unglaube könnte seine Ehrfurcht mindern, vermied Henoch den dauernden Umgang mit ihnen. Er verbrachte viel Zeit in der Einsamkeit mit stillen Betrachtungen und Gebet. So wartete er vor dem Herrn und suchte nach einer klaren Erkenntnis seines Willens. Für ihn war Gebet das Atmen der Seele. Er lebte ganz unter dem Einfluß von oben. PP 63.4
Durch heilige Engel offenbarte Gott Henoch seine Absicht, die Welt durch eine Flut zu vernichten. Er eröffnete ihm auch den Erlösungsplan in umfassenderer Weise. Durch den Geist der Weissagung führte er ihn durch die Geschlechter, die nach der Flut leben würden, und zeigte ihm die bedeutenden Ereignisse, die in Verbindung mit dem zweiten Kommen Christi und dem Ende der Welt geschehen werden. PP 63.5
Was Henoch beunruhigte, war das Schicksal der Toten. Es schien ihm, als ob Gute wie Böse in gleicher Weise wieder zu Staub würden und damit für sie alles vorbei sei. Das Leben der Gerechten jenseits des Grabes war ihm verborgen. In prophetischer Schau erhielt er Unterweisung über den Tod Christi, und er sah ihn kommen in Herrlichkeit, begleitet von allen heiligen Engeln, um sein Volk aus dem Grabe zu erlösen. Er sah auch den verderbten Zustand der Welt zur Zeit der Wiederkunft Christi, das überhebliche, vermessene, eigenwillige Geschlecht jener Tage, das den einigen Gott und den Herrn Jesus Christus nicht anerkennt, das Gesetz mit Füßen tritt und die Versöhnung verachtet. Er sah, wie die Gerechten mit Ruhm und Ehre gekrönt und wie die Bösen aus Gottes Gegenwart verbannt und mit Feuer vernichtet wurden. PP 64.1
Henoch wurde ein Prediger der Gerechtigkeit und verkündigte, was Gott ihm offenbart hatte. Die Gottesfürchtigen suchten diesen frommen Mann auf, um sich belehren zu lassen und mit ihm zu beten. Er arbeitete auch in der Öffentlichkeit, um Gottes Botschaft allen zugänglich zu machen, die sich warnen lassen wollten. Dabei beschränkten sich seine Bemühungen aber nicht auf die Sethiten. Auch in dem Lande, in das Kain vor Gottes Gegenwart zu fliehen suchte, verkündete der Prophet Gottes die wunderbaren Ereignisse, die ihm im Gesicht gezeigt worden waren. “Siehe”, so sagte er, “der Herr kommt mit viel tausend Heiligen, Gericht zu halten über alle und zu strafen alle Gottlosen für alle Werke ihres gottlosen Wandels.” Judas 14.15. PP 64.2
Furchtlos wies er seine Zeitgenossen um ihrer Sünden willen zurecht. Er predigte ihnen die Liebe Gottes in Christus und ermahnte sie, ihre bösen Wege doch aufzugeben. Andrerseits tadelte er die herrschende Ungerechtigkeit und warnte seine Zeitgenossen vor dem Gericht, das die Übertreter ganz gewiß heimsuchen würde. Aus Henoch sprach der Geist Christi, der sich aber nicht nur in Liebe, Mitleid und dringenden Bitten äußerte. Die frommen Männer führen nicht nur milde Reden. Vielmehr legt Gott seinen Boten Wahrheiten in Herz und Mund, die scharf und durchdringend sind wie ein zweischneidiges Schwert. PP 64.3
Henochs Zuhörer verspürten wohl die Kraft Gottes, die aus ihm sprach. Einige ließen sich auch warnen und gaben ihre Sünden auf. Aber die große Menge verspottete ihn und ging nur um so dreister böse Wege. In den letzten Tagen haben die Diener Gottes der Welt eine ähnliche Botschaft zu bringen, und auch sie wird mit Unglauben und Gespött aufgenommen werden. Wie die Menschheit vor der Sintflut, so wird auch das letzte Geschlecht die Warnungen der Boten Gottes zu leicht nehmen. PP 65.1
