Patriarchen und Propheten
Kapitel 33: Vom Sinai nach Kadesch
Der Bau der Stiftshütte begann erst einige Zeit nach der Ankunft Israels am Sinai; und nicht eher als zu Beginn des zweiten Jahres nach dem Auszug wurde das heilige Gebäude errichtet. Dann folgte die Weihe der Priester, die Feier des Passahfestes, die Zählung des Volkes und die notwendige Vervollständigung der verschiedenen Einrichtungen zum bürgerlichen und religiösen Leben. Dies alles brachte es mit sich, daß die Israeliten fast ein Jahr in dem Lager am Sinai blieben. Hier nahm ihr Gottesdienst festere Formen an. Gesetze zur Führung des Volkes waren gegeben und eine bessere Organisation geschaffen worden als Vorbereitung für ihren Einzug ins Land Kanaan. PP 353.1
Die Verwaltung Israels zeichnete sich durch eine gründliche Ordnung aus, die wunderbar in ihrer Vollständigkeit wie Einfachheit war. Diese göttliche Ordnung, die sich bereits in der Vollendung und Anordnung aller von Gott geschaffenen Werke auffallend deutlich offenbart hatte, prägte auch das Alltagsleben der Hebräer. Gott war der Mittelpunkt von Amts- und Regierungsgewalt, er war der Herrscher der Israeliten. Mose stand, von Gott dazu bestimmt, als ihr sichtbarer Führer vor ihnen, um im Sinne Gottes die erteilten Verordnungen anzuwenden. Später wählte man zu seiner Unterstützung aus den Stammesältesten einen Rat von siebzig Männern für die allgemeinen Angelegenheiten der Volksführung. Dazu kamen die Priester, die den Herrn im Heiligtum um Rat fragten. Häuptlinge oder Fürsten regierten die Stämme. Unter ihnen waren “Oberste über tausend, über hundert, über fünfzig und über zehn” (5.Mose 1,15) und schließlich Amtleute, die für besondere Aufgaben eingesetzt werden konnten. PP 353.2
Das hebräische Lager war in tadelloser Ordnung angelegt: Drei große Bezirke hatten jeweils ihren besonderen Platz. In der Mitte stand die Stiftshütte, die Anbetungsstätte des unsichtbaren Königs. Um sie herum wohnten die Priester und Leviten, um die sich wieder alle andern Stämme gruppierten. PP 353.3
Den Leviten war die Sorge für das Heiligtum und alles, was es im Lager und auf der Wanderung betraf, anvertraut. Zog man weiter, hatten sie das heilige Zelt abzubrechen; war ein Rastplatz erreicht, mußten sie es wieder aufbauen. Jedem Angehörigen eines andern Stammes war es bei Todesstrafe verboten, sich dem Zelt zu nähern. Die Leviten bildeten drei getrennte Abteilungen als Nachkommen der drei Söhne Levis, und jeder war ihre besondere Stellung und Aufgabe zugewiesen. Vor der Stiftshütte, am nächsten zu ihr, standen Moses und Aarons Zelte. Südlich der Stiftshütte lagerten die Kehathiter, deren Aufgabe es war, sich um die Bundeslade und die anderen Geräte zu kümmern, nördlich von ihr wohnten die Merariter, zu deren Pflichtenkreis die Säulen, Sockelhülsen und Bretter gehörten; den Gersonitern schließlich, die an der Rückseite des Heiligtums lagerten, waren die Vorhänge und die Wandbekleidung anvertraut. PP 354.1
Auch der Standort jedes Stammes war genau bezeichnet. Jeder mußte bei seinem Banner wandern und lagern, wie es der Herr befohlen hatte: “Die Kinder Israel sollen um die Stiftshütte her sich lagern, ein jeder bei seinem Banner und Zeichen, nach ihren Sippen.” 4.Mose 2,2. — “Wie sie lagern, so sollen sie auch ausziehen, ein jeder an seinem Platz unter seinem Banner.” 4.Mose 2,17. Dem fremden Volk, das mit Israel aus Ägypten zog, war nicht erlaubt, den Lagerplatz mit den Stämmen zu teilen. Es sollte in den Außenbezirken des Lagers wohnen und seine Nachkommen bis ins dritte Glied von der Gemeinde ausgeschlossen sein. Vgl. 5.Mose 23,8.9. PP 354.2
