Christi Gleichnisse

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Kapitel 5: “Gleich einem Senfkorn”

Auf der Grundlage von Matthäus 13,31.32; Markus 4,30-32; Lukas 13,18.19.

Unter der Menge, welche den Lehren Christi lauschte, waren viele Pharisäer. Voller Verachtung bemerkten diese, wie wenige seiner Zuhörer ihn als den Messias anerkannten und sie fragten sich selbst, wie dieser anspruchslose Lehrer Israel zur Weltmacht erhöhen könne. Wie sollte er ohne Reichtum, Macht oder Ehre das neue Reich begründen? Christus las ihre Gedanken und antwortete ihnen: CGl 75.1

“Wem wollen wir das Reich Gottes vergleichen? Und durch welch Gleichnis wollen wir’s vorbilden?” In irdischen Regierungen war nichts, womit es verglichen werden konnte. Keine bürgerliche Gesellschaft konnte ihm ein Sinnbild darbieten. “Gleichwie ein Senfkorn,” sagte er, “wenn das gesät wird aufs Land, so ist’s das kleinste unter allen Samen auf Erden; und wenn es gesät ist, so nimmt es zu, und wird größer denn alle Kohlkräuter, und gewinnet große Zweige, also daß die Vögel unter dem Himmel unter seinem Schatten wohnen können.” CGl 75.2

Der im Samen enthaltene Keim wächst durch die Entfaltung des Lebensprinzips, welches Gott hineingelegt hat. Seine Entwicklung hängt nicht von menschlicher Kraft ab. So verhält es sich auch mit dem Reich Christi. Es ist eine neue Schöpfung. Die Grundsätze, nach denen es sich entwickelt, sind gerade das Gegenteil von denen, welche die Reiche dieser Welt beherrschen. Irdische Regierungen herrschen durch Machtanwendung, sie behaupten ihre Herrschaft durch Waffengewalt und Krieg; aber der Gründer des neuen Reiches ist der Friedensfürst. Der Heilige Geist versinnbildet weltliche Reiche durch Raubtiere, aber Christus ist “Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt”. Daniel 7,17. In seinem Regierungsplan kommt keine Gewalt des Fleisches zur Anwendung, um das Gewissen zu zwingen. Die Juden erwarteten, daß das Reich Gottes in derselben Weise aufgerichtet werden würde, wie die Reiche dieser Welt. Um die Gerechtigkeit zu fördern, nahmen sie ihre Zuflucht zu äußerlichen Maßregeln. Sie schmiedeten Pläne und erfanden allerlei Methoden. Christus aber prägt den Grundsatz der Wahrheit und Gerechtigkeit ein und wirkt dadurch gegen Irrtum und Sünde. CGl 75.3

Als Jesus dies Gleichnis gab, konnte die Senfpflanze, die sich über das Gras und Korn erhob und deren Zweige sich leicht in der Luft schaukelten, weit und breit gesehen werden. Die Vögel flatterten von Zweig zu Zweig und sangen in dem dichten Laube. Dennoch war der Same, von welchem diese große Pflanze gekommen war, der kleinste aller Samen. Zuerst trieb er nur einen zarten Schoß, aber derselbe war voller Lebenskraft und wuchs und gedieh, bis er seine gegenwärtige Größe erlangte. So schien auch das Reich Christi in seinem Anfang klein und unbedeutsam; verglichen mit irdischen Reichen war es das kleinste von allen. Den Herrschern dieser Welt war die Behauptung Christi, ein König zu sein, lächerlich. Dennoch besaß dieses Reich des Evangeliums in den mächtigen Wahrheiten, die den Nachfolgern Jesu anvertraut wurden, göttliches Leben. Und wie schnell ging sein Wachstum von statten! Wie ausgedehnt wurde sein Einfluß! Als Christus dies Gleichnis sprach, wurde das neue Reich nur durch einige wenige galiläische Landleute vertreten. Ihre Armut und ihre geringe Anzahl wurden wieder und wieder als Grund angeführt, weshalb die Menschen sich nicht mit diesen einfachen Fischern, die Jesu nachfolgten, verbinden sollten. Aber das Senfkorn sollte wachsen und seine Zweige sollten sich über die ganze Welt ausbreiten. Wenn die irdischen Reiche, deren Herrlichkeit damals die Herzen der Menschen erfüllte, vergehen würden, sollte das Reich Christi als eine starke und weitreichende Macht noch bestehen. CGl 76.1

