Frühe Schriften von Ellen G. White

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Kapitel 7: Der Verrat Christi

Ich wurde in die Zeit versetzt, als Jesus mit seinen Jüngern das Passahmahl genoß. Der Satan hatte Judas getäuscht und ihn glauben gemacht, daß er ein wahrer Jünger Christi sei; aber sein Herz war immer fleischlich gesinnt gewesen. Er hatte die mächtigen Werke Jesu gesehen, er war während der Zeit seines Dienstes mit ihm gewesen und hatte den überwältigenden Bezeugungen, daß Jesus der Messias sei, nachgegeben. Doch Judas war habsüchtig und geizig, er liebte das Geld. Im Zorn beklagte er die Verschwendung der kostbaren Salbe, die auf die Füße Jesu gegossen wurde. Maria aber liebte ihren Herrn. Jesus hatte ihr ihre Sünden vergeben, und es waren viele. Er hatte ihren vielgeliebten Bruder von den Toten auferweckt, und sie dachte, daß nichts zu kostbar für ihn wäre. Je kostbarer die Salbe, desto besser konnte sie ihm ihre Dankbarkeit beweisen, wenn sie sie ihm darbrachte. Judas in seinem Geiz hingegen meinte, die Salbe hätte verkauft und der Betrag den Armen gegeben werden können. Aber das sagte er nicht, weil er sich um die Armen sorgte; denn er war habsüchtig und hatte oft auf unehrliche Weise Mittel, die zum Wohle der Armen bestimmt waren, sich selbst angeeignet. Judas hatte sich unaufmerksam gegen die Bedürfnisse Jesu gezeigt, und um seinen Geiz zu entschuldigen, berief er sich oft auf die Armen. Diese großzügige Handlung Marias stand in schroffem Gegensatz zu seiner eigenen Selbstsucht. Der Weg war gebahnt, die Versuchung Satans fand im Herzen des Judas bereitwillige Aufnahme. FS 150.2

Die Priester und Obersten der Juden haßten Jesus; das Volk aber versammelte sich in großer Menge, um seinen weisen Worten zu lauschen und seine mächtigen Werke zu sehen. Das Volk wurde von tiefem Interesse bewegt. Voller Eifer folgten sie Jesus, um die Unterweisungen des wunderbaren Lehrers zu hören. Viele der Obersten glaubten an ihn, wagten aber nicht, ihren Glauben zu bekennen, da sie sonst aus der Synagoge verstoßen worden wären. Die Priester und Obersten beschlossen, daß etwas geschehen müsse, um die Aufmerksamkeit des Volkes von Jesus abzuwenden. Sie fürchteten, daß alle Menschen an ihn glauben würden; sie fühlten sich darum nicht mehr sicher. Sie würden entweder ihre Stellung verlieren oder mußten Jesus töten. Aber nachdem sie seinem Leben ein Ende gemacht hätten, wären noch immer Menschen da, die lebendige Denkmäler seiner Macht waren. Jesus hatte Lazarus von den Toten auferweckt. Sie fürchteten, daß, wenn sie Jesus töteten, Lazarus von seiner großen Macht zeugen würde. Das Volk scharte sich zusammen, um den zu sehen, der vom Tode auferweckt worden war. So waren die Obersten entschlossen, auch Lazarus zu töten und dieser Aufregung ein Ende zu machen. Dann würden sie das Volk zu den Aufsätzen und Lehren der Menschen bekehren, daß es Kümmel, Dill und Minze verzehnte, und würden aufs neue Einfluß auf die Menschen haben. Sie kamen überein, Jesus gefangenzunehmen, wenn er allein wäre; denn würden sie es gewagt haben, ihn in der Menge zu ergreifen, während das Volk ihm mit Interesse zuhörte, hätte man sie gesteinigt. FS 151.1

Judas wußte, wie sehr die Obersten darauf aus waren, Jesus zu greifen. So bot er sich an, seinen Herrn für einige Silberstücke an die Hohenpriester und Ältesten zu verraten. Die Liebe zum Geld brachte ihn so weit, daß er einwilligte, seinen Herrn in die Hände seiner bittersten Feinde auszuliefern. Satan wirkte durch Judas, und während der ergreifenden Szene des letzten Abendmahles machte der Verräter Pläne, seinen Herrn zu verraten. Voller Sorge sagte Jesus zu seinen Jüngern, daß sie sich alle in jener Nacht an ihm ärgern würden. Doch Petrus behauptete mit großem Eifer, daß, wenn sie sich auch alle an ihm ärgerten, er sich nicht ärgern würde. Jesus sagte zu Petrus: “Siehe, der Satan hat begehrt, euch zu sichten wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dereinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder.” Lukas 22,31.32. FS 152.1

