Erziehung
Kapitel 5: Israel in Gottes Schule
“Er schloß sie fest in seine Arme,
bewahrte sie wie seinen Augapfel.”
5.Mose 32,10.
Tragende Mitte des göttlichen Erziehungskonzepts war von Anfang an die Familie. Adam wird als “ein Sohn Gottes”1 bezeichnet, womit ausgedrückt werden sollte, daß die ersten Menschen Kinder der göttlichen Familie waren. Alles, was sie wissen mußten, lernten sie von Gott, ihrem Vater, denn er war ihr Erzieher. ERZ 31.1
Nach dem Sündenfall mußte der “Lehrplan” den veränderten Bedingungen angepaßt werden, aber die Erziehung der Menschen ging weiter. Zwar war nun nicht mehr Gott, der Vater, ihr Lehrer, sondern Christus, der Sohn Gottes. Als Stellvertreter Gottes wurde er sozusagen zum Bindeglied zwischen dem heiligen Gott und den sündigen Menschen. Über die Jahrtausende hinweg blieb er der große Lehrer der Menschheit. Von ihm stammt auch der Erziehungsauftrag, den irdische Eltern in seinem Sinne an ihren Kindern wahrzunehmen haben. Eltern sind — wenn sie ihre Aufgabe richtig verstehen — Stellvertreter Christi auf Erden, und ihre Familie ist die Schule, in der Erziehung praktiziert wird. ERZ 31.2
Dieses Familienmodell war noch zur Zeit der sogenannten Urväter ein gängiges Erziehungskonzept. Es bot günstige Voraussetzung für die Charakterbildung der jeweils jungen Generation. Menschen, die im Glauben an Gott lebten — beispielsweise Abraham oder Jakob —, hielten an dem gottgewollten Lebensplan fest. Sie waren Bauern oder Hirten und lebten deshalb sehr naturverbunden. Ihre Arbeit war schwer und mit Gefahren verbunden, sie ließ ihnen aber auch die Zeit, über Gott nachzudenken und nach seinem Willen zu fragen. Und die gewonnenen Erkenntnisse gaben sie von Generation zu Generation weiter. Allerdings läßt sich schon ziemlich früh eine gegensätzliche Entwicklung beobachten. ERZ 31.3
Viele Menschen entfernten sich von Gott und damit auch von seinem Erziehungskonzept. In dem Maße, wie sie die Beziehung zu Gott aufgaben, wuchs ihre Angst voreinander. Weil sie sich als einzelne nicht mehr sicher fühlten, taten sie sich zusammen und bauten befestigte Städte. Diese Zusammenballung stillte zwar ihr Bedürfnis nach Sicherheit, machte die Städte aber mehr und mehr zu Zentren, in denen Prunksucht und Machtmißbrauch an der Tagesordnung waren, ganz zu schweigen vom moralischen Verfall und der Lasterhaftigkeit ihrer Bewohner. Wahrlich kein gutes Klima für die Erziehung junger Menschen im Sinne Gottes. ERZ 32.1
Als Gott später die Nachkommen Abrahams zu seinem Volk machte, sollte in Israel die Erziehung wieder auf das ursprüngliche Konzept zurückgeführt werden. Das war nicht leicht, denn nur wenige der in Ägypten aufgewachsenen Hebräer wußten, was Erziehung im Sinne Gottes ist. Viele Eltern mußten erst einmal selbst erzogen werden, ehe sie ihren Kindern Gottes Willen und seine Ordnungen weitergeben konnten. Die meisten von ihnen waren ihr Leben lang Sklaven gewesen — unwissend, ungebildet und von fragwürdiger Moral. Sie wußten wenig von Gott, und es fiel ihnen schwer zu glauben. Fast vierhundert Jahre Sklaverei hatten ihre Spuren im Denken und in der Lebensart Israels hinterlassen. ERZ 32.2