So ist auch das Gnadenwerk im Herzen anfangs klein. Ein Wort wird gesprochen, ein Lichtstrahl fällt in die Seele, ein Einfluß wird ausgeübt: das ist der Anfang des neuen Lebens. Wer kann die Folgen ermessen! CGl 77.1

Nicht nur wird das Wachstum des Reiches Christi durch das Gleichnis vom Senfkorn veranschaulicht, sondern in dem Stufengang seines Wachstums wird die im Gleichnis vorgeführte Erfahrung wiederholt. Der Herr hat für seine Gemeinde in jedem Zeitalter eine besondere Wahrheit und eine besondere Aufgabe. Die Wahrheit, welche den weltlich Weisen und Klugen verborgen ist, wird den kindlich Einfältigen und Demütigen offenbart. Sie verlangt Selbstaufopferung, sie hat Kämpfe zu bestehen, Siege zu gewinnen und findet anfänglich nur wenige Verteidiger. Die großen Männer der Welt und eine sich der Welt anpassende Kirche widerstehen ihr und verachten sie. Seht Johannes den Täufer, den Vorläufer Christi, allein dastehen und den Stolz und das Formenwesen des jüdischen Volkes rügen! Wie hoffnungslos schien die Mission des Paulus und des Silas, der beiden Zelt- und Teppichmacher, als sie sich mit ihren Gefährten in Troas nach Philippi einschifften! Beschaut den “alten Paulus” in Ketten, wie er in der Feste der Cäsaren Christum predigt! Heftet euren Blick auf die aus Sklaven und Bauern bestehenden kleinen Gemeinden im Kampf mit dem Heidentum des kaiserlichen Roms! Betrachtet Martin Luther, wie er jener mächtigen Kirche widersteht, die das Meisterwerk dieser Weltweisheit ist! Stellt euch ihn vor, wie er gegen Kaiser und Papst am Worte Gottes festhält und erklärt: “Hier stehe ich; ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.” Schaut Johannes Wesley an, wie er inmitten des Formenwesens der Sinnlichkeit und des Unglaubens Christum und seine Gerechtigkeit predigt! Malt euch einen Menschen vor Augen, dem das Wehe der Heidenwelt so zu Herzen geht, daß er um das Vorrecht bittet, dahin die Botschaft der Liebe Christi bringen zu dürfen! Hört die Antwort der Geistlichkeit: “Setzen Sie sich, junger Mann, wenn Gott die Heiden bekehren will, so wird er es ohne Ihre oder mein Hilfe tun!” CGl 77.2

Die großen Leiter religiösen Denkens in diesem Geschlecht verkündigen das Lob derer, welche den Samen der Wahrheit ausgestreut haben und setzen ihnen Gedenksteine. Wenden sich aber nicht manche von diesem Werke ab und treten den noch heute aus demselben Samen hervorsprießenden Keim zu Boden? Der alte Ruf wird auch jetzt wiederholt: “Wir wissen, daß Gott mit Mose geredet hat; von wannen aber dieser (Christus, in den von ihm gesandten Boten) ist, wissen wir nicht.” Johannes 9,29. Wie vor Zeiten, so werden auch jetzt die besonderen Wahrheiten für diese Zeit nicht bei den kirchlichen Machthabern gefunden, sondern bei Männern und Frauen, welche nicht zu gelehrt oder zu weise sind, um an das Wort Gottes zu glauben. CGl 78.1

“Sehet an, liebe Brüder, euren Beruf; nicht viel Weise nach dem Fleisch, nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen; sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, daß er die Weisen zu schanden machte, was stark ist; und das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählet, und das da nichts ist, daß er zu nichte machte, was etwas ist.” “Auf daß euer Glaube bestehe, nicht auf Menschen Weisheit, sondern auf Gottes Kraft.” 1.Korinther 1,26-28. CGl 78.2

In diesem letzten Geschlecht soll das Gleichnis vom Senfkorn eine endgültige und triumphreiche Erfüllung finden. Das kleine Samenkorn wird zu einem großen Baume werden. Die letzte Warnungs- und Gnadenbotschaft soll “allen Heiden und Geschlechtern und Sprachen und Völkern” (Offenbarung 14,6-14) verkündigt werden, um “ein Volk aus den Heiden zu seinem Namen” (Apostelgeschichte 15,14; Offenbarung 18,1) zu sammeln; und die Erde soll von seiner Klarheit erleuchtet werden. CGl 78.3

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