Erziehung
Kapitel 6: Prophetenschulen
“Sie werfen sich vor ihm nieder
und achten auf seine Worte.”
5.Mose 33,3.
Sobald Gottes Erziehungskonzept in die Tat umgesetzt wurde, sprachen die Ergebnisse für sich selbst. Leider war das schon damals höchst selten, und entsprechend waren auch die Folgen. ERZ 44.1
Unglaube und das Mißachten der göttlichen Anordnungen beschworen Situationen herauf, denen die meisten Israeliten nicht gewachsen waren. Besonders verhängnisvoll wirkte es sich aus, daß sich Israel bei der Landnahme nicht strikt von den heidnischen Völkern getrennt hatte. Im Gegenteil: “Statt dessen vermischten sie sich mit ihnen und übernahmen ihre schrecklichen Gebräuche: sie beteten Götter an, die ihnen zum Verhängnis wurden. Sie opferten ihre eigenen Söhne und Töchter den Dämonen.”1 ERZ 44.2
Ihr Herz war nicht ungeteilt bei Gott. “Ihr Vertrauen auf Gott war schwach und unbeständig; sie standen nicht treu zu dem Bund, den er mit ihnen geschlossen hatte. Trotzdem blieb er barmherzig, vergab ihre Schuld und tötete sie nicht. Immer wieder hielt er seinen Zorn zurück, anstatt ihm freien Lauf zu lassen. Er wußte ja, wie vergänglich sie waren — flüchtig wie ein Hauch, der verweht und nicht wiederkehrt.”2 In dem Maße, wie sich die Eltern damals Gottes Forderungen verschlossen, vernachlässigten sie auch die ihnen übertragenen Erziehungspflichten. Deshalb wurden viele junge Menschen nicht mehr im Sinne der göttlichen Maßstäbe geprägt, sondern von dem, was sie im Elternhaus erlebten: Abfall von Gott, Götzendienst und einen mehr oder weniger heidnischen Lebensstil. ERZ 44.3
Um diesem Übel zu begegnen, ging Gott in Sachen Erziehung einen anderen Weg. Seit alters galten die Propheten als Sprecher Gottes und Lehrer. Man wußte, daß diese Männer direkt von Gott Weisungen empfingen, um sie an das Volk weiterzugeben. Zu den Propheten wurden aber auch die gezählt, die nicht weissagen sollten, sondern von Gott zu geistlichen Lehrern bestimmt waren. Um diesen Männern eine gediegene Ausbildung zu ermöglichen, gründete Samuel auf Gottes Geheiß die sogenannten Prophetenschulen. ERZ 45.1
Diese Einrichtungen verfolgten mehrere Ziele. Zum einen sollten sie durch die Rückbesinnung auf Gottes Wort dem eindringenden Heidentum und der moralischen Verwahrlosung entgegenwirken. Zum andern dienten sie dazu, gottesfürchtige Lehrer auszubilden, die das geistige und geistliche Niveau der hebräischen Jugend heben sollten oder als Führer und Berater wirken konnten. Zu diesem Zweck scharte Samuel gläubige junge Männer um sich, die intelligent und fleißig genug waren, solche Aufgaben zu übernehmen. Im Volk nannte man sie “Kinder der Propheten”, weil sie von den berufenen und mit Gottes Geist ausgestatteten Sehern unterrichtet und im Wort Gottes unterwiesen wurden. Sie wurden ihrer Frömmigkeit wegen geachtet und genossen aufgrund ihrer Gelehrsamkeit hohes Ansehen im Volk. ERZ 45.2
Zu Lebzeiten Samuels gab es zwei solche Schulen: eine in Rama, wo der Prophet wohnte, die andere in Kirjat-Jearim. Später wurden noch weitere gegründet. Heute würden diese Schulen als selbstunterhaltende Einrichtungen gelten. Die Schüler betrieben neben ihrem Studium Ackerbau oder arbeiteten als Handwerker, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und das Bestehen der Schule zu sichern. Das war für Hebräer nichts Besonderes, denn in Israel galt körperliche Arbeit — im Gegensatz zu manchen anderen antiken Kulturen — als höchst ehrenhaft. Für jeden Jugendlichen, mochten seine Eltern reich sein oder arm, war es selbstverständlich, daß er ein Handwerk lernte. Auch von denen, die sich auf den Dienst für Gott vorbereiteten, wurde das erwartet, zumal meist auch die Lehrer den Lebensunterhalt durch ihrer Hände Arbeit verdienten. ERZ 45.3
