Patriarchen und Propheten
Kapitel 52: Die jährlichen Feste
Dreimal jährlich kam ganz Israel zum Gottesdienst am Heiligtum zusammen. Eine Zeitlang war Silo der Ort dieser Zusammenkünfte; später wurde Jerusalem Mittelpunkt der Anbetung und der feierlichen Feste. PP 518.1
Im Umkreis der Israeliten lebten wilde, kriegerische Völker, die darauf brannten, sich ihres Landes zu bemächtigen. Und doch sollten alle Männer, die noch rüstig waren, und alles Volk, das die Reise machen konnte, dreimal im Jahr ihre Häuslichkeit verlassen und zum Versammlungsort im Innern des Landes kommen. Was hätte nun ihre Feinde gehindert, die ungeschützten Heime zu überfallen und sie mit Feuer und Schwert zu verwüsten? Wer hätte ein Eindringen des Gegners in das Land verhüten können, dessen Folge die Gefangenschaft Israels gewesen wäre? Aber Gott hatte ja verheißen, sein Volk zu schützen. “Der Engel des Herrn lagert sich um die her, die ihn fürchten, und hilft ihnen heraus.” Psalm 34,8. Während die Israeliten hinaufgingen, um anzubeten, würde Gottes Kraft ihre Feinde zurückhalten. Seine Verheißung lautete: “Ich werde die Heiden vor dir ausstoßen und dein Gebiet weit machen, und niemand soll dein Land begehren, während du dreimal im Jahr hinaufgehst, um vor dem Herrn, deinem Gott, zu erscheinen.” 2.Mose 34,24. PP 518.2
Das erste Fest, das Passa oder Fest der ungesäuerten Brote, fand im Abib statt; das ist der erste Monat des jüdischen Jahres und entspricht der Zeit Ende März / 21Anfang April. Die Winterkälte war dann vorüber, der Spätregen hatte aufgehört, und die gesamte Natur erstrahlte in der Frische und Schönheit des Frühlings. Auf den Bergen und in den Tälern grünte es, und überall leuchteten wildwachsende Blumen. Es war kurz vor Vollmond; das machte die Abende angenehm. Diese Jahreszeit hat der geistliche Sänger so schön beschrieben: “Der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. Die Blumen sind aufgegangen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube läßt sich hören in unserm Lande. Der Feigenbaum hat Knoten gewonnen, und die Reben duften mit ihren Blüten.” Hohelied 2,11-13. PP 518.3
Aus dem ganzen Lande fluteten die Pilgerscharen nach Jerusalem. Schäfer kamen von ihren Herden, Hirten von den Bergen, Fischer vom See Genezareth, Landleute von ihren Feldern und Prophetenkinder aus ihren Schulen — alle lenkten ihre Schritte zu dem Ort, wo sich Gottes Gegenwart offenbarte. Sie reisten in kurzen Strecken, denn viele gingen zu Fuß. Die Gruppen bekamen ständig Zustrom und wurden oft sehr groß, bis sie die heilige Stadt erreichten. PP 519.1
Die Freude an der Natur weckte auch Fröhlichkeit in den Herzen der Israeliten und Dankbarkeit gegen den Geber alles Guten. Man sang die großartigen hebräischen Psalmen, welche die Herrlichkeit und Majestät Jahwes priesen. Auf den Klang der Posaune hin erscholl, von Zymbelklängen begleitet und von Hunderten von Stimmen getragen, der Dankchor: PP 519.2
“Ich freute mich über die, die mir sagten: Lasset uns ziehen zum Haus des Herrn! Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jerusalem ... wohin die Stämme hinaufziehen, die Stämme des Herrn ... zu preisen den Namen des Herrn ... Wünschet Jerusalem Glück! Es möge wohl gehen denen, die dich lieben!” Psalm 122,1-4.6. PP 519.3
Sahen sie die Berge ringsum, auf denen die Heiden ihre Opferfeuer anzuzünden pflegten, so sangen die Kinder Israel: “Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.” “Die auf den Herrn hoffen, werden nicht fallen, sondern ewig bleiben wie der Berg Zion. Wie um Jerusalem Berge sind, so ist der Herr um sein Volk her von nun an bis in Ewigkeit.” Psalm 121,1.2; 125,1.2. PP 519.4
Wenn sie die Höhen überwunden hatten und die Heilige Stadt vor ihnen lag, blickten sie voll ehrfürchtiger Scheu auf die Scharen der Anbeter, die gleich ihnen den Weg zum Tempel nahmen. Sie sahen den Weihrauch des Opfers aufsteigen, und wenn sie die Posaunen der Leviten hörten, die den heiligen Dienst ankündigten, sangen sie, von der Begeisterung der Stunde ergriffen: PP 519.5
