Für die Gemeinde geschrieben — Band 2

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Der Fanatismus erhebt erneut sein Haupt

[Eine Erklärung, vorgetragen von Ellen G. White vor den Predigern anläßlich der Generalkonferenz am 17. April 1901.] FG2 32.4

Gott hat mir Anweisungen bezüglich der Geschwister in Indiana und ihrer Lehre gegeben. Durch das, was dort geschehen war und gelehrt wurde, ist es Satan gelungen, Menschen vom rechten Weg abzubringen. Die Lehre vom “holy flesh” ist eine Irrlehre. Es ist wahr, daß jeder von uns ein geheiligtes Herz empfangen kann, aber es ist falsch, wenn behauptet wird, man könne in diesem Leben einen unbefleckten, sündlosen Leib bekommen. Paulus schreibt doch: “Denn ich weiß, daß in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt.” Römer 7,18. FG2 32.5

Allen, die behaupten, ein sogenanntes “heiliges Fleisch” erlangt zu haben, sage ich: Ihr täuscht euch! Keiner von euch hat einen heiligen, von Sünde freien Leib. Es ist für keinen Menschen auf dieser Erde möglich, einen solchen Stand zu erreichen. Wenn diejenigen, die jetzt so selbstsicher von der Vollkommenheit im Fleisch reden, die Dinge im richtigen Licht sähen, würden sie erschrocken von ihren anmaßenden Ideen ablassen. Der Herr hat mir unmißverständlich gezeigt, wie irrig und überheblich diese Lehre ist; denn er möchte alle aufrichtigen Menschen davor schützen, in den Sog solcher Anschauungen zu geraten und Schaden zu nehmen an Leib, Seele und Geist. FG2 33.1

Ihr werdet erleben, daß diese Gruppe schließlich behaupten wird, gar nicht mehr sündigen zu können. Weil sie im heiligen Fleisch leben, sei nun all ihr Tun heilig. Damit wird der Verführung Tor und Tür geöffnet! FG2 33.2

Die Schrift sagt, daß die Heiligung des Leibes, der Seele und des Geistes unser Ziel sein soll. Darin sollen wir mit Gott zusammenwirken. Im Blick auf die Wiederherstellung des Bildes Gottes im Menschen können sich in körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht erstaunliche Veränderungen vollziehen, wenn man sich an die gottgegebenen Ordnungen hält. Leibliche Vollkommenheit allerdings ist nicht zu erreichen, wohl aber eine völlige geistliche Erneuerung. Durch Jesu Opfertod werden unsere Sünden vollkommen vergeben. Wir sollten uns dabei aber nicht auf das verlassen, was der Mensch tun kann, sondern auf das, was Gott durch Christus bereits für uns getan hat. Wenn wir uns Gott im Glauben rückhaltlos übergeben, reinigt uns das Blut Christi von aller Sünde. Das Gewissen wird uns dann nicht mehr verklagen. Gott sei gedankt, daß durch Jesu Erlösungstat so etwas möglich geworden ist. Wir dürfen uns freuen über Gottes Zuwendung. Wenn wir an Jesus Christus glauben, sollen wir nicht darüber besorgt sein, was Gott über uns denkt, entscheidend ist, was er über Christus denkt. Wir sind allein durch die Verdienste Christi bei Gott angenommen. FG2 33.3

Jedem, der glauben will, zeigt der Herr, daß er den Menschen annimmt und ihn nach seinem Bilde prägt und formt. FG2 34.1

Während seines Erdendaseins hätte Christus Geheimnisse Gottes offenbaren können, die alle menschlichen Entdeckungen in den Schatten stellen würden. Er hätte alle Türen zu den Geheimnissen des Lebens und Seins öffnen können. Ein Wort von ihm hätte alle Rätsel lösen können, die die Menschheit nun bis ans Ende der Zeit beschäftigen werden. Aber Christus öffnete diese Türen nicht, hinter die der Mensch in seiner Wißbegierde so gern schauen möchte. Er offenbarte den Menschen nichts, was ihrer hohen Berufung schaden könnte. Er kam, um für uns den Baum des Lebens zu pflanzen — nicht den Baum der Erkenntnis ... FG2 34.2