Überall im Lager und auch in dessen Umgebung war peinliche Sauberkeit und strenge Ordnung Pflicht. Durchgreifende Gesundheitsgesetze wurden erlassen. Niemand, der sich aus irgendeinem Grunde verunreinigt hatte, durfte das Lager betreten. Diese Maßnahmen waren zur Gesunderhaltung solcher riesigen Menge unerläßlich. Es war auch notwendig, vollkommene Ordnung und Reinheit aufrechtzuerhalten, damit sich die Israeliten der Gegenwart des heiligen Gottes erfreuen konnten. Er hatte gesagt: “Denn der Herr, dein Gott, zieht mit dir inmitten deines Lagers, um dich zu erretten und deine Feinde vor dir dahinzugeben. Darum soll dein Lager heilig sein.” 5.Mose 23,15. PP 354.3
Auf allen Wanderungen Israels zog “die Lade des Bundes des Herrn vor ihnen her ..., um ihnen zu zeigen, wo sie ruhen sollten”. 4.Mose 10,33. Getragen von den Söhnen Kehaths, sollte die heilige Lade, die Gottes Gesetz enthielt, die Vorhut bilden. Vor ihr her gingen Mose und Aaron, ganz in ihrer Nähe die Priester mit den silbernen Trompeten. Ihnen gab Mose Anweisungen, die sie mit Hilfe ihrer Instrumente dem Volk mitteilten. Nach den Signalen war es für die Obersten jeder Abteilung Pflicht, ihrerseits genaue Anordnungen über alle Bewegungen, die ausgeführt werden sollten, weiterzugeben. Wer es versäumte, den Befehlen nachzukommen, wurde mit dem Tode bestraft. PP 355.1
Gott ist ein Gott der Ordnung. In allem, was mit dem Himmel verbunden ist, herrscht vollkommene Ordnung. Dienstbarkeit und völliger Gehorsam kennzeichnen auch die Haltung der Engelschar. Nur aufeinander abgestimmtes, ordnungsgemäßes Handeln verbürgt Erfolg. Nicht weniger als zur Zeit Israels verlangt Gott heute in seinem Werk sinnvolle Planmäßigkeit. Wer für ihn arbeitet, soll das klug, nicht unachtsam und wahllos tun. Gott will sein Werk mit Treue und Sorgfalt getan haben, damit er ihm das Siegel seiner Anerkennung aufdrücken kann. PP 355.2
Auf allen ihren Wanderungen führte Gott selbst die Israeliten. Senkte sich die Wolkensäule herab, zeigte das ihren Lagerplatz an. Und solange sie über der Stiftshütte verharrte, mußten sie im Lager bleiben. Sollten sie ihre Reise fortsetzen, erhob sich die Wolke hoch über das heilige Zelt. Ein feierlicher Ruf bezeichnete jedesmal das Anhalten und Weiterziehen. Sobald die Lade aufbrach, sprach Mose: “Herr, steh auf! Laß deine Feinde zerstreut werden und alle, die dich hassen, flüchtig werden vor dir!” Und wenn sie sich niederließ, sprach er: “Komm wieder, Herr, zu der Menge der Tausende in Israel!” 4.Mose 10,35.36. PP 355.3
Zwischen dem Sinai und Kadesch an der Grenze Kanaans lag nur eine Wanderung von elf Tagen. Mit der Aussicht, bald in das Gelobte Land zu kommen, setzten Israels Scharen ihre Wanderung fort, als die Wolke schließlich das Zeichen zum Aufbruch gab. Jahwe hatte Wunder getan, als er sie aus Ägypten führte. Welche Segnungen mochten jetzt ihrer warten, nachdem sie ihn in aller Form als ihren Herrscher angenommen hatten und als das erwählte Volk des Allerhöchsten galten? PP 355.4
Viele jedoch verließen den Platz, an dem sie so lange gelagert hatten, fast widerstrebend. Sie empfanden ihn schon beinahe als Heimat. Im Schutz jener Felsenmauern hatte Gott sein Volk versammelt, um ihm abseits von allen andern Völkern sein heiliges Gesetz zu wiederholen. Sie hatten eine Vorliebe für den heiligen Berg, auf dessen ehrwürdigem Gipfel und kahlen Felsgraten sich Gottes Herrlichkeit wiederholt offenbarte. Die ganze Landschaft war mit der Gegenwart Gottes und seiner heiligen Engel so sehr verbunden, daß sie ihnen zu heilig erschien, als daß man sie gedankenlos oder gar mit Freude hätte verlassen können. PP 355.5
Aber auf das Zeichen der Trompeter stellte sich das ganze Lager auf, in der Mitte die Stiftshütte, und jeder Stamm an der ihm angewiesenen Stelle unter seinem eigenen Banner; aller Augen voller Erwartung, in welche Richtung die Wolke führen würde. Als sie sich ostwärts bewegte, wo sich nur schwarze, öde Bergmassive drängten, kam in manchen ein Gefühl von Trauer und Zweifel auf. PP 356.1
