Frühe Schriften von Ellen G. White
Geistliche Gaben Band I
Einleitung
Die Gabe der Weissagung offenbarte sich während des jüdischen Zeitalters in der Gemeinde. Wenn sie infolge des zerrütteten Zustandes der Gemeinde auch einige Jahrhunderte verschwunden gewesen war, so erschien sie doch gegen Ende jenes Zeitalters wieder als Vorbote des Messias. Zacharias, der Vater Johannes des Täufers, “wurde voll des Heiligen Geistes und weissagte.” Simeon, ein frommer und gottesfürchtiger Mensch, der auf den “Trost Israels” wartete, kam auf Anregung des Geistes in den Tempel und weissagte von Jesus als von einem “Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preise deines Volkes Israel.” Hanna, eine Prophetin, “redete von ihm zu allen, die auf die Erlösung zu Jerusalem warteten.” Und es war kein größerer Prophet als Johannes der Täufer, der von Gott erwählt worden war, Israel “das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trägt,” bekanntzumachen. FS 119.1
Das christliche Zeitalter begann mit der Ausgießung des Geistes, und viele verschiedene geistliche Gaben wurden unter den Gläubigen offenbart. Diese waren so reichlich, daß Paulus zu der korinthischen Gemeinde sagen konnte: “In einem jeglichen erzeigen sich die Gaben des Geistes zum gemeinsamen Nutzen.” Einem jeglichen in der Gemeinde, nicht einem jeglichen in der Welt, wie manche es verstanden haben. Seit dem großen Abfall sind diese Gaben nur spärlich offenbart worden, und dies ist wahrscheinlich der Grund, warum bekenntliche Christen gewöhnlich glauben, daß sie auf das Zeitalter der ersten Gemeinde beschränkt gewesen seien. Aber ist es nicht eine Folge der Irrtümer und des Unglaubens der Gemeinde, daß diese Gaben aufgehört haben? Und wird nicht, wenn das Volk Gottes zu dem ursprünglichen Glauben und denselben Gewohnheiten zurückkehrt, wohin es sicherlich durch die Verkündigung der Gebote Gottes und des Glaubens Jesu kommen wird, “der Spätregen” wieder diese Gaben hervorbringen? Wir sollten es erwarten. Trotz des Abfalls im jüdischen Zeitalter wurde es mit besonderen Offenbarungen des Geistes Gottes eröffnet und beschlossen. Es ist unvernünftig zu denken, daß das christliche Zeitalter, dessen Licht, mit der früheren Bundeszeit verglichen, wie das Licht der Sonne im Vergleich zu den schwachen Strahlen des Mondes ist, in Herrlichkeit beginnen und in Finsternis schließen werde. Und wenn ein besonderes Werk des Geistes nötig war, um ein Volk auf das erste Kommen des Herrn vorzubereiten, wieviel mehr ist dies beim zweiten Kommen der Fall. Und dies besonders, weil die letzten Tage gefährlicher sind als alle früheren. Falsche Propheten werden Macht haben, große Zeichen und Wunder zu tun, und sie werden dann, wenn es möglich wäre, auch die Auserwählten verführen. Aber die Schrift sagt: “Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur. Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden. Die Zeichen aber, die denen folgen werden, die da glauben, sind diese: In meinem Namen werden sie böse Geister austreiben, in neuen Zungen reden, Schlangen mit den Händen hochheben, und wenn sie etwas Tödliches trinken, wird,s ihnen nicht schaden; auf Kranke werden sie die Hände legen, so wird’s besser mit ihnen werden.” Markus 16,15-18. Die Gaben waren nicht auf die Apostel beschränkt, sondern auf alle Gläubigen ausgedehnt. Wer kann sie haben? Der da glaubt. Wie lange? Es gibt keine Grenze; die Verheißung läuft zusammen mit dem wichtigen Auftrag, das Evangelium zu predigen, und reicht bis zum letzten Gläubigen. FS 119.2