Um aus den hebräischen Sklaven ein moralisch hochstehendes Gottesvolk zu machen, mußte der Herr ihnen erst einmal sein Wesen und seine Absichten offenbaren. In diesem Sinne war die vierzigjährige Wüstenwanderung eine Schule ganz besonderer Art. Einerseits mutete Jahwe den Israeliten Mühsal, Hunger, Durst und ständige Bedrohung zu, zeigte ihnen aber zugleich auf wunderbare Weise, daß er zu ihnen stand und ihr Gott sein wollte. Alles, was sie erlebten, sollte Vertrauen wecken, ihren Glauben stärken und sie Gott näher bringen. Und wenn sie diese Lektion gelernt hätten, wollte er ihnen ein Gesetz geben, an dem sie sich orientieren konnten und das zum Maßstab für ihre moralische und charakterliche Entwicklung werden sollte. ERZ 32.3
Die jahrzehntelange Wüstenwanderung und das Erleben am Berg Sinai waren eine unverzichtbare Vorbereitung auf die Besitznahme Kanaans und das zukünftige Leben im verheißenen Land. Vor allem das Geschehen am Sinai dürfte großen Eindruck auf die Israeliten gemacht haben. Auf dem Gipfel des Berges stand die Wolkensäule, die bisher vor dem Volk hergezogen war, nun aber die Ebene überschattete, in der Israel seine Zelte aufgeschlagen hatte. Nachts leuchtete die Feuersäule und vermittelte dem Volk die Gewißheit, daß Gott die Seinen beschützt. Und während sie schliefen, sorgte der Herr durch Himmelsbrot dafür, daß die Menschen am nächsten Tage genügend Nahrung fanden. Für die Gesetzgebung hätte man sich keine bessere Szenerie vorstellen können als die majestätische Bergwelt. Sie machte auf eindrucksvolle Weise sichtbar, wie unbedeutend und klein der Mensch ist, wenn er vor Gott steht. Gerade hier sollte Israel Gottes Macht und Herrlichkeit sehen, seine Weisungen empfangen und erkennen, wozu es führt, wenn Gottes Wille mißachtet wird. ERZ 33.1
Doch die Israeliten lernten ihre Lektionen nur mühsam. In Ägypten waren sie an sichtbare Götter gewöhnt. Für die zahlreichen Göttinnen und Götter gab es dort Skulpturen aus ganz unterschiedlichen Werkstoffen — bis hin zu Darstellungen von heiligen Tieren. Deshalb fiel es Israel schwer, einen unsichtbaren Gott zu verehren, von dem es nicht einmal ein Abbild gab. Gott kam diesem Unvermögen entgegen und gab dem Volk ein sichtbares Zeichen seiner Gegenwart: Sie “sollen mir aus diesen Materialien ein Heiligtum bauen, denn ich will bei ihnen wohnen.”1 ERZ 33.2
Diese irdische “Wohnung Gottes” sollte die himmlische Wirklichkeit modellartig darstellen. Die entsprechenden Anweisungen für den Bau der Stiftshütte empfing Mose auf dem Berg Sinai direkt von Gott. ERZ 33.3
Zugleich ließ der Herr die Israeliten durch die Gebote wissen, wie er sich die Art und das Wesen eines Volkes vorstellte. Es sollte ein Abbild dessen sein oder werden, den sie anbeteten und dem sie dienten. Vorbild war ihnen Gott selbst, der, als er an Mose vorüberging, ausrief: “Ich bin der Herr, der barmherzige und gnädige Gott. Meine Geduld ist groß, meine Liebe und Treue kennen kein Ende.”1 ERZ 33.4
Allerdings war von vornherein klar, daß sie diesem Ideal aus eigener Kraft nicht würden gerecht werden können. Die Offenbarung am Sinai machte ihnen aber bewußt, wie hilflos sie waren und was sie eigentlich brauchten. Deshalb sollte ihnen das Heiligtum und der darin stattfindende Opferdienst zeigen, wie Sünde getilgt wurde, und wie ihnen durch den Erlöser die Kraft zu einem geheiligten Leben vor Gott vermittelt werden konnte. Was durch die Stiftshütte und den Heiligtumsdienst symbolisch dargestellt wurde, sollte später durch Christus in die Tat umgesetzt werden. ERZ 34.1