Als es voranging, wurde der Weg immer beschwerlicher. Es ging durch steinige Hohlwege und unfruchtbare Wüste. Ringsum ausgedehnte Wildnis, zogen sie im “wilden, ungebahnten Lande”, im dürren und finsteren Lande, “im Lande, das niemand durchwandert und kein Mensch bewohnt”. Jeremia 2,6. Die felsigen Bergschluchten waren allenthalben gedrängt voll von Männern, Frauen und Kindern, von Tieren, Wagen und langen Reihen Groß- und Kleinvieh. Dabei war es einfach unvermeidlich, daß sie nur langsam und mit Mühe vorwärts kamen. Und nach der langen Lagerzeit war die Menge auch nicht mehr auf Gefahren und Verdrießlichkeiten dieses Marsches eingestellt. PP 356.2
Nach drei Tagen hörte man lautes Klagen. Es kam aus dem fremden Volk, von dem viele noch nicht recht mit Israel verwachsen waren und die ständig einen Grund zum Kritisieren suchten. Ihren Beschwerdeführern gefiel die Marschrichtung nicht. Fortwährend hatten sie etwas auszusetzen an der Art, wie Mose sie führte, obwohl sie genau wußten, daß er ebenso wie sie der wegweisenden Wolke nachging. Unzufriedenheit ist ansteckend, und bald griff sie im ganzen Lager um sich. PP 356.3
Wieder schrien die Wandernden nach Fleisch. Obwohl sie reichlich mit Manna versorgt wurden, waren sie nicht zufrieden. Während ihrer Knechtschaft in Ägypten mußten die Israeliten von der einfachsten Nahrung leben. Aber Entbehrung und schwere Arbeit machten hungrig und hatten sie ihnen schmackhaft gemacht. Viele Ägypter, die jetzt unter ihnen lebten, waren üppige Kost gewöhnt; und sie gehörten zu den ersten, die klagten. Als der Herr ihnen unmittelbar vor dem Sinai Manna schickte, bekamen sie auf ihr Jammern auch Fleisch, aber nur für einen Tag. PP 356.4
Es wäre Gott ein leichtes gewesen, sie ebenso mit Fleisch wie mit Manna zu versorgen. Wenn er es nicht tat, geschah es zu ihrem Besten. Er wollte sie mit Nahrung versehen, die ihren Bedürfnissen besser entsprach als die fiebererregende Kost, an die sich viele von ihnen in Ägypten gewöhnt hatten. Ihr verdorbener Geschmack sollte sich Gesünderem zuwenden, damit ihnen die ursprünglich für den Menschen vorgesehenen Dinge wieder schmeckten. Das waren die Früchte der Erde, die Gott Adam und Eva in Eden gab. Darum entzog Gott den Israeliten weitgehend die tierische Nahrung. PP 357.1
Satan verführte sie schließlich dazu, darin eine ungerechte, harte Einschränkung zu sehen. Er weckte in ihnen die Gier nach Verbotenem, weil er wußte, daß zügelloses Nachgeben der Eßlust Sinnlichkeit erregt, und er dadurch das Volk leichter in seine Gewalt bringen konnte. Der Urheber von Krankheit und Elend wird die Menschen immer da angreifen, wo er sich den meisten Erfolg verspricht. Seitdem er Eva verführte, von der Frucht des verbotenen Baumes zu essen, hat er durch Versuchungen in Zusammenhang mit der Eßlust viele zur Sünde verleitet. Auf dieselbe Weise reizte er Israel, gegen Gott zu murren. Unmäßigkeit im Essen und Trinken hat Nachgiebigkeit gegen die niederen Triebe zur Folge und läßt die Menschen so weit kommen, jede sittliche Verpflichtung außer acht zu lassen. Überfällt sie die Versuchung, haben sie nur noch geringe Widerstandskraft. PP 357.2
Gott führte die Israeliten aus Ägypten, damit sie im Lande Kanaan wohnten als ein reines, heiliges und glückliches Volk. Deswegen unterwarf er sie einer Erziehung, die ihnen und ihren Nachkommen Gutes bringen sollte. Wären sie dazu bereit gewesen, auf seine weisen Einschränkungen hin ihre Eßlust zu bezähmen, wären ihnen Schwäche und Krankheit unbekannt geblieben. Ihre Nachkommen hätten dann körperliche und geistige Widerstandskraft besessen. Sie hätten klare Begriffe von Wahrheit und Pflicht gehabt, eine scharfe Unterscheidungsgabe, verbunden mit gesundem Urteilsvermögen. Aber ihr fehlender guter Wille, sich den Beschränkungen und Forderungen Gottes zu fügen, verhinderte weitgehend, daß sie den hohen Stand erreichten, den Gott für sie wünschte, und daß sie die Segnungen empfingen, die er ihnen bereitwillig zugedacht hatte. PP 357.3
