Patriarchen und Propheten

4/74

Kapitel 3: Die Versuchung und der Sündenfall

Als Satan im Himmel keinen Aufruhr mehr erregen konnte, richtete sich seine Gottesfeindschaft auf ein neues Gebiet: jetzt ging es ihm um die Vernichtung des Menschen. Beim Anblick des in Glück und Frieden lebenden heiligen Paares wurde ihm bewußt, welche Seligkeit er für immer verloren hatte. Von Neid getrieben, beschloß er, die Menschen zum Ungehorsam zu reizen und sie in Schuld und Sünde sowie deren schlimme Folgen zu verstricken. Ihre Liebe sollte sich in Mißtrauen, ihre Loblieder in Vorwürfe gegen den Schöpfer verwandeln. Auf diese Weise würde er nicht nur jene unschuldigen Wesen in das gleiche Elend reißen, an dem er selber litt, sondern auch Gott entehren und Kummer im Himmel verursachen. PP 28.1

Unsere ersten Eltern blieben nicht ungewarnt vor der Gefahr, die sie bedrohte. Himmlische Sendboten machten sie mit Satans Fall und seinen Vernichtungsabsichten bekannt. Sie weiteten ihnen auch den Blick für die göttliche Regierung, die der Fürst des Bösen zu stürzen versuchte. Weil sie den gerechten Forderungen Gottes nicht Folge leisteten, kamen Satan und seine Anhänger zu Fall. Wie wichtig war es also, daß Adam und Eva jenes Gesetz achteten, das allein Ordnung und Gerechtigkeit aufrechterhielt! PP 28.2

Gottes Gesetz ist heilig wie er selbst. Es ist eine Offenbarung seines Willens, eine Umschreibung seines Wesens, der Ausdruck göttlicher Weisheit und Liebe. Die Harmonie der Schöpfung hängt davon ab, daß alle Wesen und alle Dinge, die belebten wie die unbelebten, in vollkommener Übereinstimmung mit dem Gesetz des Schöpfers stehen. Gott hat Regeln geschaffen, von denen nicht nur die Lebewesen, sondern auch alle Vorgänge in der Natur bestimmt werden. Diese feststehenden Gesetze darf man nicht mißachten. Doch während sich alles auf der Welt nach Naturgesetzen vollzieht, ist der Mensch allein dem Sittengesetz verpflichtet. Ihm als der Krone der Schöpfung ist es von Gott gegeben, die Forderungen seines Gesetzes sowie dessen gerechten und wohltätigen Einfluß zu verstehen. Deshalb verlangt Gott von ihm unerschütterlichen Gehorsam. PP 28.3

Wie die Engel wurden auch Edens Bewohner auf die Probe gestellt. Nur Treue gegen Gottes Gesetz gewährleistete ihren glücklichen Zustand. Sie konnten gehorchen und leben oder ungehorsam sein und damit das Verderben wählen. Gott segnete sie überreich, mißachteten sie aber seinen Willen, dann konnte er, der die ungehorsamen Engel nicht verschonte, auch ihnen nichts ersparen. Durch Übertretung würden sie seiner Gaben verlustig gehen und ihren Untergang heraufbeschwören. PP 29.1

Die Engel ermahnten sie, vor Satans Anschlägen auf der Hut zu sein, denn er würde sie unermüdlich umgarnen. Solange sie jedoch Gott gehorsam blieben, könne der Böse ihnen nichts zuleide tun, denn im Notfall würde ihnen jeder Engel vom Himmel zu Hilfe kommen. Wenn sie seine ersten Einflüsterungen standhaft zurückwiesen, könnten sie ebenso sicher sein wie die himmlischen Boten. Gäben sie aber der Versuchung nur einmal nach, würde sich ihr Wesen so zum Bösen hin verändern, daß sie aus eigener Kraft Satan nicht widerstehen könnten. PP 29.2