Mitten in einem Leben rastloser Arbeit hielt Henoch unverwandt an der Gemeinschaft mit Gott fest. Je stärker und nachhaltiger seine Anstrengungen wurden, desto ernstlicher betete er. Hin und wieder schloß er sich von aller Geselligkeit aus. Denn wenn er eine Zeitlang unter den Menschen war und mit Unterweisung und gutem Beispiel ihnen zum Segen gewirkt hatte, hungerte und dürstete ihn nach jener Erkenntnis, die nur Gott gewähren kann; um sie zu erhalten, zog er sich zuweilen zurück. Nach Zeiten solcher inneren Gemeinschaft spiegelte Henoch mehr und mehr das Bild Gottes wider. Sein Angesicht war verklärt von heiligem Licht, wie es aus Jesu Antlitz leuchtete. Wenn er von diesen Begegnungen mit Gott zurückkehrte, nahmen selbst die Gottlosen den Abglanz des Himmels mit Ehrfurcht an ihm wahr. PP 65.2
Die Bosheit der Menschen hatte nun solches Ausmaß angenommen, daß Gott die Vernichtung über sie aussprach. Jahr für Jahr wurde der Strom menschlicher Schuld breiter und tiefer, und die Wolken des göttlichen Gerichts ballten sich immer finsterer zusammen. Der Glaubenszeuge Henoch warnte und bat unentwegt. Er mühte sich, den Strom der Schuld einzudämmen und damit die Strafe abzuwenden. Das sündige, vergnügungssüchtige Volk hörte zwar nicht auf ihn, doch wußte er, daß Gott seine Arbeit guthieß. Deshalb kämpfte er gewissenhaft weiter gegen das überhandnehmende Übel, bis Gott ihn aus dieser sündigen Welt in die reinen Freuden des Himmels aufnahm. PP 65.3
Henochs Zeitgenossen verspotteten ihn, weil er so töricht war, keinen Wert auf Gold und Silber oder irdischen Besitz zu legen. Aber sein Herz richtete sich auf ewige Schätze. Er schaute auf die himmlische Stadt, denn er hatte den König von Zion inmitten seiner Herrlichkeit gesehen. Er war mit seinen Gedanken, Gefühlen und Verrichtungen bei ewigen Dingen. Und je größer die Ungerechtigkeit wurde, desto sehnlicher verlangte ihn nach der oberen Heimat. Obwohl noch auf Erden, wohnte er im Glauben schon im Reiche des Lichts. PP 65.4
“Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.” Matthäus 5,8. Diese Reinheit der Seele, die Übereinstimmung mit dem Himmel erstrebte Henoch dreihundert Jahre lang. In dieser Weise wandelte er mit Gott. Tag für Tag sehnte er sich nach einer engeren Verbindung mit ihm. Immer vertrauter war ihre Gemeinschaft geworden, bis Gott ihn zu sich nahm. Henoch hatte schon an der Schwelle zur Ewigkeit gestanden; nur ein Schritt lag zwischen ihm und dem Lande der Glückseligkeit. Und nun trat er als erster der Menschen durch die ihm geöffneten Tore der heiligen Stadt, um dort, wie schon auf Erden, mit Gott zu wandeln. PP 66.1
Sein Fehlen machte sich auf Erden bemerkbar. Man vermißte die Stimme, die Tag für Tag gewarnt und gelehrt hatte. Einzelne Gerechte und auch einige Böse hatten sein Weggehen miterlebt. In der Hoffnung, ihn an einem der Plätze zu finden, wohin er sich gern zurückzog, suchten seine Freunde nach ihm. In ähnlicher Weise forschten später die Prophetenkinder nach Elia. Aber vergeblich. Sie berichteten, er sei nirgends zu finden — Gott hatte ihn hinweggenommen. PP 66.2