Der Psalmist sagt: “Sie versuchten Gott in ihrem Herzen, als sie Speise forderten für ihr Gelüste, und redeten wider Gott und sprachen: Kann Gott wohl einen Tisch bereiten in der Wüste? Siehe, er hat wohl den Felsen geschlagen, daß Wasser strömten und Bäche sich ergossen; kann er aber auch Brot geben und seinem Volk Fleisch verschaffen? Da der Herr das hörte, entbrannte er im Grimm.” Psalm 78,18-21. Auf der Wanderung vom Roten Meer zum Sinai gab es öfter Unzufriedenheit und Aufruhr. Aber aus Mitleid mit ihrer Unwissenheit und Kurzsichtigkeit hatte Gott ihre Sünde bis dahin nicht mit Strafgerichten vergolten. Inzwischen aber hatte er sich ihnen am Horeb offenbart. Sie hatten große Erkenntnis gewonnen, nachdem sie Zeugen der Majestät, Macht und Barmherzigkeit Gottes geworden waren. Deshalb luden sie mit ihrem Unglauben und der Unzufriedenheit um so größere Schuld auf sich. Außerdem hatten sie gelobt, Jahwe als ihren König anzunehmen und ihm zu gehorchen. Jetzt war ihr Murren Empörung, die schnell und spürbar bestraft werden mußte, wenn Israel vor Gesetzlosigkeit und Untergang bewahrt bleiben sollte: “Das Feuer des Herrn loderte auf unter ihnen und fraß am Rande des Lagers.” 4.Mose 11,1. Die schlimmsten Ankläger unter ihnen wurden von Blitzen aus der Wolke erschlagen. PP 358.1
Entsetzt flehte das Volk Mose an, den Herrn für sie zu bitten. Er tat es, und die Flammen verloschen. Zur Erinnerung an dieses Gericht nannte er den Ort Tabera, “ein Feuer”. Vgl. 4.Mose 11,3. PP 358.2
Aber bald war es schlimmer als zuvor. Statt sich zu demütigen und zu bereuen, schien dieses schreckliche Gericht den Unwillen bei den Überlebenden nur zu steigern. Überall versammelte sich das Volk am Eingang der Zelte, weinte und klagte. “Das fremde Volk aber unter ihnen war lüstern geworden. Da fingen auch die Kinder Israel wieder an zu weinen und sprachen: Wer wird uns Fleisch zu essen geben? Wir denken an die Fische, die wir in Ägypten umsonst aßen, und an die Kürbisse, die Melonen, den Lauch, die Zwiebeln und den Knoblauch. Nun aber ist unsere Seele matt, denn unsere Augen sehen nichts als das Manna.” 4.Mose 11,4-6. So kam die Unzufriedenheit über die Nahrung zum Ausdruck, die der Schöpfer immer für sie bereithielt. Und dabei erlebten sie ständig den Beweis dafür, daß die Nahrung ihren Bedürfnissen angepaßt war; denn trotz aller Mühsal, die sie erduldeten, gab es keine Kranken in allen ihren Stämmen. PP 358.3
Da verlor Mose den Mut. Er hatte für Israel gefleht, daß es nicht vernichtet würde, obwohl seine eigene Nachkommenschaft dann ein großes Volk hätte werden können. In seiner Liebe zu den Israeliten hatte er gebetet, daß eher sein Name aus dem Buch des Lebens getilgt werden möge, als daß sie dem Verderben überlassen würden. Er gefährdete sich selbst um ihretwillen — und das war die Antwort. All ihr Ungemach, selbst ihre eingebildeten Leiden bürdeten sie ihm auf. Ihr leichtfertiges Murren machte die Last der Sorge und Verantwortung, unter der er wankte, doppelt schwer. In seiner Bedrängnis kam sogar er in Versuchung, Gott zu mißtrauen. Sein Gebet war fast eine Klage: “Warum bekümmerst du deinen Knecht? Und warum finde ich keine Gnade vor deinen Augen, daß du die Last dieses ganzen Volkes auf mich legst? Woher soll ich Fleisch nehmen, um es all diesem Volk zu geben? Sie weinen vor mir und sprechen: Gib uns Fleisch zu essen. Ich vermag all das Volk nicht allein zu tragen, denn es ist mir zu schwer.” 4.Mose 11,11.13.14. PP 359.1
Der Herr erhörte sein Gebet und wies ihn an, siebzig Männer aus den Ältesten Israels zu berufen. Es sollten Männer sein, die nicht nur in vorgerücktem Alter waren, sondern auch Würde, gesundes Urteil und Erfahrung besaßen. “Bringe sie vor die Stiftshütte”, sagte er, “und stelle sie dort vor dich, so will ich herniederkommen und dort mit dir reden und von deinem Geist, der auf dir ist, nehmen und auf sie legen, damit sie mit dir die Last des Volkes tragen und du nicht allein tragen mußt.” 4.Mose 11,16.17. PP 359.2