Gott schuf den Baum der Erkenntnis, um ihren Gehorsam und ihre Liebe zu ihm zu erproben. Der Herr hatte es für gut befunden, ihnen von allem, was der Garten bot, nur eins zu verbieten. Sollten sie darin seinen Willen mißachten, müßten sie die Schuld der Übertretung auf sich nehmen. Satan durfte ihnen nicht mit ständigen Versuchungen nachstellen. Nur am verbotenen Baume hatte er Zugang zu ihnen. Wenn sie versuchen sollten, die Eigenart des Baumes zu erforschen, wären sie seiner Tücke ausgesetzt. Sie wurden ermahnt, sorgfältig auf Gottes Warnungen zu achten und sich mit den mitgeteilten Unterweisungen zufriedenzugeben. PP 29.3

Um sein Vorhaben unauffällig zuwege zu bringen, bediente sich Satan der Schlange als Werkzeug, eine Tarnung, die für seine Betrugsabsichten paßte. Sie war damals eins der klügsten und schönsten Geschöpfe auf Erden. Sie hatte Flügel und, wenn sie durch die Luft flog, machte sie einen verblendenden Eindruck; denn sie hatte die Farbe und den Glanz feinen Goldes. In den reich beladenen Zweigen des verbotenen Baumes ruhend, labte sie sich an der köstlichen Frucht. Sie konnte also schon die Aufmerksamkeit eines Beobachters fesseln. So lauerte der Verderber im Garten des Friedens auf seine Beute. PP 29.4

Die Engel hatten Eva davor gewarnt, sich bei ihrer täglichen Arbeit im Garten von ihrem Manne zu trennen. Mit ihm zusammen käme sie weniger in die Gefahr der Versuchung als allein. Aber sie war so in ihre angenehme Beschäftigung vertieft, daß sie sich unbewußt von seiner Seite entfernte. Als sie merkte, daß sie allein war, überkam sie eine Ahnung von der Gefahr. Aber sie verscheuchte ihre Befürchtungen. Besaß sie denn nicht genügend Klugheit und Kraft, das Böse zu erkennen und ihm zu widerstehen? Vergessen war die Warnung der Engel. Bald stand sie vor dem verbotenen Baume. Sie betrachtete ihn aufmerksam und mit einem Gemisch von Neugier und Staunen. Die Frucht war sehr schön, und Eva fragte sich, weshalb Gott sie ihnen wohl vorenthielte. Das war die Gelegenheit für den Versucher. Als ob er die Gedanken ihres Herzens erkennen könnte, sprach er sie an: “Ja, sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?” 1.Mose 3,1. Eva war überrascht und erschrocken, als sie das Echo ihrer eigenen Gedanken hörte. Aber die Schlange lobte Evas außerordentlichen Liebreiz in gefälliger Weise, und Eva hörte solche Worte nicht ungern. Statt diesen Ort zu fliehen, zögerte sie in ihrer Verwunderung, eine Schlange sprechen zu hören. Wäre sie von einem engelähnlichen Wesen angeredet worden, hätte das Befürchtungen in ihr geweckt. Aber sie dachte nicht im entferntesten daran, daß diese bezaubernde Schlange ein Werkzeug des gefallenen Feindes sein könnte. PP 30.1

Auf die verführerische Frage des Versuchers erwiderte sie: “Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, daß ihr nicht sterbet!” Da sprach die Schlange zu Eva: “Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.” 1.Mose 3,2-5. PP 30.2

Sie erklärte ihr, durch den Genuß von diesem Baum erreichten sie beide eine höhere Daseinsform und beträten ein umfassenderes Wissensgebiet. Sie selbst habe von der verbotenen Frucht gegessen und dadurch die Fähigkeit zum Sprechen erlangt. Und sie deutete an, daß der Herr ihnen die Frucht in eifersüchtiger Weise vorenthalte, um sie daran zu hindern, ihm gleich zu werden. Gerade wegen deren wunderbarer Eigenschaft, Weisheit und Stärke zu verleihen, habe Gott ihnen verboten, von ihr zu kosten oder sie auch nur anzurühren. Der Versucher gab zu verstehen, daß Gottes Warnung in Wirklichkeit nicht in Erfüllung gehen würde; sie ziele nur darauf ab, sie einzuschüchtern. Wie wäre es möglich, daß sie sterben könnten! Hatten sie nicht vom Baum des Lebens gegessen? Gott habe nur nach einer Möglichkeit gesucht, ihre Höherentwicklung zu größerem Glück zu verhindern. PP 30.3