Aber es wird oft eingewendet, daß diese Hilfe nur den Aposteln und denjenigen, die durch ihre Predigt gläubig wurden, verheißen war, damit sie ihren Auftrag ausführten und das Evangelium aufrichteten, und daß die Gaben mit jener Generation aufhörten. Laßt uns sehen, ob der große Auftrag mit jener Generation sein Ende fand. “Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.” Matthäus 28,19.20. Daß die Predigt des Evangeliums auf diesen Auftrag hin nicht mit der ersten Gemeinde ihr Ende erreicht hat, ist klar durch folgende Verheißung bewiesen: “Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.” Es sagt nicht, ich bin mit euch, ihr Apostel, überall, bis an der Welt Ende; sondern, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. Hiermit ist nicht das jüdische Zeitalter gemeint, denn dieses hatte bereits am Kreuz sein Ende erreicht. Ich schließe deshalb daraus, daß die Predigt und der Glaube des ursprünglichen Evangeliums immer durch dieselbe geistliche Hilfe unterstützt werden wird. Der Auftrag an die Apostel gehört dem christlichen Zeitalter an und gilt bis zum Ende. Es folgt daraus, daß die Gaben nur durch den Abfall verlorengingen und daß sie mit der Rückkehr des ursprünglichen Glaubens und der Gewohnheiten zurückkehren werden. FS 121.1
Aus 1.Korinther 12,28 ersehen wir, daß der Herr der Gemeinde verschiedene geistliche Gaben geschenkt hat. Da wir keine Schriftstelle finden können, die uns beweist, daß er sie weggenommen oder aufgehoben habe, müssen wir zu dem Schluß kommen, daß die Gaben in der Gemeinde verbleiben sollten. Wo finden wir den Schriftbeweis, daß sie abgeschafft sind? Im selben Kapitel, in dem auch der “jüdische” Sabbat abgeschafft und der “christliche” Sabbat [Sonntag] eingesetzt wird, und zwar nicht in einem Kapitel in der Apostelgeschichte, sondern in der Geschichte des Geheimnisses der Bosheit und des Menschen der Sünde. Aber der Gegner führt an, daß folgende Bibelstelle einen Beweis für das Aufhören der Gaben enthalte: “Die Liebe hört niemals auf, wo doch die Weissagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe”. 1.Korinther 13,8-13. FS 121.2
Dieser Text sagt tatsächlich das Aufhören geistlicher Gaben voraus, auch des Glaubens und der Hoffnung. Aber wann werden sie aufhören? Wir blicken noch vorwärts auf die Zeit, da “die Hoffnung zum frohen Genuß, der Glaube zum Schauen, das Gebet zum Lob geworden ist”. Sie sollen aufhören, wenn das Vollkommene gekommen ist, wenn wir nicht länger durch einen dunklen Spiegel, sondern von Angesicht zu Angesicht sehen werden. Dieser vollkommene Tag, an dem die Gerechten vollkommen gemacht und erkennen werden, wie sie erkannt sind, liegt noch in der Zukunft. Es ist wahr, daß der Mensch der Sünde, als er das Mannesalter erreicht hatte, solche “kindlichen Dinge”, wie Weissagung, Sprachen und Erkenntnis, auch den Glauben, die Hoffnung und die christliche Liebe der ursprünglichen Christen abgetan hat. Doch nichts im Text weist darauf hin, daß Gott beabsichtigte, die Gaben, die er der Gemeinde geschenkt hatte, vor der Vollendung ihres Glaubens und ihrer Hoffnung wegzunehmen, also ehe die alles überragende Herrlichkeit des unsterblichen Zustandes die glänzendsten Entfaltungen geistlicher Kraft und Erkenntnis, die jemals in diesem sterblichen Zustand offenbart wurden, in den Schatten stellen wird. FS 122.1