Der Herr erlaubte Mose, sich die treusten und tüchtigsten Männer auszusuchen, damit sie sich mit ihm in die Verantwortung teilten. Ihr Einfluß würde ihm helfen, Erregungen des Volkes Einhalt zu gebieten und Aufruhr zu unterdrücken. Doch hatte ihre Wahl schließlich böse Folgen. Es wäre auch niemals dazu gekommen, wenn Mose den starken Glauben an Gottes Macht und Güte gehabt hätte, wie er den erlebten Beweisen entsprach: Aber er hatte seine eigenen Lasten und Dienste ein wenig übertrieben und dabei die Tatsache fast aus den Augen verloren, daß er nur das Werkzeug war, dessen sich Gott bediente. Es war für ihn unentschuldbar, daß er dem Geist des Murrens, der Israels Unglück war, auch nur im geringsten nachgegeben hatte. Hätte er sich ganz und gar auf Gott verlassen, würde der Herr ihm allezeit den Weg gewiesen und Tatkraft in jeder schwierigen Lage gegeben haben. PP 359.3
Mose erhielt Anweisung, das Volk auf etwas vorzubereiten, was Gott mit ihm vorhatte. “Heiligt euch für morgen, so sollt ihr Fleisch zu essen haben; denn euer Weinen ist vor die Ohren des Herrn gekommen, die ihr sprecht: ‘Wer gibt uns Fleisch zu essen? Denn es ging uns gut in Ägypten.’ Darum wird euch der Herr Fleisch zu essen geben, nicht nur einen Tag, nicht zwei, nicht fünf, nicht zehn, nicht zwanzig Tage lang, sondern einen Monat lang, bis ihr’s nicht mehr riechen könnt und es euch zum Ekel wird, weil ihr den Herrn verworfen habt, der unter euch ist, und weil ihr vor ihm geweint und gesagt habt: Warum sind wir aus Ägypten gegangen?” 4.Mose 11,18-20. PP 360.1
“Sechshunderttausend Mann Fußvolk sind es, mit denen ich lebe”, rief Mose aus, “und du sprichst: Ich will ihnen Fleisch geben, daß sie einen Monat lang zu essen haben. Kann man so viele Schafe und Rinder schlachten, daß es für sie genug sei? Oder kann man alle Fische des Meeres einfangen, daß es für sie genug sei?” 4.Mose 11,21.22. Streng wurde er wegen seines Mißtrauens getadelt: “Ist denn die Hand des Herrn zu kurz? Aber du sollst jetzt sehen, ob sich dir mein Wort erfüllt oder nicht.” 4.Mose 11,23. PP 360.2
Mose wiederholte der Gemeinde die Worte des Herrn und kündigte die Einsetzung der siebzig Ältesten an. Die ermahnende Unterweisung dieses hervorragenden Mannes an die erwählten Männer könnte noch heute als Vorbild kritischer Redlichkeit für Richter und Gesetzgeber dienen: “Hört eure Brüder an und richtet recht, wenn einer etwas mit seinem Bruder hat oder mit dem Fremdling, der bei ihm ist. Beim Richten sollt ihr die Person nicht ansehen, sondern sollt den Kleinen hören wie den Großen und vor niemand euch scheuen; denn das Gericht ist Gottes.” 5.Mose 1,16.17. PP 360.3
Nun rief Mose die siebzig vor der Stiftshütte zusammen. “Da kam der Herr hernieder in der Wolke und redete mit ihm und nahm von dem Geist, der auf ihm war, und legte ihn auf die siebzig Ältesten. Und als der Geist auf ihnen ruhte, gerieten sie in Verzückung wie Propheten und hörten nicht auf.” 4.Mose 11,25. Wie die Jünger am Pfingsttage wurden sie mit “Kraft aus der Höhe” (Lukas 24,49) begabt. Der Herr hielt es für gut, sie auf diese Weise für ihre Aufgabe vorzubereiten und ihnen in Gegenwart der Gemeinde Ansehen zu verschaffen, damit sie Vertrauen zu diesen Männern als den von Gott erwählten hätte, die Israel gemeinsam mit Mose regieren sollten. Wieder bewies Mose hier seine vornehme, selbstlose Gesinnung. Zwei von den siebzig, die sich in Demut solcher verantwortungsvollen Stellung für unwürdig hielten, hatten sich nicht mit ihren Brüdern an der Stiftshütte eingefunden. Aber der Geist Gottes kam über sie, wo sie sich gerade befanden, so daß auch sie die prophetische Gabe ausübten. Als Josua davon erfuhr, wollte er diese Abweichung verhindern, da er fürchtete, es könnte Uneinigkeit geben. Eifersüchtig auf die Ehre seines Herrn bedacht, bat er: “Mose, mein Herr, wehre ihnen!” Die Antwort war: “Eiferst du um meinetwillen? Wollte Gott, daß alle im Volk des Herrn Propheten wären und der Herr seinen Geist über sie kommen ließe!” 4.Mose 11,28.29. PP 360.4