So hat es Satan seit Adams Tagen immer wieder gehalten und damit großen Erfolg gehabt. Er verleitet die Menschen dazu, Gottes Liebe und Weisheit zu bezweifeln, und möchte erreichen, daß ihr Geist dauernd in unehrerbietiger Neugier, in ruhelosem, forschendem Verlangen in die Geheimnisse göttlicher Macht und Weisheit einzudringen versucht. In ihrem Bemühen, das zu erforschen, was Gott nach seinem Willen vorenthalten hat, übersehen unendlich viele die Wahrheiten, die Gott offenbart hat und die für ihre Errettung notwendig sind. Satan reizt Menschen zum Ungehorsam mit der Vorspiegelung, sie gewännen ganz erstaunliche neue Erkenntnisse. Aber das ist alles nur Täuschung. Überzeugt von ihren Fortschrittsideen, treten sie Gottes Gebote mit Füßen und schlagen Wege ein, die zur Entartung und in den Tod führen. PP 31.1

Satan täuschte dem heiligen Paar vor, es könne durch die Übertretung des göttlichen Gesetzes nur gewinnen. Hören wir heutzutage nicht ähnliche Beweisgründe? Viele reden von der Engstirnigkeit derer, die Gottes Gebote befolgen, während sie selber weitherzigere Anschauungen und infolgedessen größere Freiheiten hätten. Klingt das nicht wie ein Echo der Stimme aus Eden: An dem Tage, da ihr davon esset — das heißt, da ihr Gottes Gebot übertretet —, werdet ihr sein wie Gott? Satan behauptete, der Genuß der verbotenen Frucht sei ihm sehr nützlich gewesen. Dabei verheimlichte er allerdings, daß er wegen der Übertretung aus dem Himmel ausgestoßen wurde. Obwohl er es selbst erlebt hatte, daß Sünde unersetzlichen Verlust mit sich brachte, verbarg er sein eigenes Elend, um auch andere hineinzuziehen. So versuchen seine Gesinnungsgenossen auch heute, ihr wahres Wesen zu verheimlichen. Sie mögen für sich in Anspruch nehmen, ein geheiligtes Leben zu führen. Aber ihr begeistertes Bekenntnis macht sie als Betrüger um so gefährlicher. Sie stehen auf der Seite des Bösen, treten das Gesetz Gottes mit Füßen und verleiten noch andere zu ihrem ewigen Verderben. PP 31.2

Eva glaubte Satans Worten wirklich, aber dieser Glaube bewahrte sie nicht vor der Strafe der Sünde. Den Worten Gottes schenkte sie keinen Glauben und kam dadurch zu Fall. Im Gericht werden Menschen nicht deshalb verdammt werden, weil sie eine Lüge für glaubwürdig hielten, sondern weil sie die Wahrheit ablehnten und nicht lernen wollten, worin Wahrheit besteht. Welche Trugschlüsse Satan auch nahelegen mag, es ist immer verhängnisvoll, Gott nicht zu gehorchen. Deshalb müssen wir uns von Herzen bemühen, die Wahrheit zu erkennen. Alle Lehren, die Gott in seinem Wort aufzeichnen ließ, sind uns zur Warnung gegeben, um uns vor Betrug zu schützen. Ihre Mißachtung wird zu unserem Verderben führen; denn alles, was dem Worte Gottes widerspricht, kommt von dem Widersacher. PP 32.1