Der Einwand, den manche unter Berufung auf (2.Timotheus 3,16) ganz ernsthaft vorgebracht haben, verdient nicht mehr als eine beiläufige Bemerkung. Wenn Paulus, indem er sagte, daß die Schrift dazu dienen solle, einen Menschen Gottes vollkommen und zu allem guten Werk geschickt zu machen, meinte, daß nichts mehr durch Inspiration geschrieben werden sollte, warum fügte er dann in diesem Augenblick etwas zu den Schriften hinzu? Oder warum legte er nicht wenigstens zu diesem Zeitpunkt die Feder nieder, als er diesen Satz geschrieben hatte? Und warum schrieb Johannes dreißig Jahre später das Buch der Offenbarung? Dieses Buch enthält einen anderen Text, der zum Beweis der Abschaffung der geistlichen Gaben angeführt wird: “Ich bezeuge allen, die da hören die Worte der Weissagung in diesem Buch: Wenn jemand etwas hinzufügt, so wird Gott ihm die Plagen zufügen, die in diesem Buch geschrieben stehen. Und wenn jemand etwas wegnimmt von den Worten des Buchs dieser Weissagung, so wird Gott ihm seinen Anteil wegnehmen vom Baum des Lebens und an der heiligen Stadt, von denen in diesem Buch geschrieben steht”. Offenbarung 22,18.19. FS 123.1
Von diesem Text sagt man, daß Gott, der vor Zeiten manchmal und auf mancherlei Weise zu den Vätern geredet hat durch die Propheten und in den frühen Tagen des Evangeliums durch Jesus und seine Apostel, hiermit feierlich versprochen habe, niemals wieder den Menschen auf solche Weise etwas mitzuteilen. Daher müßten alle Weissagungen nach dieser Zeit falsch sein. Hiermit, sagt man, würde der inspirierte Kanon geschlossen. Wenn dies der Fall ist, warum schrieb Johannes sein Evangelium, als er von Patmos nach Ephesus zurückgekehrt war? Fügte er, indem er dies tat, den Worten des Buches der Weissagung, das er auf der Insel Patmos geschrieben hatte, noch etwas hinzu? Der Text beweist nur, daß sich die Warnung vor dem Hinzufügen oder Wegnehmen nicht auf die Bibel als zusammengestelltes Buch bezieht, sondern nur auf das besondere Buch der Offenbarung, wie es aus der Hand des Apostels hervorging. Natürlich hat kein Mensch das Recht, auch irgendeinem anderen Buch, das durch die Eingebung Gottes geschrieben wurde, etwas hinzuzufügen oder davon wegzunehmen. Fügte Johannes, indem er das Buch der Offenbarung schrieb, etwas dem Buch der Weissagungen Daniels hinzu? Durchaus nicht! Ein Prophet hat kein Recht, das Wort Gottes zu verändern. Aber die Visionen des Johannes bestätigen die Daniels und werfen viel zusätzliches Licht auf die Dinge, die dort angesprochen werden. Ich komme deshalb zu dem Schluß, daß der Herr sich nicht selbst zum Stillschweigen verpflichtet hat, sondern daß er immer noch die Freiheit hat zu reden. Möge die Sprache meines Herzens immer sein: Rede Herr, durch wen du willst, dein Knecht hört! FS 123.2
So schlägt der Versuch, aus der Schrift das Aufhören der geistlichen Gaben zu beweisen, gänzlich fehl. Solange die Pforten der Hölle die Gemeinde noch nicht überwältigt haben, sondern Gott noch ein Volk auf Erden hat, können wir in Verbindung mit der dritten Engelsbotschaft nach der Entwicklung dieser Gaben ausschauen. Diese Botschaft wird die Gemeinde auf den apostolischen Boden zurückbringen und sie in der Tat zum Licht — nicht zur Finsternis — der Welt machen. FS 124.1
Ferner werden wir vorgewarnt, daß es in den letzten Tagen falsche Propheten geben wird. Die Bibel gibt uns einen Prüf-stein, mit dem wir ihre Lehren prüfen können, um so zwischen Wahrem und Falschem unterscheiden zu können. Der große Prüfstein ist das Gesetz Gottes, das sowohl auf die Weissagungen als auch auf den sittlichen Charakter der Propheten angewandt werden soll. Wenn es nun in den letzten Tagen keine wahren Weissagungen geben sollte, wieviel leichter wäre es dann gewesen, diese Tatsache zu erwähnen und so alle Gelegenheit zur Täuschung zu beseitigen, als einen Prüfstein zu geben, mit dem man sowohl die echten als auch die falschen Propheten prüfen soll. FS 124.2