Den Geschwistern in Indiana, die diese fragwürdige “holy flesh”-Lehre vertreten, sage ich: Haltet euch an die Aussagen der Bibel. Nehmt euch Christus zum Vorbild und prägt euch sein Werk immer wieder ein. Denkt daran, daß “die Wahrheit aber von oben her ist zuerst lauter, dann friedfertig, gütig, läßt sich etwas sagen, ist reich an Barmherzigkeit und guten Früchten, unparteiisch, ohne Heuchelei. Die Frucht der Gerechtigkeit aber wird gesät in Frieden für die, die Frieden stiften.” Jakobus 3,17.18. Die Erlösten werden einst auch einen heiligen Körper erhalten, aber das geschieht erst zu der Zeit, wenn Gott sie in den Himmel aufnimmt. FG2 34.3

Wohl wird Sünde in diesem Leben vergeben, aber Sündenvergebung löscht nicht automatisch die Folgen der Sünde aus. Erst bei seiner Wiederkunft wird Christus “unsern nichtigen Leib verwandeln ..., daß er gleich werde seinem verherrlichten Leibe.” Philipper 3,21. FG2 34.4

Immer wieder sind in der Geschichte unserer Gemeinschaft fanatische Bewegungen entstanden; und immer wieder hatte ich ähnliche Botschaften wie die für die Gemeindeglieder in Indiana weiterzugeben. Der Herr hat mir gesagt, daß die Anschauungen dieser Gruppe jenen anderer Fanatiker gleichen, die die Gemeinde Jesu in der Vergangenheit irrezuführen drohten. Sogar in der Art ihrer Gottesdienste gibt es verblüffende Übereinstimmungen. FG2 34.5

Im Gefolge der enttäuschten Wiederkunftserwartungen von 1844 entstanden an mehreren Orten fanatische Gruppen ganz unterschiedlicher Prägung. Einige lehrten, die Auferstehung der gerechten Toten sei bereits erfolgt. Ihnen mußte ich damals Gottes Botschaft ebenso bringen wie euch heute. Ihre Gottesdienste liefen ähnlich ab wie eure. Auch sie verwirrten sich selbst und andere durch ihre merkwürdigen Anschauungen. Und trotzdem waren sie unsere Glaubensgeschwister, denen wir helfen wollten. Ich besuchte ihre Versammlungen, in denen es tumultartig und verwirrend zuging. Man wußte über weite Strecken gar nicht, worüber eigentlich gesprochen wurde. Manche Teilnehmer schienen in einer Art Zustand der Entrückung zu sein und fielen auf den Boden. Andere sprangen herum, tanzten und schrien. Sie erklärten, daß sie für die Verwandlung bereit wären, da ihr Fleisch gereinigt sei. Und all das wiederholte sich immer wieder. Ich trug mein Zeugnis vor und verurteilte diese Manifestationen im Namen des Herrn. Einige, die sich mit dieser Bewegung eingelassen hatten, kamen zur Besinnung und erkannten die Irreführung. Unter ihnen waren aufrichtige, wertvolle Menschen. Alle hatten gedacht, daß das “geheiligte Fleisch” nicht mehr sündigen könne, und waren so dem Satan in die Falle gegangen. Die neuen Ideen hatten sie so gefangengenommen, daß sie der Sache Gottes in ihrer Verblendung großen Schaden zugefügt hatten. Aber sie bereuten ihr Verhalten aufrichtig und gehörten später zu den verläßlichsten Mitarbeitern unseres Werkes. Andere wollten nicht erkennen, daß sie einer Irrlehre aufgesessen waren und ließen sich nicht davon überzeugen, daß sie Gottes Sache großen Schaden zufügten. Dabei hätten auch sie noch viel für Gott tun können, wenn sie nur umgekehrt wären. FG2 35.1