Die Schlange pflückte von der Frucht des verbotenen Baumes und legte sie in die Hände der noch zögernden Eva. Dann erinnerte sie die Frau an deren eigene Worte, nämlich daß Gott verboten habe, die Frucht auch nur zu berühren, wenn sie nicht sterben wollten. Das Verzehren würde ihr nicht mehr schaden. Als Eva keine schlimmen Folgen ihrer Tat bemerkte, wurde sie kühner. “Und das Weib sah, daß von dem Baum gut zu essen wäre und daß er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß.” 1.Mose 3,6. Diese war angenehm im Geschmack, und es schien Eva, als verspürte sie eine belebende Kraft, ja, sie bildete sich ein, eine höhere Stufe des Daseins zu erreichen. Furchtlos pflückte sie und aß. Nun sie gesündigt hatte, wurde sie Satans Werkzeug, um auch ihren Mann ins Verderben zu ziehen. In einer seltsam unnatürlichen Erregung, die Hände voller verbotener Früchte, suchte sie ihren Mann und berichtete ihm alles, was vorgefallen war. PP 32.2

In Adams Gesicht trat ein Ausdruck von Trauer. Er war überrascht und bestürzt. Auf Evas Worte entgegnete er, daß dies der Feind gewesen sein müsse, vor dem sie so gewarnt worden waren, und daß sie nach göttlichem Urteil nun sterben müsse. Statt einer Antwort nötigte sie ihn zu essen und wiederholte die Worte der Schlange, daß sie keineswegs sterben müßten. Das mußte wahr sein, denn sie fühlte nichts von göttlichem Mißfallen, sondern vielmehr eine köstlich belebende Wirkung, die alle Kräfte neu erweckte — eine Wirkung, wie sie ihrer Meinung nach auch die Engel erfüllte. PP 32.3

Adam begriff: seine Gefährtin hatte das einzige Verbot mißachtet, das Gott ihnen zur Prüfung ihrer Liebe und Treue auferlegte. Ein furchtbarer Kampf ging in ihm vor. Er klagte sich an, daß er Evas Entfernung von seiner Seite zugelassen hatte. Aber nun war es geschehen. Jetzt mußte er sich von ihr trennen, die doch seine ganze Freude gewesen war. Adam hatte sich der Gemeinschaft Gottes und seiner heiligen Engel erfreut. Er durfte die Herrlichkeit des Schöpfers sehen. Und er begriff die hohe Bestimmung, die dem Menschengeschlecht zugedacht war, wenn sie Gott treu blieben. Doch verlor er alle diese Segnungen aus den Augen aus Furcht, das eine Geschenk einzubüßen, das alle andern an Wert übertraf. Liebe, Dankbarkeit und Treue gegenüber dem Schöpfer wurden verdrängt durch die Gefühle für Eva. Sie war ein Teil von ihm, und der Gedanke an Trennung war ihm unerträglich. Er machte sich nicht klar, daß dieselbe Allmacht, die ihn aus Erdenstaub zu einer lebendigen, schönen Gestalt erschuf und ihm in Liebe auch eine Gefährtin gab, deren Platz wieder ausfüllen konnte. Er entschied sich dafür, ihr Schicksal zu teilen. Wenn sie sterben mußte, wollte er mit ihr sterben. Konnten nicht vielleicht auch die Worte der klugen Schlange wahr sein? Eva stand so schön und scheinbar unschuldig vor ihm wie vor ihrem Ungehorsam. Sie war noch liebevoller als zuvor. Kein Zeichen des Todes erschien an ihr, und er beschloß, die Folgen seiner Tat auf sich zu nehmen. Schnell nahm er die Frucht und aß. PP 33.1

Zuerst lebte auch Adam der Vorstellung, eine höhere Daseinsstufe zu erreichen. Aber nur zu bald erfüllte ihn der Gedanke an seine Sünde mit Entsetzen. Die Luft, die bis dahin mild und gleichmäßig angenehm war, ließ das schuldige Paar erschauern. Liebe und Friede waren dahin. Statt dessen ahnten sie, was Sünde ist, empfanden Furcht vor der Zukunft und fühlten sich schutzlos. Das Lichtgewand, das sie einhüllte, verschwand. Um es zu ersetzen, halfen sie sich mit Schurzen aus Blättern. Denn sie konnten den Augen Gottes und der heiligen Engel nicht unbekleidet begegnen. PP 33.2