Wie in den jüdischen Familien, so fand auch in den Prophetenschulen der Unterricht weitgehend mündlich statt. Zwar wurden die Schüler auch mit den hebräischen Urkunden und den heiligen Schriften, soweit sie schon existierten, vertraut gemacht, aber der größte Teil des Lehrstoffs bestand in der mündlichen Weitergabe uralter Überlieferung. Die wichtigsten Unterrichtsfächer waren das Gesetz Gottes mit den mosaischen Vorschriften, Geschichte Israels, geistliche Musik und Dichtkunst. Im Fach Geschichte befaßten sich die Schüler vor allem damit, Jahwes wunderbaren Taten an seinem Volk nachzuspüren. Aufgabe des “theologischen Forschens” war es, die großen Wahrheiten ins Blickfeld zu rücken, die sich hinter der Symbolik des Heiligtumsdienstes verbargen. Schon damals ging es um das Herzstück des Glaubens, nämlich um das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt auf sich nehmen würde. ERZ 45.4
In den Prophetenschulen wurde viel Wert gelegt auf Ehrfurcht vor Gott und echte Frömmigkeit. Die Schüler wurden nicht nur zum Gebet angehalten, sondern sie wurden gelehrt, wie sie beten, wie sie sich ihrem Schöpfer nähern und ihrem Glauben gemäß leben sollten. Darüber hinaus erfuhren sie etwas über das Wirken des Heiligen Geistes, wie man sich für ihn öffnen kann, und was es heißt, sich von ihm gebrauchen zu lassen. Sie erlebten auch, wie Gottes Geist das uralte Wort lebendig werden ließ, und wie er sich durch prophetische Rede oder geistliche Lieder kundtat. ERZ 46.1
Diese Schulen erwiesen sich als sehr wirkungsvoll in der Erziehung zu der Gerechtigkeit, die ein Volk groß macht.1 Ihnen war es mit zu verdanken, daß Israel während der Herrschaft Davids und Salomos eine erstaunliche Blütezeit erlebte. ERZ 46.2
Auch David wurde nach den Grundsätzen der Prophetenschulen erzogen, und sie beeinflußten sein Leben nachhaltig. Später bekannte er: “Dein Wort ist wie ein Licht in der Nacht, das meinen Weg erleuchtet [...] Entschlossen will ich mich an deine Ordnungen halten, solange ich lebe.”2 Diese Grundhaltung war es, die König David zu einem Mann nach dem Herzen Gottes gemacht hatte. ERZ 46.3
Auch im Leben des jungen Salomo waren die Auswirkungen dieser göttlichen Erziehungsmethode nicht zu übersehen. Er hatte sich ähnlich entschieden wie sein Vater David. Am Anfang seiner langen Regierungszeit bat er Gott um ein weises und verständiges Herz. Das war ihm wichtiger als Reichtum, Ruhm und Macht. Gott erfüllte diese Bitte und tat hinzu, worum Salomo nicht gebeten hatte: Reichtum und Ehre. So wurde dieser israelitische König wegen seiner Weisheit, seiner klugen Herrschaft und seines Reichtums schon zu seiner Zeit zu einer legendären Gestalt. ERZ 46.4
Unter den Königen David und Salomo erlebte Israel seine größte Blütezeit und genoß hohes Ansehen. So erfüllte sich die Verheißung, die der Herr bereits Abrahm gegeben und Mose gegenüber ausdrücklich erneuert hatte: “Befolgt alle Weisungen des Herrn, die ich euch verkünde! Liebt den Herrn, euren Gott, bleibt ihm treu und tut alles, was er von euch fordert! Dann wird er all diese Völker vor euch vertreiben, obwohl sie größer und stärker sind als ihr, und ihr werdet ihr Land in Besitz nehmen können. Jeder Fleck Erde, den ihr betreten werdet, soll euch gehören, von der Wüste im Süden bis zum Libanon und vom Eufratstrom bis zum Meer. Niemand wird sich gegen euch behaupten können; denn der Herr wird Angst und Entsetzen vor euch über alle Bewohner des Landes kommen lassen.”1 ERZ 47.1
Doch Sicherheit und Wohlstand hatten auch Schattenseiten. Nicht alles, was David tat, war gut — im Gegenteil: er lud schwere Schuld auf sich. Zwar bereute er seine Sünde und hatte an ihr auch persönlich schwer zu tragen, aber sein negatives Beispiel blieb nicht ohne Auswirkungen auf seine Untertanen. Es ermutigte viele Israeliten, es mit dem Willen Gottes auch nicht mehr so genau zu nehmen. Und bei Salomo war es nicht viel anders. Seine Herrschaft hatte verheißungsvoll wie ein junger Morgen begonnen, aber zum Ende hin verdunkelte sie sich immer mehr. Sein Streben nach Macht, politischer Anerkennung über die Grenzen des Landes hinaus und nach persönlichem Ansehen verführten ihn zu Bündnissen mit heidnischen Völkern. ERZ 47.2