“Groß ist der Herr und hoch zu rühmen in der Stadt unsres Gottes, auf seinem heiligen Berge. Schön ragt empor der Berg Zion, daran sich freut die ganze Welt, der Gottesberg fern im Norden, die Stadt des großen Königs.” “Es möge Friede sein in deinen Mauern und Glück in deinen Palästen!” “Tut mir auf die Tore der Gerechtigkeit, daß ich durch sie einziehe und dem Herrn danke.” “Ich will meine Gelübde dem Herrn erfüllen vor all seinem Volk in den Vorhöfen am Hause des Herrn, in dir, Jerusalem. Halleluja!” Psalm 48,2.3; 122,7; 118,19; 116,18.19. PP 519.6
In Jerusalem standen den Pilgern alle Häuser offen, Zimmer wurden unentgeltlich zur Verfügung gestellt; aber das reichte bei weitem nicht aus für die riesige Versammlung. Deshalb schlug man an allen verfügbaren Plätzen in der Stadt und auf den Hügeln in der Umgebung Wohnzelte auf. PP 520.1
Am vierzehnten Tage des Monats wurde abends das Passa gefeiert. Seine feierlichen, eindrucksvollen Zeremonien erinnerten an die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten und wiesen auf das Opfer hin, das aus der Knechtschaft der Sünde erretten sollte. Als der Heiland auf Golgatha sein Leben dahingab, verlor das Passafest seine Bedeutung. Dafür wurde das Abendmahl eingesetzt zum Gedächtnis an dasselbe Ereignis, worauf das Passa ein Vorbild war. PP 520.2
Auf das Passa folgte das siebentägige Fest der ungesäuerten Brote. Der erste und der siebente Tag waren andachtsvolle Versammlungstage, an denen keine niedrige Arbeit verrichtet werden sollte. Am zweiten Tage wurden Gott die Erstlingsfrüchte des Jahres dargebracht. In Palästina war Gerste das früheste Getreide, und es reifte gerade zu Beginn des Festes. Eine Gerstengarbe schwangen die Priester vor dem Altar Gottes als Bekenntnis, daß alles ihm gehörte. Erst nach dieser Zeremonie durfte die Ernte eingesammelt werden. PP 520.3
Fünfzig Tage nach der Darbringung der Erstlingsfrüchte war Pfingsten, auch Ernte- oder Wochenfest genannt. Als Ausdruck der Dankbarkeit für das als Speise zubereitete Korn wurden Gott zwei mit Sauerteig gebackene Laibe Brot dargebracht. Pfingsten bestand nur aus einem Tag, und der war dem Gottesdienst vorbehalten. PP 520.4
Im siebenten Monat kam das Laubhütten- oder Erntefest. Dabei dankte man für Gottes große Güte, für die Früchte in den Gärten, in den Olivenhainen und in den Weinbergen. Es war die krönende Festversammlung des Jahres. Das Land hatte seinen Ertrag geliefert, die Ernte war in die Kornkammern eingebracht; Früchte, Öl und Wein waren eingelagert, die ersten Früchte des Jahres aufgespeichert. Nun kam das Volk mit seinen Dankesgaben zu Gott, der so überreich gesegnet hatte. Dieses Fest war vor allem eine Gelegenheit zur Freude. Es fand unmittelbar nach dem großen Versöhnungstage statt, an dem die Gläubigen die Gewißheit empfingen, daß ihrer Sünden nicht mehr gedacht werde. Versöhnt mit Gott, kamen sie nun vor ihn, um ihm für seine Güte zu danken und seine Barmherzigkeit zu preisen. Die Erntearbeit war vorüber, die Anstrengungen des neuen Jahres hatten noch nicht begonnen; man war sorgenfrei und konnte sich der Fröhlichkeit dieser Stunden hingeben. Obwohl nur Väter und Söhne zu den Festen erscheinen mußten, sollte doch, soweit das möglich war, die ganze Familie dabei sein, und bei ihrer Gastfreiheit waren auch Sklaven, Leviten, Fremde und Arme willkommen. PP 520.5
Wie das Passa war auch das Laubhüttenfest eine Gedächtnisfeier. In Erinnerung an ihr Pilgerleben in der Wüste sollten sie jetzt die Häuser verlassen und in Hütten oder Lauben wohnen aus grünen Zweigen. Sie sollten “Früchte nehmen von schönen Bäumen, Palmwedel und Zweige von Laubbäumen und Bachweiden”. 3.Mose 23,40. PP 521.1
Am ersten Tage hielt man eine andachtsvolle Versammlung ab, und den sieben Festtagen wurde ein achter hinzugefügt, der in der gleichen Weise begangen wurde. PP 521.2