Die vergoldeten Wände, die mit Cherubim bestickten Vorhänge, der Weihrauch, der immerwährend zum Himmel stieg, die makellos weiße Kleidung der Priester und das innerste Heiligtum mit dem Gnadenstuhl zwischen den anbetenden Engeln waren Symbole, die den Israeliten zeigen sollten, was Gott mit seinem Volk vorhatte. Der Apostel Paulus hat das viele Jahrhunderte später so ausgedrückt: “Denkt also daran, daß ihr Gottes Bauwerk und sein Tempel seid, daß Gottes Geist in euch wohnt! Wer diesen Tempel zerstört, den wird Gott richten. Denn Gottes Tempel ist heilig, und dieser Tempel seid ihr!”2 ERZ 34.2
Einerseits war es für die Israeliten ein großes Vorrecht, Gott eine heilige Wohnstätte bauen zu dürfen, andererseits wurde ihnen damit aber auch eine große Verantwortung auferlegt. Da sollten Menschen, die eben noch Sklaven gewesen waren, mitten in der Wüste aus edelsten Materialien und mit kunsthandwerklichem Geschick ein “Haus” bauen, das würdig genug war, Gott als Wohnung zu dienen. Ein geradezu unmögliches Unterfangen. Doch Gott, der die Baupläne geschaffen und den Bauauftrag gegeben hatte, sorgte auch dafür, daß die Ausführung gelang. ERZ 34.3
“Dann sprach der Herr zu Mose: Ich habe Bezalel, den Sohn Uris und Enkel Hurs vom Stamm Juda ausgewählt, den Bau des heiligen Zeltes zu leiten. Mit meinem Geist habe ich ihn erfüllt; ich habe ihm Weisheit und Verstand gegeben und ihn befähigt, alle für den Bau erforderlichen handwerklichen und künstlerischen Arbeiten auszuführen [...] Ich habe Oholiab, den Sohn Ahisamachs vom Stamm Dan, ausgesucht, ihm bei allen Arbeiten zu helfen. Auch allen anderen Kunsthandwerkern, die am heiligen Zelt arbeiten, habe ich Weisheit und Verstand gegeben, damit alles nach meinem Befehl angefertigt wird ...”1 ERZ 34.4
Man stelle sich vor: Mitten in der Wüste sorgte Gott durch himmlische Lehrer dafür, daß sich Israeliten alle handwerklichen und künstlerischen Fähigkeiten aneignen konnten, die beim Bau des heiligen Zeltes benötigt wurden. ERZ 35.1
Allerdings war das “Projekt Stiftshütte” nicht nur eine Sache weniger Spezialisten, sondern sollte dem ganzen Volk am Herzen liegen. Deshalb wurden viele in die Planung, den Bau und die Ausgestaltung einbezogen. Darüber hinaus sollten alle Israeliten entsprechend ihren Möglichkeiten dafür sorgen, daß es nicht an kostbaren Materialien für den Bau fehlte. ERZ 35.2
So lernte Israel durch gemeinsamen Dienst und durch Opferbereitschaft mit Gott zusammenzuarbeiten. Und so, wie das beim Bau des heiligen Zeltes geschah, sollte es in Zukunft auch beim Errichten des inwendigen Tempels, d. h. der Wohnstätte Gottes in den Herzen der Menschen, sein. ERZ 35.3