Durch Henochs Entrückung wollte Gott vielen eine wichtige Lehre erteilen. Nicht wenige standen nämlich in der Gefahr, wegen der furchtbaren Folgen der Sünde Adams mutlos zu werden. Sie fragten sich: “Was nützt es, den Herrn gefürchtet und seinen Geboten gehorcht zu haben, wenn ein schwerer Fluch auf der Menschheit ruht und der Tod unser aller Schicksal ist?” Aber die Unterweisungen, die Gott Adam gegeben, Seth wiederholt und Henoch bestätigt hatte, bannten Dunkelheit und Finsternis. Sie gaben dem Menschen die Hoffnung, daß, wie durch Adam der Tod gekommen war, durch den verheißenen Erlöser Leben und Unsterblichkeit kommen würden. Der Widersacher verführte die Menschen zu dem Glauben, es gäbe weder Lohn für die Gerechten noch Strafe für die Bösen, und es sei dem Menschen unmöglich, Gottes Gebote zu halten. Aber im Falle Henochs sagte Gott von sich, “daß er sei und denen, die ihn suchen, ein Vergelter sein werde”. Hebräer 11,6. Er offenbarte damit, wie er mit denen verfahren werde, die seine Gebote halten. Henoch lehrte die Menschen, daß es wohl möglich ist, dem Gesetz Gottes zu gehorchen. Selbst unter Sündern und Unreinen könnten sie durch Gottes Gnade der Versuchung widerstehen und rein und fromm bleiben. Sie sahen an seinem Beispiel, wie gesegnet solch ein Leben war. Seine Entrückung bewies die Wahrheit seiner Prophezeiung sowohl über das künftige Leben in Freude, Herrlichkeit und Unsterblichkeit als Lohn für die Gehorsamen als auch über die Verdammnis, das Elend und den Tod für die Übeltäter. PP 66.3
“Durch den Glauben ward Henoch weggenommen, daß er den Tod nicht sähe, ... denn vor seiner Wegnahme hat er das Zeugnis gehabt, daß er Gott gefallen habe.” Hebräer 11,5. Inmitten einer gottlosen, zum Untergang verurteilten Welt lebte er in solch enger Gemeinschaft mit Gott, daß der Herr ihn nicht in die Gewalt des Todes fallen ließ. Das gottähnliche Dasein dieses Propheten verkörpert jenen Zustand der Heiligkeit, den alle erreichen müssen, die bei Christi Wiederkunft “erkauft sind von der Erde”. Offenbarung 14,3. PP 67.1
Wie vor der Sintflut wird die Ungerechtigkeit überhandnehmen. Die Menschen werden den Eingebungen ihrer verderbten Herzen und den Lehren trügerischer Philosophie folgen und sich gegen die Autorität des Himmels auflehnen. Aber wie Henoch werden die Kinder Gottes nach Herzensreinheit und Übereinstimmung mit Gottes Willen streben, bis sie das Bild Christi widerspiegeln. Sie werden die Welt vor der Wiederkunft des Herrn und vor dem Gericht warnen, das die Übertreter treffen wird. Durch ihr vorbildliches, geheiligtes Verhalten werden sie die Sünden der Gottlosen verurteilen. Wie Henoch in den Himmel entrückt wurde, ehe die Welt in den Fluten unterging, so sollen die lebenden Gerechten von der Erde aufgenommen werden, bevor sie durch Feuer vernichtet wird. Der Apostel sagt: “Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und dasselbe plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune.” 1.Korinther 15,51.52. — “Denn er selbst, der Herr, wird mit befehlendem Wort, mit der Stimme des Erzengels und mit der Posaune Gottes herniederkommen vom Himmel.” 1.Thessalonicher 4,16. — “Denn es wird die Posaune schallen, und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden.” 1.Korinther 15,52. — “Die Toten in Christus werden auferstehen zuerst. Danach wir, die wir leben und übrigbleiben, werden zugleich mit ihnen hingerückt werden in den Wolken, dem Herrn entgegen in die Luft, und werden so bei dem Herrn sein allezeit. So tröstet euch nun mit diesen Worten untereinander.” 1.Thessalonicher 4,16-18. PP 67.2