Bei diesen jährlichen Zusammenkünften wurden jung und alt zum Dienst für Gott ermutigt. Zugleich stärkten sie die Gemeinschaft, die das Volk aus den verschiedenen Teilen des Landes untereinander und mit Gott verband. Es wäre auch für das gegenwärtige Volk Gottes manchmal gut, ein Laubhüttenfest zu haben als frohes Erinnern an Gottes Segnungen. Wie Israel der Befreiung ihrer Väter durch Gottes Hilfe und ihrer wunderbaren Bewahrung auf den Wanderungen seit dem Auszug aus Ägypten gedachte, so sollten wir dankbar der mannigfachen Wege gedenken, auf denen er uns aus der Welt und damit vom Irrtum in das wunderbare Licht seiner Gnade und Wahrheit führte. PP 521.3
Wer weit entfernt von der Stiftshütte wohnte, muß jedes Jahr über einen Monat Zeit gebraucht haben, um die jährlichen Feste zu besuchen. Dieses Beispiel der Hingabe an Gott betont die Bedeutung gemeinsamer Anbetung und die Notwendigkeit, unsere eigensüchtigen, weltlichen Neigungen den geistlichen, ewigen unterzuordnen. Es geht uns etwas verloren, wenn wir die Möglichkeit zur gegenseitigen Stärkung und Ermutigung im Dienste Gottes versäumen. Die Wahrheiten seines Wortes büßen allmählich an Lebendigkeit und Bedeutung für uns ein. Wir werden nicht mehr von seinem heiligen Einfluß erfaßt und aufgerüttelt, und unsere geistliche Haltung schwindet. Wir Christen verlieren im Umgang mit andern sehr viel, wenn es an gegenseitiger Anteilnahme fehlt. Wer sich dem andern gegenüber verschließt, erfüllt die ihm von Gott zugedachte Aufgabe nicht. Wir sind alle Kinder eines Vaters und voneinander abhängig, wenn wir glücklich sein wollen. Gott und unsere Mitmenschen haben Anspruch auf uns. Freundlicher Umgang mit unsern Schwestern und Brüdern bringt uns selber Gewinn und macht andere glücklich. PP 521.4
Das Laubhüttenfest hatte aber nicht allein Erinnerungswert, sondern auch sinnbildliche Bedeutung. Es gemahnte nicht nur an die Wüstenwanderung; man feierte es auch als Erntefest nach dem Einbringen der irdischen Früchte. Und es wies hin auf den großen Tag der Welternte, wenn der Herr der Ernte seine Schnitter aussenden wird, das Unkraut in Bündeln zu sammeln für das Feuer und den Weizen einzubringen in seine Scheunen. Dann werden alle Gottlosen umkommen. Sie werden sein, “als wären sie nie gewesen”. Obadja 16. Und alle Stimmen im gesamten Weltall werden sich zum freudigen Lobe Gottes vereinen. Johannes sagt in der Offenbarung: “Alle Kreatur, die im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und im Meer, und alles, was darinnen ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit!” Offenbarung 5,13. PP 522.1
Die Israeliten priesen Gott beim Laubhüttenfest, weil sie sich seiner Barmherzigkeit bei ihrer Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens und seiner liebevollen Fürsorge während ihres Pilgerlebens in der Wüste erinnerten. Freude empfanden sie auch im Bewußtsein der Sündenvergebung und ihrer Annahme bei Gott durch den eben beendeten Dienst des Versöhnungstages. Aber erst wenn die Erlösten des Herrn ins himmlische Kanaan aufgenommen sind, für immer befreit von den Fesseln des Fluches, unter dem “alle Kreatur sehnet sich mit uns und ängstet sich noch immerdar” (Römer 8,22), werden sie sich ewiger Seligkeit erfreuen. Dann ist das große Versöhnungswerk Christi für die Menschen vollendet, ihre Sünden sind ausgelöscht. PP 522.2
“Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien. Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude. Die Herrlichkeit des Libanon ist ihr gegeben, die Pracht von Karmel und Saron. Sie sehen die Herrlichkeit des Herrn, die Pracht unsres Gottes ... Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande ... Und es wird dort eine Bahn sein, die der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren. Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen. Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.” Jesaja 35,1.2.5.6.8-10. PP 523.1