Parallel zum Auszug aus Ägypten begann Gott damit, sein Volk auf die zukünftigen Aufgaben vorzubereiten und es in diesem Sinne zu erziehen. Begonnen hatte das schon in Ägypten, als der Herr die für den Auszug notwendigen Anweisungen gab. Das Volk wurde in verschiedene Gruppen aufgeteilt, die jeweils einem Führer unterstanden. Am Sinai wurde der organisatorische Aufbau des Gemeinwesens ergänzt und abgeschlossen. Die Zweckmäßigkeit und Ordnung, die alles kennzeichnet, was Gott geschaffen hat, läßt sich auch im hebräischen Staatswesen beobachten. Gott selbst wollte sein Volk regieren. Mose sollte als sein Stellvertreter die Regierungsgeschäfte führen, Recht sprechen und darauf achten, daß Israel sich an Gottes Willen hielt. Unterstützt wurde er durch den Rat der siebzig Ältesten, durch die Priester und die Fürsten. Die Aufteilung des Volkes in Gruppen zu je tausend und in Untergruppen von je hundert, fünfzig und zehn Israeliten, für die jeweils ein Führer zuständig war, blieb auch weiterhin erhalten.1 Außerdem gab es Männer, die mit speziellen Aufgaben betraut werden konnten. ERZ 35.4
Auch der Aufbau des Lagers folgte einem ganz bestimmten Prinzip. Die Mitte bildete immer die Stiftshütte, das Haus Gottes. Um sie herum gruppierten sich die Zelte der Priester und Leviten. Außerhalb dieses Kreises lagerten sich die verschiedenen Stämme Israels in vorgeschriebener Ordnung um ihr Banner. ERZ 36.1
Um das wandernde Volk vor Krankheiten und Seuchen zu schützen, wurden strenge und zum Teil bis heute erstaunliche hygienische Vorschriften erlassen. Allerdings dienten sie nicht nur der gesundheitlichen Vorsorge, sondern sollten zugleich der Tatsache Rechnung tragen, daß der heilige Gott bei seinem Volk wohnte. Diesen Gesichtspunkt betonte Mose durch die Erklärung: “Der Herr, euer Gott, ist mitten unter euch in eurem Lager! [...] Deshalb muß euer Lager heilig sein. Wenn der Herr dort etwas sieht, was er verabscheut, wendet er sich von euch ab.”2 ERZ 36.2
Die Erziehung der Israeliten erstreckte sich auf alle Lebensbereiche. Wie sehr Gott um das Wohl seines Volkes besorgt war, läßt sich an der umfangreichen Gesetzgebung ablesen. Selbst um die Versorgung der Israeliten mit zweckmäßiger Nahrung kümmerte sich Gott. Das Manna, mit dem er sie in der Wüste versorgte, war beispielsweise so beschaffen, daß es den körperlichen, geistigen und geistlichen Erfordernissen entsprach, auch wenn die Israeliten nicht immer mit der ungewohnten und für sie eintönigen Kost in der Wüste zufrieden waren. Der Protest äußerte sich in Klagen wie: “Ach, hätte der Herr uns doch in Ägypten sterben lassen! Dort hatten wir wenigstens Fleisch zu essen und genug Brot, um satt zu werden.”3 Verständlich mag solches Gejammer vielleicht noch sein, berechtigt war es jedoch nicht, denn während der gesamten Wüstenwanderung kam es in keinem der israelitischen Stämme der Nahrung wegen zu Mangelerscheinungen. ERZ 36.3
In der Bundeslade, die Mose auf Geheiß Gottes hatte anfertigen lassen, wurde das Gesetz aufbewahrt. Wenn Israel unterwegs war, befand sich die heilige Lade stets am Anfang des Zugs. Die Wolkensäule, die das Volk führte, bestimmte, wann und wo gelagert werden sollte. Solange die Wolke über der Stiftshütte ruhte, blieben die Israeliten am Ort. Setzte sich die Wolke in Bewegung, brach man wieder auf und folgte ihr. Sowohl die Ankunft an einem Rastplatz wie auch der Aufbruch waren von einem religiösen Ritual begleitet. “Immer wenn die Leviten mit der Bundeslade aufbrachen, rief Mose: ‘Steh auf, Herr! Schlage deine Feinde in die Flucht! Verjage alle, die dich hassen!’ Und wenn sie mit der Bundeslade haltmachten, rief er: ‘Komm zurück, Herr, zu den vielen tausend Menschen deines Volkes Israel!’”1 ERZ 37.1