Plötzlich erhob sich vom Meer her ein starker Wind und brachte Scharen von Wachteln “eine Tagereise weit rings um das Lager, zwei Ellen hoch auf der Erde”. 4.Mose 11,31. Den ganzen Tag über, in der Nacht und am folgenden Tage sammelte das Volk die auf so wunderbare Weise gespendete Nahrung in ungeheurer Menge. “Wer am wenigsten sammelte, der sammelte hundert Scheffel.” 4.Mose 11,32. Alles, was sie nicht zum sofortigen Verzehr brauchten, wurde getrocknet, so daß der Vorrat, wie verheißen, einen ganzen Monat reichte. PP 361.1
Gott gab den Hebräern, worauf sie beharrlich bestanden hatten, obwohl es nicht zum Besten für sie war. Sie wollten sich einfach nicht mit dem zufriedengeben, was ihnen zuträglich gewesen wäre. Nun war ihr Verlangen befriedigt, aber sie mußten auch die Folgen tragen. Als sie hemmungslos schwelgten, wurde ihre Unmäßigkeit schnell bestraft. Der Herr “schlug sie mit einer sehr großen Plage”. 4.Mose 11,33. Viele warf ein verzehrendes Fieber nieder, die Schuldigsten aber wurden schon davon befallen, sobald sie von der Speise kosteten, nach der sie gelüstet hatte. PP 361.2
Die nächste Lagerstätte nach Tabera war Hazeroth. Hier erwartete Mose eine noch schmerzlichere Erfahrung. Aaron und Mirjam nahmen in Israel hoch angesehene, leitende Stellungen ein. Beide besaßen die Gabe der Weissagung und waren durch göttliche Fügung seit der Befreiung der Hebräer Moses Gehilfen. Ich habe “vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirjam” (Micha 6,4), lauteten des Herrn Worte durch den Propheten Micha. Mirjams starke Persönlichkeit hatte sich schon früh entwickelt. Sie bewachte am Nil das Körbchen, in dem der Säugling Mose verborgen war. Gott benutzte ihre Selbstbeherrschung und ihr Feingefühl, um den Befreier seines Volkes zu bewahren. Da sie dichterisch und musikalisch sehr begabt war, führte sie an der Küste des Roten Meeres Israels Frauen im Gesang und beim Tanz an. Nur Mose und Aaron genossen mehr Zuneigung des Volkes und Wertschätzung des Himmels als sie. Dennoch kam dasselbe Übel, das im Himmel Zwietracht verursachte, im Herzen dieser israelitischen Frau auf. In ihrer Unzufriedenheit fand sie auch jemanden, der ebenso darunter litt. PP 361.3
Bei der Ernennung der siebzig Ältesten waren Mirjam und Aaron nicht zu Rate gezogen worden. Das erregte bei beiden Eifersucht auf Mose. Schon als die Israeliten noch auf dem Wege zum Sinai waren und Jethro sie besuchte, war in beiden die Sorge wach geworden, daß Jethros Einfluß auf Mose vielleicht ihren eigenen übersteigen könnte, weil dieser den Rat seines Schwiegervaters so bereitwillig annahm. Sie meinten, bei der Bildung des Ältestenrates seien ihre Stellung und ihr Ansehen unbeachtet geblieben. Mirjam und Aaron begriffen wohl nie ganz die Schwere der Sorge und Verantwortung, die auf Mose ruhte. Weil sie dazu ausersehen waren, ihm zu helfen, glaubten sie, gemeinsam mit ihm die Lasten der Führung zu tragen. Deshalb hielten sie die Berufung weiterer Helfer für ungerechtfertigt. PP 362.1
Mose empfand die Bedeutung der ihm anvertrauten großen Aufgabe wie kein anderer. Er erkannte seine eigene Schwachheit und erwählte Gott zu seinem Ratgeber. Aaron schätzte sich selbst höher ein und vertraute weniger auf Gott. Als ihm dann Verantwortung übertragen wurde, versagte er. Am Sinai hatte er seine Charakterschwäche bewiesen, als er dem Götzendienst in so verächtlicher Willfährigkeit zustimmte. Aber blind vor Eifersucht und Ehrgeiz, verloren Mirjam und Aaron das ganz aus den Augen. Gott hatte Aaron mit der Berufung seiner Familie zum heiligen Amt des Priestertums sehr ausgezeichnet; aber gerade das steigerte sein Verlangen nach Selbsterhebung. So sprachen sie: “Redet denn der Herr allein durch Mose? Redet er nicht auch durch uns?” 4.Mose 12,2. Da sie sich ebenfalls für von Gott begnadet hielten, meinten sie, die gleichen Ansprüche auf Stellung und Ansehen zu haben. PP 362.2
