Auf den Spuren des großen Arztes

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Mitgefühl

Bei der Behandlung psychosomatischer Erkrankungen ist große Weisheit vonnöten. Ein verletztes, krankes Herz und ein entmutigter Geist brauchen eine schonende Behandlung. SGA 197.1

Oft frißt sich gravierender häuslicher Ärger wie ein Krebsgeschwür in die Seele und schwächt die Lebenskraft. Und manchmal liegt der Fall so, daß Reue über Sünden die Konstitution untergräbt und den Geist aus dem Gleichgewicht bringt. Hier braucht man großes Einfühlungsvermögen, das dieser Patientengruppe wohltut. Der Arzt sollte zuerst ihr Vertrauen gewinnen und sie dann auf den Großen Arzt hinweisen. Wenn ihr Glaube auf den wahren Arzt ausgerichtet werden kann, und sie darauf vertrauen können, daß er sich ihres Falles angenommen hat, wird dies dem Geist Erleichterung und damit oft auch dem Körper Heilung verschaffen. SGA 197.2

Sympathie und Taktgefühl werden bei dem Kranken oft mehr bewirken als die sorgfältigste Therapie, die in einer kalten und gleichgültigen Weise ausgeübt wird. Wenn ein Arzt auf relativ lässige Art an das Krankenbett tritt und auf den Leidenden einen gleichgültigen Eindruck macht, dann in Wort oder Tat den Eindruck erweckt, daß der Fall keiner großen Aufmerksamkeit bedarf, und schließlich den Patienten seinem eigenen Grübeln überläßt, hat er ihm objektiv Schaden zugefügt. Der Zweifel und die Entmutigung, die von solcher Gleichgültigkeit hervorgerufen werden, werden die guten Wirkungen der Heilmittel, die der Arzt verordnen mag, wieder aufheben. SGA 197.3

Wenn sich Ärzte mehr in diejenigen hineinversetzen könnten, deren Leiden ihren Geist niedergedrückt und den Willen geschwächt hat und die sich nach Worten des Mitleids und der Ermutigung sehnen, wären sie eher imstande, deren Gefühlen gerecht zu werden. Wenn mit dem ärztlichen Fachwissen die Liebe und das Mitgefühl verbunden werden, die Christus den Kranken gegenüber offenbarte, wird bereits die bloße Gegenwart des Arztes ein Segen sein. SGA 197.4

Offenheit im Gespräch mit einem Patienten vermittelt Vertrauen und stellt so eine wichtige Hilfe zur Genesung dar. Manchmal halten es Ärzte für klüger, dem Patienten Ursache und Schwere seines Leidens zu verheimlichen. Sie befürchten, den Patienten durch eine Bekundung der Wahrheit aufzuregen oder zu entmutigen. Dabei wecken sie falsche Hoffnungen auf Heilung und nehmen sogar in Kauf, daß ein Patient stirbt, ohne daß ihm die Gefahr bewußt war. Das ist sehr gefährlich. Allerdings mag es nicht bei jedem Patienten angebracht sein, ihm das volle Ausmaß seiner Erkrankung offenzulegen; dies könnte ihn stark beunruhigen und seine Genesung verzögern oder gar verhindern. SGA 198.1

Am wenigsten vertragen diejenigen die Wahrheit, deren Gebrechen größtenteils eingebildet sind. Viele dieser Personen sind unvernünftig und haben sich nicht zur Selbstdisziplin erzogen. Sie hegen merkwürdige Vorstellungen und bilden sich vieles über sich und andere ein, das falsch ist. Sie halten diese Dinge aber für wahr, und die, die für sie sorgen, müssen hier eine gleichbleibende Freundlichkeit sowie unermüdliche Geduld und Taktgefühl aufbringen. Wenn diesen Patienten die Wahrheit gesagt würde, wären einige beleidigt, andere entmutigt. Christus sagte seinen Jüngern: “Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen.” Johannes 16,12. SGA 198.2

Wenn man die Wahrheit somit nicht in jedem Fall vollständig aussprechen mag, ist es andererseits doch niemals notwendig oder zu rechtfertigen, jemanden anzulügen. Niemals sollten der Arzt oder die Krankenschwester sich auf Ausflüchte einlassen. Wer sich dazu hergibt, handelt in einer Weise, bei der Gott nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten kann, und indem er so das Vertrauen seiner Patienten verspielt, wirft er eine der wirksamsten menschlichen Hilfen für ihre Genesung beiseite. SGA 198.3