Jetzt erst fingen sie an, das wahre Wesen ihrer Sünde zu erkennen. Adam machte seiner Gefährtin Vorwürfe wegen ihrer Torheit, sich von ihm zu entfernen und von der Schlange umgarnen zu lassen. Beide aber gaben sich der falschen Hoffnung hin, daß Gott, von dem sie so viele Liebesbeweise erfahren hatten, ihnen diese eine Übertretung verzeihen oder ihnen keine solch schreckliche Strafe auferlegen würde, wie sie zunächst befürchteten. PP 34.1

Satan frohlockte über seinen Erfolg. Er hatte die Frau dazu verleiten können, der Liebe Gottes zu mißtrauen, seine Weisheit anzuzweifeln und sein Gebot zu übertreten. Durch sie fiel auch Adam. PP 34.2

Aber der große Gesetzgeber machte Adam und Eva die Folgen ihrer Übertretung deutlich. Die Gegenwart Gottes offenbarte sich im Garten. In Unschuld und Heiligkeit hatten sie sonst das Nahen ihres Schöpfers mit Freuden begrüßt. Jetzt flohen sie angsterfüllt und versuchten, sich in den entferntesten Schlupfwinkeln des Gartens zu verbergen. Aber “Gott der Herr rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du? Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. Und er sprach: Wer hat dir gesagt, daß du nackt bist? Hast du nicht gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?” 1.Mose 3,9-11. PP 34.3

Adam konnte seine Sünde weder leugnen noch entschuldigen. Aber anstatt Reue zu zeigen, suchte er die Schuld auf seine Frau und damit auf Gott selbst abzuwälzen: “Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß.” 1.Mose 3,12. Freiwillig, aus Liebe zu Eva hatte er Gottes Wohlgefallen, seine Heimat im Paradies und ein ewiges Leben in Freude aufgeben wollen. Nun machte er die Gefährtin und sogar den Schöpfer selbst für seine Übertretung verantwortlich. So furchtbar ist die Macht der Sünde. PP 34.4

Als die Frau gefragt wurde: “Warum hast du das getan?” antwortete sie: “Die Schlange betrog mich, so daß ich aß.” 1.Mose 3,13. “Warum erschufest du die Schlange? Warum erlaubtest du ihr, Eden zu betreten?” Diese Gegenfragen lagen in Evas Entschuldigung. Damit versuchte sie wie Adam, Gott die Verantwortung für ihren Fall zuzuschreiben. Der Geist der Selbstrechtfertigung hat seinen Ursprung im Vater der Lüge. Unsere ersten Eltern gaben sich ihm hin, sobald sie dem Einfluß Satans erlegen waren. Seitdem haben alle Adamskinder denselben Geist an den Tag gelegt. Statt ihre Sünde demütig zu bekennen, suchten sie sich zu verteidigen, indem sie ihre Schuld auf andere abwälzten, auf die Umstände oder auf Gott. Dabei nahmen sie sogar seine Segnungen zum Anlaß, gegen ihn aufzubegehren. PP 34.5

Dann fällte der Herr das Urteil über die Schlange: “Weil du das getan hast, seist du verflucht, verstoßen aus allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben lang.” 1.Mose 3,14. Die Schlange hatte sich als Satans Werkzeug mißbrauchen lassen, darum unterlag auch sie dem göttlichen Urteil. Aus dem schönsten, bewundertsten Geschöpf des Feldes sollte sie zum niedrigsten und verachtetsten werden, das Menschen und Tiere fürchteten und verabscheuten. Die nächsten Worte an die Schlange bezogen sich auf Satan selbst und wiesen auf seine endgültige Niederlage und Vernichtung hin: “Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.” 1.Mose 3,15. PP 35.1