Weil Mirjam der Unzufriedenheit nachgab, fand sie sogar Grund zur Klage bei Dingen, die Gott eigens gefügt hatte. So hatte ihr Moses Heirat mißfallen. Das war in ihren Augen eine Beleidigung der Familie und ihres Nationalstolzes; denn anstatt eine Hebräerin zu nehmen, hatte Mose seine Frau aus einem andern Volk gewählt. Darum behandelte Mirjam Zippora mit nahezu unverhohlener Verachtung. PP 362.3
Obwohl man Moses Frau eine “Kuschiterin” (4.Mose 12,1) nannte, war sie eine Midianitin und somit ein Nachkomme Abrahams. Aber vom Äußeren her unterschied sie sich von den Hebräern durch eine etwas dunklere Hautfarbe. Wenn auch keine Israelitin, betete Zippora doch den wahren Gott an. Sie war von Natur schüchtern und zurückhaltend, freundlich, sanft und überaus schmerzlich berührt beim Anblick von Leiden. Schon deshalb hatte Mose auf dem Wege nach Ägypten eingewilligt, daß sie nach Midian zurückkehrte. Er wollte ihr die Pein ersparen, Augenzeuge der göttlichen Strafgerichte zu werden, die Ägypten treffen sollten. PP 363.1
Als Zippora ihrem Mann in der Wüste wieder begegnete, sah sie ihm an, daß die Belastungen an seinen Kräften zehrten, und sie äußerte Jethro ihre Befürchtungen. Dieser regte dann die Maßnahmen zu Moses Unterstützung an. Und hier lag der Hauptgrund für Mirjams Abneigung gegen Zippora. Sie litt unter der vermeintlichen Hintansetzung, die sie und Aaron erfahren hatten. Dafür sah sie in Moses Frau den Grund und schloß daraus, daß ihr Einfluß ihn abgehalten habe, die Geschwister wie früher zu Rate zu ziehen. Wäre Aaron hier standhaft für das Rechte eingetreten, hätte er dem Bösen Einhalt gebieten können. Aber anstatt Mirjam das Unrecht ihres Benehmens deutlich zu machen, war er darin mit ihr einig. Er hörte auf ihre Beschwerden, und bald plagte auch ihn die Eifersucht. PP 363.2
Schweigend ertrug Mose ihre Beschuldigungen. Er hatte in den beschwerlichen Wartejahren in Midian Erfahrungen gesammelt. Dort lernte er Demut und Geduld, die ihn darauf vorbereiteten, sowohl dem Unglauben und Murren des Volkes als auch dem Stolz und Neid derer, die unerschütterlich zu ihm hätten stehen sollen, mit Langmut zu begegnen. “Mose war ein sehr demütiger Mensch, mehr als alle Menschen auf Erden” (4.Mose 12,3), und eben deshalb wurden ihm mehr als anderen Menschen göttliche Weisheit und Führung gewährt. Die Schrift sagt: “Er führt die Demütigen auf den Weg des Rechts und belehrt die Gebeugten über seinen Weg.” Psalm 25,9 (Bruns). Der Herr führt die Demütigen, weil sie lernwillig sind. Sie haben den aufrichtigen Wunsch, Gottes Willen zu erkennen und zu tun. Der Heiland verheißt: “Wenn jemand will des Willen tun, der wird innewerden, ob diese Lehre von Gott sei.” Johannes 7,17. Durch den Apostel Jakobus erläutert er: “Wenn aber jemandem unter euch Weisheit mangelt, der bitte Gott, der da gern gibt jedermann und allen mit Güte begegnet, so wird ihm gegeben werden.” Jakobus 1,5. Aber seine Verheißung gilt nur denen, die dem Herrn willig in allem folgen. Gott zwingt keinen Menschen. Darum wird er auch niemanden führen, der zu stolz ist, sich belehren zu lassen, der unbedingt seinen eigenen Weg gehen will. Aber auch von den Unentschlossenen, die ihren Neigungen folgen, obwohl sie vorgeben, Gottes Willen zu tun, schreibt Jakobus: “Solcher Mensch denke nicht, daß er etwas von dem Herrn empfangen werde.” Jakobus 1,7. PP 363.3