Ich sah Jesus mit seinen Jüngern im Garten. In tiefer Sorge bat er sie, zu wachen und zu beten, damit sie nicht in Anfechtung fielen. Er wußte, daß ihr Glaube auf die Probe gestellt werden sollte, daß sie ihre Hoffnungen dahinschwinden sehen würden und daß sie alle Kraft, die sie durch anhaltendes Wachen und Beten erlangen könnten, brauchten. Mit lautem Aufschrei und Weinen betete er: “Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!” Lukas 22,42. Der Sohn Gottes betete in Todesangst. Große Blutstropfen traten auf seine Stirn und fielen zur Erde. Engel schwebten über dieser Stätte und waren Zeugen dieser Szene, aber nur einer bekam den Auftrag, hinzugehen und den Sohn Gottes in seiner Todesangst zu stärken. Im Himmel herrschte keine Freude. Die Engel warfen ihre Kronen und Harfen von sich und blickten in tiefstem Interesse schweigend auf Jesus. Sie wollten den Sohn Gottes umgeben, aber die befehlenden Engel gestatteten dies nicht, damit sie ihn nicht befreiten, wenn sie den Verrat sähen; denn der Plan war gelegt worden und mußte ausgeführt werden. FS 152.2

Nachdem Jesus gebetet hatte, kehrte er wieder zu seinen Jüngern zurück; doch sie schliefen. In jener schrecklichen Stunde hatte er nicht einmal das Mitleid und die Gebete seiner Jünger. Petrus, der sich erst vor kurzem seiner Hingabe gerühmt hatte, lag im tiefsten Schlaf. Jesus erinnerte ihn an seine bestimmten Behauptungen und sagte zu ihm: “Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?” Matthäus 26,40. Dreimal betete der Sohn Gottes in dieser Todesangst. Da erschien Judas mit seiner Schar bewaffneter Männer. Er näherte sich wie gewöhnlich seinem Herrn, um ihn zu begrüßen. Die Schar umgab Jesus; er aber offenbarte seine göttliche Kraft, als er sagte: “Wen sucht ihr? Ich bin’s!” Johannes 18,4.6. Sie fielen rückwärts zu Boden. Jesus hatte diese Frage gestellt, damit sie seine Kraft wahrnehmen möchten und um ihnen einen Beweis zu geben, daß er sich aus ihren Händen befreien könnte, wenn er es wollte. FS 153.1

In den Herzen der Jünger stiegen neue Hoffnungen auf, als sie die Schar mit ihren Stöcken und Schwertern so schnell hinfallen sahen. Als sie sich erhoben und den Sohn Gottes wiederum umgaben, zog Petrus sein Schwert und hieb dem Knecht des Hohenpriesters ein Ohr ab. Aber Jesus befahl Petrus, sein Schwert in die Scheide zu stecken, und sagte: “Meinst du, ich könnte meinen Vater nicht bitten, daß er mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schickte?” Als er diese Worte sagte, sah ich, daß sich die Angesichter der Engel mit neuer Hoffnung belebten. Sie wünschten, ihren Befehlshaber sofort umgeben zu dürfen und jenen bösen Pöbel zu zerstreuen. Aber Traurigkeit überkam sie wieder, als Jesus die Worte hinzufügte: “Wie würde dann aber die Schrift erfüllet, daß es so geschehen muß?” Auch die Herzen der Jünger wurden mit Verzweiflung und bitterer Enttäuschung erfüllt, als Jesus gestattete, daß seine Feinde ihn wegführten. Matthäus 26,53.54. FS 153.2

Die Jünger fürchteten für ihr eigenes Leben; sie verließen ihn alle und flohen. Jesus war mit der mörderischen Rotte allein gelassen. O, welch ein Triumph für Satan! Aber welche Traurigkeit und welches Herzeleid für die Engel Gottes! Viele Heerscharen heiliger Engel mit je einem großen Engel als Befehlshaber an ihrer Spitze waren hingesandt worden, Zeugen dieser Szene zu sein. Sie sollten jede Beleidigung und jede Grausamkeit, die dem Sohn Gottes widerfuhr, aufzeichnen und jede Seelenqual, die Jesus erleiden mußte, registrieren; denn dieselben Männer, die sich dieser schrecklichen Szene damals anschlossen, sollen das alles in lebenden Bildern wiedersehen. FS 154.1