Eva traf die Ankündigung, daß Leid und Schmerz hinfort ihr Teil sein sollten. Und der Herr sprach: “Dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein.” 1.Mose 3,16. Bei der Erschaffung hatte Gott sie Adam gleichgestellt. Wären beide Gott gehorsam geblieben — in Übereinstimmung mit seinem großen Gesetz der Liebe —, hätten sie miteinander in Einklang leben können. Aber die Sünde brachte Uneinigkeit. So konnte nur die Unterordnung des einen ihre Eintracht bewahren. Eva war die erste bei der Übertretung gewesen. Als sie sich entgegen der göttlichen Weisung von ihrem Gefährten trennte, geriet sie in Versuchung. Als sie ihn dazu überredete, sündigte auch Adam, und nun wurde sie ihrem Mann unterstellt. Und dennoch hätte dieses Urteil, auch wenn es aus den Folgen der Sünde erwuchs, für das gefallene Menschengeschlecht ein Segen werden können, wenn die im göttlichen Gesetz verankerten Grundsätze befolgt worden wären. Aber der Mann mißbrauchte diese ihm übertragene Vorrangstellung. Das machte das Los der Frau nur allzuoft bitter und ihr Leben zur Last. PP 35.2

Im Garten Eden, ihrem Heim, war Eva an der Seite ihres Mannes vollkommen glücklich gewesen. Aber wie die ruhelosen Evas der Gegenwart lebte sie in der hoffnungsvollen Erwartung, in einen höheren Wirkungskreis aufzusteigen, als der war, den Gott für sie bestimmt hatte. Bei dem Versuch, sich über ihre ursprüngliche Stellung zu erheben, fiel sie tief unter sie hinab. Ähnliche Folgen wird erleben, wer seine täglichen Pflichten nicht froh erfüllen will, wie es Gottes Absicht entspricht. Über dem Bemühen, Stellungen einzunehmen, für die sie sich gar nicht eignen, sind viele an dem Platz müßig, wo sie zum Segen sein könnten. Dem Verlangen nach einem höheren Wirkungskreis opferte schon manche Frau ihre weibliche Würde und den Adel ihres Wesens. Dabei vernachlässigte sie eben die Aufgabe, für die sie vom Himmel bestimmt ist. PP 35.3

Zu Adam sprach der Herr: “Weil du gehorcht hast der Stimme deines Weibes und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen —, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.” 1.Mose 3,17-19. PP 36.1

Es war nicht Gottes Wille, daß das sündlose Paar etwas vom Bösen erfahren sollte. Freigebig hatte er ihnen Gutes gewährt und das Böse vorenthalten. Aber gegen sein Wort hatten sie von dem verbotenen Baum gegessen und würden es ihr Leben lang tun, damit aber auch die Kenntnis des Bösen behalten. Von nun an würde das Menschengeschlecht von Satan angefochten werden. Statt Freude an der Arbeit, wie Gott es wünschte, sollten Sorge und Mühsal, Enttäuschung, Kummer, Schmerz und schließlich der Tod ihr Los sein. PP 36.2

Da auch die Natur dem Fluch der Sünde unterlag, sollte dem Menschen deutlich werden, welche Folgen Auflehnung gegen Gott hat. Bei seiner Erschaffung machte Gott ihn zum Herrscher über die Erde und alle Lebewesen. Und solange Adam Gott gehorsam blieb, war ihm die ganze Natur dienstbar. Als er sich aber gegen Gottes Gesetz auflehnte, empörten sich die niederen Lebewesen gegen seine Herrschaft. So wollte der Herr in seiner großen Barmherzigkeit den Menschen die Heiligkeit seines Gesetzes verständlich machen. Durch eigenes Erleben mußten sie erkennen, wie gefährlich es ist, dieses Gesetz auch nur in den kleinsten Dingen zu mißachten. PP 36.3