In Jesaja 8,19.20 finden wir eine Weissagung von den Wahrsagern der gegenwärtigen Zeit, und das Gesetz wird als Prüfstein gegeben: “Nach dem Gesetz und Zeugnis! Werden sie das nicht sagen, so werden sie die Morgenröte nicht haben.” Warum heißt es: “Werden sie das nicht sagen”, wenn zur selben Zeit keine echte, geistliche Offenbarung oder Weissagung da ist? Jesus sagt: “Seht euch vor vor den falschen Propheten ... An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.” Matthäus 7,15.16. Dies ist ein Teil der Bergpredigt, und alle können verstehen, daß die Bergpredigt eine allgemeine Anwendung auf die Gemeinde während des christlichen Zeitalters hat. Falsche Propheten sollen an ihren Früchten erkannt werden, in anderen Worten, an ihrem sittlichen Charakter. Der einzige Prüfstein, an dem man erkennen kann, ob ihre Früchte gut oder schlecht sind, ist das Gesetz Gottes. Darum werden wir auf das Gesetz und Zeugnis hingewiesen. Wahre Propheten werden nicht nur in Übereinstimmung mit diesem Wort reden, sondern sie werden auch im Einklang mit ihm leben. Jemanden, der so spricht und lebt, wage ich nicht zu verdammen. FS 124.3
Es ist immer eine besondere Eigenschaft der falschen Propheten gewesen, daß sie Visionen des Friedens schauen und daß sie gern sagen: “Friede und Sicherheit!”, während das Verderben plötzlich über sie kommt. Die wahren Propheten werden kühn die Sünde tadeln und vor dem kommenden Zorn warnen. FS 125.1
Weissagungen, die den deutlichen und bestimmten Erklärungen des Wortes widersprechen, sollten verworfen werden. So lehrte unser Heiland seine Jünger, als er sie in bezug auf die Art und Weise seines zweiten Kommens warnte. Als Jesus vor den Augen seiner Jünger gen Himmel fuhr, wurde von den Engeln sehr ausführlich erklärt, daß dieser Jesus in derselben Weise wiederkommen werde, wie sie ihn gesehen hatten gen Himmel fahren. Deshalb sagt Jesus in seiner Weissagung von den falschen Propheten der letzten Tage: “Wenn sie zu euch sagen werden: Siehe, er ist in der Wüste, so geht nicht hinaus, — siehe, er ist in der Kammer, so glaubt ihnen nicht.” Alle wahren Weissagungen zu diesem Thema müssen das sichtbare Kommen Jesu vom Himmel anerkennen. Warum sagt Jesus nicht: “Verwerft alle Weissagungen zu jener Zeit, denn es wird dann keine wahren Propheten geben?” FS 125.2
“Er hat einige zu Aposteln eingesetzt, einige als Propheten, einige als Evangelisten, einige als Hirten und Lehrer, damit die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes. Dadurch soll der Leib Christi erbaut werden, bis daß wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Mann, zum vollen Maß der Fülle Christi.” Epheser 4,11-13. FS 126.1
Aus einem der vorhergehenden Verse lernen wir, daß Christus, nachdem er in die Höhe aufgefahren war, den Menschen Gaben gegeben hat. Unter diesen Gaben sind Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer aufgezählt. Der Zweck, für den sie gegeben waren, war die Vervollkommnung der Heiligen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis. Manche, die heute bekennen, Hirten und Lehrer zu sein, glauben, daß diese Gaben ihren Zweck vor 1800 Jahren vollkommen erfüllt und nun aufgehört hätten. Warum legen sie nun nicht ihre Titel als Hirten und Lehrer ab? Wenn das Prophetenamt durch diesen Text auf die ursprüngliche Gemeinde beschränkt war, so ist es das der Evangelisten und aller übrigen ebenfalls, denn es wird hier kein Unterschied gemacht. FS 126.2