Einen Teil der erzieherischen Arbeit leisteten Lieder und Gesänge, die vom Volk während der Wanderung oder auch in Zeiten der Rast gesungen wurden, und sich so ins Gedächtnis der Einzelnen einprägten. Als Gott die flüchtende Menge vor der sie verfolgenden Armee des Pharao schützte, stimmte ganz Israel in das Lied der Befreiung ein. Das freudige Lob Gottes schallte weit hinaus in die Wüste und wurde von den Bergen als Echo zurückgeworfen, als das Volk den von Mirjam vorgesungenen Kehrreim nachsang: “Singt dem Herrn, denn er ist mächtig und erhaben! Pferde und Reiter warf er ins Meer!”2 Dieses Lied gehörte auf der Wanderschaft zum ständigen Repertoire des Volkes. Es ließ die Herzen immer wieder neu höher schlagen und stärkte den Glauben. Die Gedanken der Gebote, Gottes Zusagen und die Erinnerungen an seine wunderbaren Taten wurden in Liedtexte umgesetzt, die dann zu den Klängen der verschiedensten Instrumente gesungen wurden. ERZ 37.2
Der Gesang lenkte von den Mühsalen der Wüstenwanderung ab, vertrieb Angst und Sorge, besänftigte die Gemüter, prägte die Grundsätze der Wahrheit ein und stärkte den Glauben. Das Gemeinschaftserleben lehrte die Menschen Ordnung und Einigkeit, und sie fanden darüber hinaus zu einer engeren Beziehung zu Gott und zueinander. ERZ 37.3
Über die Art, wie Gott mit Israel während der vierzigjährigen Wanderung umging, berichtet Mose: “Erinnert euch an den langen Weg, den der Herr, euer Gott, euch bis hierher geführt hat, an die vierzig Jahre in der Wüste. Er ließ euch in Schwierigkeiten geraten, um euch auf die Probe zu stellen. So wollte er sehen, wie ihr euch entscheiden würdet: ob ihr nach seinen Geboten leben würdet oder nicht [...] Daran könnt ihr erkennen, daß der Herr, euer Gott, es gut mit euch meint. Er erzieht euch wie ein Vater seine Kinder.”1 An anderer Stelle heißt es: Gott fand die Nachkommen Jakobs “in der öden Wüste, wo nachts die wilden Tiere heulten. Er schloß sie fest in seine Arme, bewahrte sie wie seinen Augapfel. Er ging mit ihnen um wie ein Adler, der seine Jungen fliegen lehrt: Der wirft sie aus dem Nest, begleitet den Flug, und wenn sie fallen, ist er da, er breitet seine Schwingen unter ihnen aus und fängt sie auf. So hat der Herr sein Volk geführt, der Herr allein, kein anderer Gott.”2 Und in den Psalmen heißt es: “Ja, Gott hat Wort gehalten! Er löste sein heiliges Versprechen ein, das er Abraham, seinem Diener, gegeben hatte. So führte er sein auserwähltes Volk heraus, und sie gingen und jubelten vor Freude. Dann gab er ihnen das Land anderer Völker; was diese erarbeitetet hatten, wurde nun ihr Besitz. Diese Wunder ließ er sein Volk erleben, damit sie seinen Weisungen gehorchten und seine Gebote hielten.”3 ERZ 38.1
Gott stattete Israel mit allen erdenklichen Vorzügen aus und ließ es an nichts fehlen. Das sollte den anderen Völkern zeigen, was es heißt, dem wahren Gott zu dienen. Auf diese Weise sollte Israel Gott Ehre machen und den Nachbarvölkern zum Segen werden. Würden die Hebräer gehorsam den von Gott gewiesenen Weg gehen, wollte Gott sie zu einem Volk machen, “das ausschließlich dem Herrn, seinem Gott, gehört, ein Volk mit dem der Herr Ehre einlegen und das er hoch über alle Völker erheben will, die er geschaffen hat.” Alle Völker der Erde würden dann erkennen, “daß der Herr euch zu seinem Eigentum erklärt hat.” Und sie werden sagen: “Wie klug und einsichtig ist doch dieses große Volk!”1 ERZ 38.2