Wenn der Mensch fortan ein Leben voller Mühe und Sorge führen würde, dann lag auch darin göttliche Liebe. Diese Schule war notwendig um seiner Sünde willen. Er sollte lernen, seine Begierden und Leidenschaften zu zügeln und sich selbst zu beherrschen. Es gehörte zu Gottes großem Plan, den Menschen aus Verderben und Erniedrigung zu erretten. PP 37.1

Die Warnung, “an dem Tage, da du von ihm issest, mußt du des Todes sterben” (1.Mose 2,17), bedeutete nicht, daß sie an dem Tage sterben sollten, da sie von der verbotenen Frucht genießen würden. Aber das unwiderrufliche Urteil wurde bereits an jenem Tage verkündet. Die Unsterblichkeit war ihnen nur unter der Voraussetzung des Gehorsams verheißen worden. Im Falle einer Übertretung würden sie das ewige Leben verwirken und an eben dem Tage zum Tode verurteilt werden. PP 37.2

Um ewig leben zu können, mußte der Mensch auch weiterhin vom Baum des Lebens genießen. Entzog man ihm diese Frucht, nahm seine Lebenskraft allmählich ab, bis sie erlosch. Es war Satans Plan, daß Adam und Eva sich durch ihren Ungehorsam Gottes Mißfallen zuzogen. Ohne Vergebung zuerlangen, würden sie vom Baum des Lebens essen und dadurch ein Dasein in Sünde und Elend verewigen. Aber Gott ließ den Lebensbaum sofort nach dem Sündenfall durch heilige Engel bewachen. Diese waren von Lichtstrahlen eingehüllt, die wie blitzende Schwerter aussahen. Kein Angehöriger Adams durfte an dieser Schranke vorüber, um etwa von der lebenspendenden Frucht zu genießen. Deshalb gibt es keinen unsterblichen Sünder. PP 37.3

Die Flut der Leiden, die aus der Ubertretung unserer ersten Eltern hervorging, wird von vielen als zu schreckliche Folge solcher unbedeutenden Sünde angesehen; sie zweifeln deshalb an Gottes Weisheit und Gerechtigkeit. Wenn sie sich aber in diese Frage vertieften, sähen sie ihren Irrtum ein. Gott schuf den Menschen nach seinem eigenen Bilde, frei von Sünde. Die Erde sollte mit Lebewesen bevölkert werden, die nur wenig niedriger waren als die Engel. Aber ihr Gehorsam mußte erprobt werden, denn Gott wollte die Erde nicht mit Wesen bevölkert wissen, die sein Gesetz mißachteten. Doch unterwarf er Adam in seiner großen Barmherzigkeit keiner harten Prüfung. Und gerade deswegen war die Sünde so schwerwiegend. Wenn Adam nicht einmal die kleinste Probe bestand, dann würde er, mit größerer Verantwortung betraut, auch eine schwerwiegendere Versuchung nicht überwunden haben. Wäre Adam anderseits eine schwere Prüfung auferlegt worden, hätten dem Bösen zugeneigte Menschen sich mit den Worten entschuldigt: “Das hier ist eine ganz geringfügige Angelegenheit, und Gott nimmt es bei solch kleinen Dingen nicht so genau.” PP 37.4

Auf diese Weise wäre es zu fortgesetzter Übertretung in den Anliegen gekommen, die Menschen bedeutungslos erscheinen und die sie ungestraft durchgehen lassen. Aber der Herr hat es klar gesagt, daß Sünde jeder Art ihm ein Greuel ist. PP 38.1

Als Eva die verbotene Frucht kostete und auch ihren Mann verleitete, davon zu essen, schien ihr der Ungehorsam gegen Gott geringfügig zu sein. Aber mit ihrer Sünde ergoß sich ein Strom von Leiden in die Welt. Wer kann im Augenblick der Versuchung die schrecklichen Folgen übersehen, die ein einziger Fehltritt nach sich zieht? PP 38.2