Nun laßt uns einen Augenblick über diesen Punkt nachdenken. Alle diese Gaben waren zur Vervollkommnung der Heiligen in der Einheit, der Erkenntnis und dem Geiste gegeben. Unter ihrem Einfluß erfreute sich die erste Gemeinde eine Zeitlang dieser Einheit: “Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele.” Es scheint eine natürliche Folge dieser Einheit zu sein, daß die Apostel mit großer Kraft Zeugnis gaben von der Auferstehung des Herrn und große Gnade bei ihnen allen war. Apostelgeschichte 4,31-33. Wie wünschenswert wäre jetzt ein solcher Zustand. Aber der Abfall mit seinem entzweienden und zerstörenden Einfluß hat die Schönheit der reinen Gemeinde beschädigt und in einen Sack gehüllt. Spaltung und Unordnung waren die Folge. Es gab noch nie so viele verschiedene Glaubensansichten im Christentum wie heute. Wenn die Gaben nötig waren, um die Einheit der ersten Gemeinde zu bewahren, wie viel nötiger sind sie jetzt, um diese Einheit wiederherzustellen! Daß es die Absicht Gottes ist, diese Einheit der Gemeinde in den letzten Tagen wiederherzustellen, ist zur Genüge aus all den Weissagungen ersichtlich. Es wird uns versichert, daß die Wächter es mit eigenen Augen sehen werden, wenn der Herr Zion wiederbringen wird, und daß in der Zeit des Endes die Verständigen es verstehen werden. Wenn dies erfüllt ist, wird eine Einheit des Glaubens unter allen herrschen, die Gott zu den Verständigen zählt; denn jene, die es wirklich recht verstehen, müssen es notwendigerweise auch auf die gleiche Weise verstehen. Was anderes soll diese Einheit herbeiführen als die Gaben, die zu genau diesem Zweck gegeben wurden? FS 126.3
Aus diesen Betrachtungen geht hervor, daß der vollkommene Zustand der Gemeinde, wie er hier geweissagt wird, noch zukünftig ist. Folglich haben diese Gaben ihren Zweck noch nicht erfüllt. Der Brief an die Epheser wurde im Jahre 64 n. Chr. geschrieben, etwa zwei Jahre, bevor Paulus dem Timotheus sagte, daß er schon geopfert werde und die Zeit seines Abscheidens vorhanden sei. Der Same des Abfalls keimte zu jener Zeit in der Gemeinde, denn Paulus hatte schon zehn Jahre früher in seinem zweiten Brief an die Thessalonicher gesagt: “Es regt sich bereits das Geheimnis der Bosheit.” Es kamen nun greuliche Wölfe hinein, die die Herde nicht schonten. Die Gemeinde kam deshalb nicht weiter zu der vollkommenen Einheit, die in dem Text (Epheser 4,11-13) angeführt ist, sondern wurde durch Zwistigkeiten zerrissen und durch Spaltungen zerstreut. Der Apostel wußte dies; folglich mußte er über den großen Abfall hinweggeschaut haben auf die Zeit, da die übrigen von Gottes Volk gesammelt werden, wenn er sagt: “Bis daß wir alle hinankommen zur Einheit des Glaubens.” Deshalb haben die Gaben, die der Gemeinde geschenkt sind, ihre Zeit noch nicht ausgedient. “Den Geist dämpft nicht, die Weissagung verachtet nicht. Prüft aber alles, und das Gute behaltet.” 1.Thessalonicher 5,19-21. FS 127.1
In diesem Brief behandelt der Apostel das Thema des zwei-ten Kommens Jesu. Er beschreibt dann den Zustand der ungläubigen Welt zu der Zeit, indem er sagt: Sie werden sagen: “Es ist Friede, es hat keine Gefahr”, wenn der Tag des Herrn über sie kommen wird und das Verderben sie plötzlich wie ein Dieb in der Nacht überfällt. Dann ermahnt er die Gemeinde angesichts dieser Dinge, zu wachen und nüchtern zu sein. Unter den folgenden Ermahnungen sind auch die angeführten Worte: “Den Geist dämpft nicht” usw. Manche mögen denken, daß diese drei Verse (1.Thessalonicher 5,19-21) eine ganz verschiedene Bedeutung haben; es besteht aber eine natürliche Verbindung in ihrer Reihenfolge. Jemand, der den Geist dämpft, wird auch die Weissagungen verachten, die eine rechtmäßige Frucht des Geistes sind. “Ich will meinen Geist ausgießen, ... und eure Söhne und Töchter sollen weissagen.” Joel 3,1. Der Ausdruck: “Prüft aber alles” ist auf das hier besprochene Thema, die Weissagung, beschränkt, und wir sollen die Geister mit dem Prüfstein prüfen, den Gott uns in seinem Wort gegeben hat. Unsere Zeit ist überreich an geistlichen Täuschungen und falschen Weissagungen, und zweifellos kann dieser