Gottes Gesetze und Ordnungen für Israel enthielten klare Anweisungen in Sachen Erziehung. Der Herr hatte sich als “Gott voller Liebe und Erbarmen” offenbart, der Geduld hat und dessen Treue grenzenlos ist. Das war der Grundton des Gesetzes, das israelitische Eltern ihre Kinder lehren sollten. Deshalb gebot Mose: “Vergeßt nie seine Gebote, die ich euch heute verkünde. Schärft sie euren Kindern ein und sagt sie euch immer wieder vor — zu Hause und auf Reisen, wenn ihr euch schlafen legt und wenn ihr erwacht.”2 ERZ 39.1
Allerdings sollten Gottes Wille und seine Ordnungen nicht als trockene Theorie weitergegeben werden. Schon damals war es so, daß man seinen Kindern keine Wahrheit vermitteln kann, an die man selber nicht glaubt oder an die man sich nicht hält. Doch wenn sich im Leben der Eltern und Erzieher etwas von Gottes Rechtschaffenheit, seinem Edelmut, seiner Selbstlosigkeit und Treue widerspiegelt, wird sich das positiv auf die junge Generation auswirken. ERZ 39.2
Wahre Erziehung besteht nicht darin, erhobenen Zeigefingers aufzutreten oder anderen gewaltsam etwas aufzudrängen, was sie nicht verstehen und wozu sie auch gar nicht bereit sind. Wer andere für eine Sache gewinnen will, muß ihr Interesse und Verständnis wecken. Genau darauf zielte Gottes Erziehungsmethode ab. Gott hat dem Menschen nicht nur Verstand gegeben, sondern wünscht auch, daß er sich seiner in dem von Gott vorgesehenen Rahmen bedient. ERZ 39.3
In der Familie und in der Stiftshütte, durch die Vorgänge in der Natur, durch die Kunst, bei der Arbeit und bei Festen, durch heilige Gebäude, Denkmäler und Gedenktage, durch religiöse Handlungen und unzählige Glaubenssymbole ließ Gott seinen Willen für die Israeliten anschaulich werden. Zugleich sollte das alles dazu beitragen, daß die großen Taten Gottes nicht in Vergessenheit gerieten. Der Herr wollte, daß sich den Kindern Israel die Wahrheit tief in Herz und Sinn einprägte. Sie sollten begreifen lernen, daß das Leben erst dann wirklich sinnvoll wird, wenn es Gott zum Ziel und Inhalt hat. Er hat den Menschen nicht nur mit einer Vielzahl von Bedürfnissen und Fähigkeiten geschaffen, sondern sorgt auch dafür, daß sie befriedigt werden und sich entfalten können. ERZ 39.4
Er hat das Schöne geschaffen, weil er selbst Schönheit liebt. Und da er möchte, daß sich seine Kinder ebenfalls daran erfreuen, hat er sie auch mit dem Sinn für Schönheit ausgestattet. Auch für die Befriedigung der sozialen und gesellschaftlichen Bedürfnisse, die viel zum inneren Wohlbefinden beitragen, hat der Schöpfer bestens gesorgt. ERZ 40.1