Für das Silber von Tarsis und das Gold von Ophir gab er seine moralischen Grundsätze auf und verriet das heilige Vermächtnis. Politische Bündnisse mit Götzendienern und Ehebündnisse mit heidnischen Frauen höhlten seinen Glauben aus. Die Schranken, die Gott zum Schutz seines Volkes aufgerichtet hatte, wurden auf diese Weise niedergerissen, und Salomo geriet selbst in den Dunstkreis des Götzendienstes. Auf dem Ölberg, direkt dem Tempel Jahwes gegenüber, wurden Kultstätten errichtet, die der Verehrung fremder Götter dienten. ERZ 47.3
In dem Maße, wie Salomo seine Beziehung zu Gott löste, verlor er auch die Herrschaft über sich selbst. Sein geistliches Feingefühl stumpfte immer mehr ab, und von der Besonnenheit, die ihn am Anfang seiner Regierungszeit ausgezeichnet hatte, blieb nicht viel übrig. Er wurde stolz, ehrgeizig, prachtliebend und verschwenderisch. Wo er hätte konsequent sein sollen, war er nachgiebig, und wo Verständnis und Duldsamkeit angebracht gewesen wäre, griff er hart durch. ERZ 48.1
Am Ende war seine Regierungszeit überschattet von Grausamkeiten und Unterdrückung. So wurde aus einem ehemals gerechten, mitfühlenden und gottesfürchtigen Herrscher ein unberechenbarer Despot. Bei der Einweihung des Tempels hatte er darum gebetet, daß Israel ungeteilten Herzens Jahwe dienen möge, doch dann wurde ausgerechnet er selbst zum Verführer. Damit wurde er sich selbst untreu, entehrte Gott und brachte Schande über Israel, dessen ganzer Stolz er einmal gewesen war. ERZ 48.2
Auch Salomo bereute am Ende seine Sünde und sein Versagen, doch das konnte das Aufgehen der bösen Saat nicht verhindern. Unaufhaltsam wuchs heran, was einmal ausgestreut war, und bescherte dem Volk eine schlimme Ernte. Das Erziehungskonzept Gottes sollte bewirken, daß sich Israel in seinem moralischen Anspruch, seiner Art und Lebensweise von allen anderen Völkern abhob. Doch was der Herr seinem Volk als Vorrecht und Segen zugedacht hatte, empfanden die Israeliten als Belastung und Nachteil. Einfachheit und Selbstbeschränkung, ohne die hochgesteckte Ziele niemals zu erreichen sind, waren ihnen zuwider. Dafür schielten sie nach dem Wohlstand und der freizügigen Lebensart ihrer heidnischen Nachbarn. Das Erziehungskonzept Gottes war ihnen lästig, und seinen Herrschaftsanspruch lehnten sie ab, denn sie wollten sein wie alle anderen Völker.1 Damit begann der Niedergang und es kam, wie es kommen mußte: Israel wurde zur leichten Beute gerade jener Völker, deren Art und Lebensweise ihm so erstrebenswert erschienen war. ERZ 48.3
Vieles von dem, was Gott für sein Volk tun wollte, ließ sich nicht verwirklichen, weil Israel keinen Sinn für Gottes Absichten hatte oder sich dagegen sperrte. Das schloß jedoch nicht aus, daß sich Gottes Zusagen für diejenigen erfüllten, die dem Herrn vertrauten und zu ihm hielten. Denn: “... alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun oder wegtun.”2 ERZ 49.1
Gottes Wesen und seine Absichten ändern sich nicht, auch wenn es bei der Verwirklichung seiner Pläne unterschiedliche Entwicklungsstufen gibt und er sich den Menschen auch nicht immer auf dieselbe Weise offenbart. Fest steht jedoch: “Alles, was gut und vollkommen ist, das kommt von Gott, dem Vater des Lichts. Er ist unwandelbar; niemals wechseln bei ihm Licht und Finsternis, Gutes und Böses.”3 ERZ 49.2
Im Blick auf die dunklen Stellen in der Geschichte Israels schrieb der Apostel Paulus: “Alle diese Ereignisse sollen uns ein abschreckendes Beispiel sein. Sie wurden niedergeschrieben, damit wir gewarnt sind.”4 Heutzutage ist es nämlich nicht anders als damals: Ob Gottes Erziehungskonzept bei uns greifen kann, hängt davon ab, inwieweit wir es akzeptieren und in die Tat umsetzen. Wenn wir uns an die Grundsätze des Wortes Gottes halten, wird uns genauso viel Segen zufließen, wie ihn Israel hätte erfahren können. ERZ 49.3