Ganz schrecklich ist die Tatsache, daß es auch Menschen gab, die regelrecht den Verstand verloren, nachdem sie sich solchen fanatischen Bewegungen angeschlossen hatten. Sie konnten das, was sich in den Versammlungen in Form von ekstatischen Phänomenen darbot, mit ihren persönlichen Erfahrungen nicht in Einklang bringen. Weil man ihnen einredete, wenn sie solche Erlebnisse nicht hätten, wären sie verloren, wurden diese Menschen seelisch krank, und manche endeten in geistiger Umnachtung. FG2 35.2

Solche Auswüchse fügen der Sache Gottes und der Verkündigung der letzten Gnadenbotschaft an diese Welt unermeßlichen Schaden zu. FG2 36.1

Lautstärke ist kein Gradmesser für Heiligkeit

Der Lärm und das Durcheinander in den Versammlungen in Indiana zeichnete die Glieder dort nicht gerade als real denkende, gebildete Menschen aus. Auf diese Weise kann suchenden Menschen die Wahrheit ganz gewiß nicht nahegebracht werden. Lautstarkes, frommes Geschrei ist noch kein Beweis dafür, daß sich dort ein Prozeß der Heiligung vollzieht —und schon gar kein Hinweis darauf, daß der Heilige Geist anwesend ist. FG2 36.2

Diese ungezügelten religiösen Demonstrationen erzeugen nur Abscheu bei Ungläubigen, anstatt sie für Gottes Wort zu interessieren. Wenn dem Fanatismus freie Bahn gelassen wird, ist er kaum noch in den Griff zu bekommen. Es ist wie bei einem Brand, der schließlich das ganze Gebäude erfaßt. Wenn gar Mitarbeiter im Werk Gottes solchen Fanatismus unterstützen, wäre es weit besser für sie, einen weltlichen Beruf zu ergreifen, anstatt durch ihren Eifer für die falsche Sache noch mehr Schaden in den Gemeinden anzurichten. Viele solcher fanatischen Bewegungen entstehen gerade in Zeiten, wo es darauf ankommt, daß die Kraft der Gemeinde Jesu nicht durch theologische Streitigkeiten und Irrtümer geschwächt wird. Natürlich steckt der Widersacher dahinter. Darum müssen wir ständig wachsam und auf eine enge Verbindung mit Christus bedacht sein. FG2 36.3

Gott erwartet, daß es dort, wo man ihn anbetet, ordentlich und beherrscht zugeht und daß im Gottesdienst kein tumultartiges Durcheinander herrscht. FG2 36.4

Wir wissen nicht, mit welchen Irrtümern wir es in der Zukunft noch zu tun haben werden, eins aber ist sicher: Satan wird alle Kräfte einsetzen, um die Gemeinde zu verwirren. In dieser Zeit hilft nur Wachen und Beten; denn der Tag des Herrn ist nahe. Wir müssen besonnen sein, die Stille suchen und Gottes Wort auf uns wirken lassen. Ekstatische Erregung dient dem geistlichen Wachstum nicht, wohl aber der nüchterne und zielstrebige Umgang mit der göttlichen Botschaft. FG2 36.5

Wenn die Leute in adventistischen Gottesdiensten nichts weiter als “frommen Lärm”, gefühlsgeladene Verkündigung und ekstatische Phänomene erleben, brauchen wir uns nicht zu wundern, daß sie uns zu Fanatikern abstempeln. Und das wird mit Sicherheit Vorurteile wecken, die die Menschen daran hindern, die Wahrheit zu erkennen. Wenn wir die Heilsbotschaft weitergeben, dann sollte das in Würde und Ehrfurcht vor Gott geschehen. Generalkonferenzbericht vom 23.April 1901 FG2 37.1