Deshalb hatten Feste im Erziehungskonzept der Israeliten einen festen Platz. Damals war die Familie allgemeine und religiöse Erziehungsstätte zugleich, da der gesamte Alltag vom Glauben her geprägt war. Aber dreimal im Jahr gab es gesellschaftliche und gottesdienstliche Veranstaltungen, die den familiären oder verwandtschaftlichen Rahmen sprengten. Zunächst fanden diese Zusammenkünfte in Silo statt, wo in der Anfangszeit der Landnahme durch Israel die Stiftshütte stand. Später wurden die großen Feste in Jerusalem gefeiert. Eigentlich waren nur die Väter und Söhne verpflichtet, an diesen Veranstaltungen teilzunehmen, aber in der Regel nutzte die ganze Familie die Gelegenheit, mit Verwandten, Freunden und Bediensteten des Tempels zu feiern. Oft wurden auch Fremde und Arme zu Tisch geladen. ERZ 40.2
Die Beschwernisse der Reise wurden gern in Kauf genommen, handelte es sich doch um gesellschaftliche Begegnungen, die niemand versäumen wollte. Eins der Feste fand im Frühjahr statt, die beiden anderen im Sommer und im Herbst. Jung und Alt kam mit Geschenken, um Gott für seine Güte zu danken und ihn in seinem Heiligtum zu ehren. Unterwegs wurde viel erzählt. Auf diese Weise wurde die Geschichte Israels und zugleich das jüdische Glaubensgut an die junge Generation weitergegeben. Man sang alte und neue Lieder, sprach über den Glauben und rühmte die großen Taten Gottes. Das Unterwegssein in der Natur, die gesellige Atmosphäre und das Erlebnis gemeinsamer Anbetung sorgten dafür, daß diese Eindrücke fest im Gedächtnis der Kinder und Jugendlichen haften blieben. Besonders beeindruckend müssen die feierlichen Handlungen aus Anlaß des Passafestes gewesen sein. In der Nacht versammelten sich die Männer zum gemeinsamen Passamahl. Sie waren gekleidet, als würden sie unmittelbar danach eine lange Reise antreten. Das Passalamm wurde mit ungesäuertem Brot und bitteren Kräutern in aller Eile verzehrt, während allen Teilnehmern die Geschichte vom Besprengen der Türbalken, dem Todesengel und dem Auszug aus Ägypten ins Gedächtnis gerufen wurde. Der Ernst dieser Handlungen beeindruckte vor allem junge Leute, die zum ersten Mal an den Passafeierlichkeiten teilnahmen. ERZ 40.3
Auch das Erntefest im Herbst, bei dem die Teilnehmer eine Woche lang in leichten Hütten aus Zweigen und Laub wohnten, war seines geselligen Charakters wegen beliebt. Als Dank für Gottes Segen wurden Gaben aus Garten und Feld in den Tempel gebracht, und auch zu diesem Anlaß wurde wieder großzügig Gastfreundschaft geübt. Insgesamt verbrachten gläubige Israeliten etwa einen Monat unbelastet von Arbeit und Sorgen in solch festlicher Stimmung. In dieser Zeit konnten sie sich in besonderer Weise der Erziehung der jungen Generation widmen. ERZ 41.1
Als Gott das verheißene Land unter die Stämme Israels verteilte, geschah das in einer Weise und nach Prinzipien, die auch noch die späteren Generationen in bezug auf den Landbesitz leiten sollten. Grundbesitz sicherte die Existenz der Israeliten. Deshalb bekamen die einzelnen Stämme jeweils ein bestimmtes Gebiet zugewiesen. Lediglich der Stamm Levi mußte auf Landbesitz verzichten, da seine Angehörigen voll für den Dienst am Heiligtum zur Verfügung stehen sollten. Das zugeteilte Land sollte auch dauerhaft im Besitz der Stammesangehörigen bleiben. Um das zu gewährleisten, hatte Gott höchst zweckmäßige Anordnungen erlassen. Land konnte zwar verpfändet oder für eine gewisse Zeit verkauft werden, aber dadurch sollte den nachfolgenden Generationen nicht die Lebensgrundlage entzogen werden. Wurde Land