Gott hatte Mose erwählt und seinen Geist auf ihn gelegt. Mit ihrem Aufbegehren machten sich Mirjam und Aaron nicht nur an dem von Gott berufenen Führer der Untreue schuldig, sondern an Gott selbst. Nach ihrem aufrührerischen Reden wurden sie zur Stiftshütte vorgeladen und Mose Auge in Auge gegenübergestellt. “Da kam der Herr hernieder in der Wolkensäule und trat in die Tür der Stiftshütte und rief Aaron und Mirjam.” 4.Mose 12,5. Ihren Anspruch auf die Gabe der Weissagung bestritt ihnen Gott nicht. Er hätte auch in Gesichten und Träumen zu ihnen reden können. Aber Mose, dem nach des Herrn Worten “mein ganzes Haus anvertraut” (4.Mose 12,7) war, gewährte er eine engere Gemeinschaft. Mit ihm sprach Gott mündlich. Deshalb die Frage: “Warum habt ihr euch denn nicht gefürchtet, gegen meinen Knecht Mose zu reden? Und der Zorn des Herrn entbrannte gegen sie, und er wandte sich weg.” 4.Mose 12,8.9. Zum Zeichen des göttlichen Unwillens wich die Wolke von der Stiftshütte, und Mirjam wurde schwer getroffen. Sie war “aussätzig wie Schnee”. 4.Mose 12,10. Aaron blieb zwar verschont, aber Mirjams Bestrafung war auch für ihn eine harte Zurechtweisung. Als nun ihr Hochmut bis in den Staub gedemütigt war, bekannte Aaron beider Sünde. Er flehte darum, daß seine Schwester nicht durch die Abscheu erregende, tödliche Plage ausgestoßen werden und zugrunde gehen müsse. Auf Moses Gebete hin heilte Gott den Aussatz. Mirjam wurde jedoch für sieben Tage vom Lager ausgeschlossen. Erst nach Beendigung ihrer Verbannung ruhte das Zeichen der Gnade Gottes wieder auf der Stiftshütte. Mit Rücksicht auf Mirjams hohe Stellung und aus Trauer über die plötzliche Strafe, die sie getroffen hatte, blieb die ganze Gemeinde in Hazeroth und wartete auf ihre Rückkehr. PP 364.1
Diese Äußerung göttlichen Mißfallens sollte für ganz Israel eine Warnung sein, der wachsenden Unzufriedenheit und Widersetzlichkeit Einhalt zu gebieten. Wäre Mirjam wegen ihres Neides und ihrer Mißgunst nicht ganz kräftig zurechtgewiesen worden, hätte das schlimme Folgen gehabt. Neid ist einer der teuflischsten Charakterzüge des menschlichen Herzens und in seinen Auswirkungen einer der unheilvollsten. Der weise Mann sagt: “Die Wut mag grimmig sein und der Zorn überwallen, aber wer kann der Eifersucht Widerstand leisten?” Sprüche 27,4 (Menge). Auf Neid und Eifersucht ging die erste Zwietracht im Himmel zurück. Wo man sie duldet, bringen sie oft großes Elend über die Menschen. “Wo Neid und Zank ist, da ist Unordnung und allerlei böses Ding.” Jakobus 3,16. PP 365.1
Es sollte nicht leichtfertig darüber hinweggegangen werden, wenn jemand schlecht über andere spricht oder sich zum Richter ihrer Beweggründe oder ihres Verhaltens macht. “Wer seinen Bruder verlästert oder richtet seinen Bruder, der verlästert das Gesetz und richtet das Gesetz. Richtest du aber das Gesetz, so bist du nicht ein Täter des Gesetzes, sondern sein Richter.” Jakobus 4,11. Es gibt nur einen Richter, nämlich den, “welcher wird ans Licht bringen, auch was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen.” 1.Korinther 4,5. Wer das Wagnis eingeht, seinen Mitmenschen zu richten und zu verurteilen, maßt sich Rechte des Schöpfers an. PP 365.2
Die Bibel lehrt ausdrücklich, daß wir uns vor leichtfertigen Anklagen gegen jene hüten sollen, die Gott als seine Boten berufen hat. Der Apostel Petrus beschreibt eine Art von verworfenen Sündern mit folgenden Worten: “Sie scheuen sich in ihrer verwegenen Frechheit nicht, überirdische Mächte zu höhnen, während die Engel, die doch größere Kraft und Macht besitzen als sie, vor dem Herrn kein böses Wort über sie aussprechen.” 2.Petrus 2,10.11 (Zink). Und Paulus sagt in seiner Unterweisung denen, die über die Gemeinde gesetzt sind: “Wider einen Ältesten nimm keine Klage an ohne zwei oder drei Zeugen.” 1.Timotheus 5,19. Gott hat manchen Menschen große Verantwortung als Leiter und Lehrer seines Volkes auferlegt. Er wird dieses Volk dafür verantwortlich machen, wie es seine Diener behandelt. Wir sollen denen Ehre erweisen, die Gott dazu ausersehen hat. Das Strafgericht, mit dem Mirjam heimgesucht wurde, sollte eine Mahnung für alle sein, die der Eifersucht nachgeben und gegen die murren, denen Gott die Last für sein Werk auferlegt hat. PP 365.3