Text auf diese Dinge besonders angewendet werden. Aber beachtet, der Apostel sagt nicht: Verwerfet alles, sondern: Prüfet alles, und das Gute behaltet. “Und nach diesem will ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Alten sollen Träume haben, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen. Auch will ich zur selben Zeit über Knechte und Mägde meinen Geist ausgießen. Und ich will Wunderzeichen geben am Himmel und auf Erden: Blut, Feuer und Rauchdampf. Die Sonne soll in Finsternis und der Mond in Blut verwandelt werden, ehe denn der große und schreckliche Tag des Herrn kommt. Und es soll geschehen: wer des Herrn Namen anrufen wird, der soll errettet werden. Denn auf dem Berge Zion und zu Jerusalem wird eine Errettung sein, wie der Herr verheißen hat, und bei den andern übrigen, die der Herr berufen wird.” Joel 3. FS 128.1
Diese Weissagung Joels, die von der Ausgießung des Heiligen Geistes in den letzten Tagen spricht, wurde zu Anfang des christlichen Zeitalters nicht ganz erfüllt. Dies wird klar durch die Wunder am Himmel und auf Erden, die in diesem Text angeführt sind und Vorboten des großen und schrecklichen Tages des Herrn sein sollen. Obgleich wir diese Zeichen gehabt haben, ist der schreckliche Tag noch zukünftig. Das ganze christliche Zeitalter mag zwar die “letzten Tage” genannt werden, doch zu sagen, daß die letzten Tage schon seit 1800 Jahren in der Vergangenheit liegen, ist absurd. Sie reichen bis zum Tag des Herrn und der Errettung des Überrestes von Gottes Volk. “Denn auf dem Berge Zion und zu Jerusalem wird Errettung sein, wie der Herr verheißen hat, und bei den übrigen, die der Herr berufen wird.” FS 129.1
Diese übrigen, die mitten unter den Zeichen und Wundern, die den großen und schrecklichen Tag des Herrn einleiten sollen, leben, sind zweifellos die übrigen von den Nachkommen der Frau, von denen in (Offenbarung 12,17) gesprochen wird — die letzte Gemeinde auf Erden. “Und der Drache ergrimmte wider die Frau und ging hin, um Krieg zu führen mit den übrigen ihrer Nachkommenschaft, mit denen, die die Gebote Gottes beobachten und am Zeugnis Jesu festhalten.” (Jerusalemer Bibel) FS 129.2
Die übrigen der evangeliumsverkündenden Gemeinde werden die Gaben haben. Es wird ein Streit gegen sie entbrennen, weil sie Gottes Gebote halten und das Zeugnis Jesu Christi haben. Offenbarung 12,17. In (Offenbarung 19,10) wird das Zeugnis Jesu als der Geist der Weissagung definiert. Der Engel sagte: “Ich bin dein und deiner Brüder Mitknecht, die das Zeugnis Jesu haben.” Im 22. Kapitel wiederholt der Engel dasselbe wie folgt: “Ich bin dein Mitknecht und der Mitknecht deiner Brüder, der Propheten.” Aus dem Vergleich der beiden Texte erkennen wir die Kraft des Ausdrucks: “Das Zeugnis Jesu aber ist der Geist der Weissagung.” Das Zeugnis Jesu schließt jedoch alle Gaben dieses einen Geistes ein. Paulus sagt: “Ich danke meinem Gott allezeit euretwegen für die Gnade Gottes, die euch gegeben ist in Christus Jesus, daß ihr durch ihn in allen Stücken reich gemacht seid, in aller Lehre und in aller Erkenntnis. Denn die Predigt von Christus ist in euch kräftig geworden, sodaß ihr keinen Mangel habt an irgendeiner Gabe und wartet nur auf die Offenbarung unseres Herrn Jesus Christus” 1.Korinther 1,4-7. FS 129.3
Das Zeugnis Jesu wurde in der korinthischen Gemeinde bestärkt; und was war die Folge? Sie hatten keinen Mangel an irgendeiner Gabe. Ist dann unsere Schlußfolgerung nicht gerechtfertigt, wenn wir erwarten, daß die Übrigen, wenn sie im Zeugnis Jesu völlig bestärkt sind, keinen Mangel an irgendeiner Gabe haben werden, wenn sie auf das Kommen unseres Herrn Jesus Christus warten? FS 130.1
R. F. Cottrell