verkauft, war der Käufer verpflichtet, es dem Verkäufer zurückzugeben, wenn der es zurückkaufen wollte. Verpfändetes Land fiel nach sieben Jahren wieder an den Besitzer zurück, da in Israel nach jeweils sieben Jahren alle Schulden erlassen werden mußten. In jedem fünfzigsten Jahr, dem sogenannten Jubeljahr, mußte Landbesitz grundsätzlich an den ehemaligen Besitzer zurückgegeben werden. Auf diese Weise sollte die Lebensgrundlage für alle Israeliten gesichert werden. Im übrigen waren diese Regelungen ein wirksamer Schutz vor Ausbeutung. Sie verhinderten, daß sich eine Minderheit auf Kosten der Mehrheit bereicherte, wie das bei anderen Völkern gang und gäbe war. So jedenfalls war es gedacht. ERZ 41.2
Wie die ersten Menschen im Garten Eden für ihren Lebensbereich verantwortlich waren, so sollte es auch beim Volk Israel sein. Wer Land besaß, sollte es bearbeiten oder für die Tiere sorgen, die er auf seinem Besitz aufzog. Aber auch hier baute Gott per Gesetz bestimmte Sicherheiten ein, die den Eigentümer daran hindern sollten, sein Land rücksichtslos, egoistisch und zum Schaden künftiger Generationen auszubeuten. Jeweils im siebenten Jahr durfte der Acker nicht bestellt werden. Er sollte brach liegen und sich erholen dürfen. Was trotzdem auf ihm wuchs, war nicht Eigentum des Besitzers, sondern gehörte den Armen und Bedürftigen. Diese Anordnung schuf vor allem für die Bauern Freiraum, sich weiterzubilden, sich gesellschaftlich zu betätigen, ihre Beziehung zu Gott fester zu knüpfen und Gutes zu tun. Alles Dinge, die ansonsten wegen der alltäglichen Belastungen zu kurz kamen. ERZ 42.1
Es wäre um die Menschheit besser bestellt, wenn die biblischen Regeln zur Besitzverteilung immer beachtet worden wären und auch heute noch berücksichtigt würden. Vielen Übeln, die sich aus der Ausbeutung anderer, dem Anhäufen von Reichtum und dem Haß der Ausgebeuteten auf die Besitzenden ergeben, wäre von vornherein ein Riegel vorgeschoben. Würde man sich an Gottes Ordnungen halten, könnten Probleme, die heutzutage mit Gewalt und Blutvergießen verbunden sind, auf friedliche Weise gelöst werden. ERZ 42.2
In Israel war es üblich, daß ein Zehntel der Erträge — ob sie nun aus dem Ackerbau, der Viehzucht oder aus Handel und Gewerbe stammten — Gott geweiht waren. Ein weiteres Zehntel sollte zur Unterstützung der Bedürftigen und für wohltätige Zwecke verwendet werden. Diese Zehntenordnung sollte im Volk die Erkenntnis wach halten, daß der Mensch letztlich nicht Eigentümer, sondern nur Verwalter der vielfältigen Gaben Gottes ist. Zugleich sollte sie daran erinnern, daß Gottes Segen nicht nur dankbar angenommen, sondern auch freigebig weitergegeben werden soll. Letztlich sollte diese göttliche Ordnung die Menschen zu verantwortungsbewußtem und großzügigem Handeln erziehen und damit einen entscheidenden Beitrag zur Charakterentwicklung leisten. ERZ 42.3
Das israelitische Erziehungskonzept war ausgerichtet auf Gotteserkenntnis, auf das Studieren und Arbeiten aus der Beziehung zu Gott heraus sowie auf eine Charakterbildung, die sich an den biblischen Prinzipien orientierte. Und was die Elterngeneration in dieser Beziehung gelernt und an Erfahrungen gesammelt hatte, sollte sie weitergeben an ihre Kinder. ERZ 43.1