Viele lehren, Gottes Gesetz sei nicht verbindlich, und betonen, es sei unmöglich, ihm gerecht zu werden. Aber wenn dem so wäre, warum mußte dann Adam Strafe für seine Übertretung erleiden? Die Sünde unserer ersten Eltern brachte Schuld und Not über die Welt, und ohne die Güte und Barmherzigkeit Gottes wäre sie in hoffnungslose Verzweiflung gestürzt worden. Niemand lasse sich täuschen. “Der Sünde Sold ist Tod.” Römer 6,23. Gottes Gesetz kann man heute ebensowenig ungestraft übertreten wie zu der Zeit, als das Urteil über den Vater des Menschengeschlechtes gesprochen wurde. PP 38.3

Nach ihrer Sünde durften Adam und Eva nicht länger in Eden wohnen. Sie baten sehr darum, im Heim ihrer Unschuld und Freude bleiben zu dürfen. Sie räumten ein, das Recht darauf verwirkt zu haben, und gelobten für die Zukunft unbedingten Gehorsam. Aber sie wurden abgewiesen mit der Begründung, ihre Natur sei durch die Sünde so verderbt, daß sich ihre Widerstandskraft gegen den Bösen verringert habe und sie ihm deshalb um so leichteren Zugang gewährt hätten. In ihrer Unschuld hatten sie der Versuchung nachgegeben. Im Bewußtsein ihrer Schuld würden sie noch weniger Kraft haben, rechtschaffen zu bleiben. PP 38.4

Demütig und unsagbar traurig sagten sie ihrer schönen Heimat Lebewohl und gingen hinaus, um eine Erde zu bewohnen, auf der nun der Fluch der Sünde lastete. Die einst so milde, gleichmäßige Lufttemperatur war jetzt auffallend verändert. Darum versah der Herr sie mitleidsvoll mit Röcken aus Fellen zum Schutz gegen Hitze und Kälte. PP 38.5

Als Adam und seine Gefährtin an den welkenden Blumen und dem fallenden Laub die ersten Zeichen des Vergehens erlebten, war ihre Trauer darüber größer als die der heutigen Menschen über ihr zukünftiges Sterben. Das Absterben der lieblichen Blumen war in der Tat ein Grund zum Kummer. Als aber die stattlichen Bäume ihre Blätter abwarfen, brachte ihnen das unerbittlich zum Bewußtsein, daß fortan der Tod das Schicksal alles Lebenden war. PP 39.1

Der Garten Eden blieb auch nach der Ausweisung des Menschen auf Erden erhalten. Vgl.1.Mose 4,16. Das gefallene Menschengeschlecht hatte noch lange die Möglichkeit, sein ehemaliges Heim der Unschuld zu sehen, dessen Zugang ihm nur durch die hütenden Engel verwehrt war. An der von Cherubim bewachten Pforte des Paradieses offenbarte sich Gottes Herrlichkeit. Hierher kam Adam mit seinen Söhnen, um Gott anzubeten. Hier erneuerten sie ihr Gehorsamsgelübde jenem Gesetz gegenüber, dessen Übertretung sie aus Eden vertrieb. Erst als sich der Frevel über die ganze Welt ausbreitete und die Bosheit der Menschen ihre Vernichtung durch eine Wasserflut erforderte, entrückte der Schöpfer den Garten Eden von der Erde. Aber bei der endgültigen Wiederherstellung, wenn Gott “einen neuen Himmel und eine neue Erde” (Offenbarung 21,1) schafft, wird Eden herrlicher geschmückt als zu Anfang erstehen. PP 39.2

Dann werden alle, die Gottes Gebote gehalten haben, in unvergänglicher Kraft unter dem Baum des Lebens frei atmen. Für ewige Zeiten werden die Bewohner sündloser Welten in jenem Lustgarten ein Beispiel vollkommener Schöpfung Gottes sehen; unberührt vom Fluch der Sünde wird er ein Abbild dessen sein, was die ganze Erde geworden wäre, wenn die Menschen des Schöpfers herrlichen Plan erfüllt hätten. PP 39.3