Christi Gleichnisse

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Das jüdische Volk

Dem Gleichnis von den zwei Söhnen folgte das Gleichnis vom Weinberge. In dem einen hatte Christus den jüdischen Leitern die Wichtigkeit des Gehorsams vorgeführt. In dem andern wies er auf die Segnungen hin, die Israel zuteil geworden waren, und zeigte dadurch, daß Gott Anspruch auf ihren Gehorsam habe. Er führte ihnen die Herrlichkeit der Absichten Gottes vor, die sie durch Gehorsam hätten erfüllen können. Indem er den Zukunftsschleier lüftete, zeigte er, wie das ganze Volk dadurch, daß es Gottes Absichten nicht erfüllte, seiner Segnungen verloren ging und Verderben über sich selbst brachte. CGl 282.1

“Es war ein Hausvater,” sagte Christus, “der pflanzte einen Weinberg und führte einen Zaun drum, und grub eine Kelter drinnen, und baute einen Turm, und tat ihn den Weingärtnern aus, und zog über Land.” CGl 282.2

Eine Beschreibung dieses Weinberges wird vom Propheten Jesaja gegeben: “Wohlan, ich will meinen Lieben singen, ein Lied meines Geliebten von seinem Weinberge: Mein Lieber hat einen Weinberg an einem fetten Ort. Und er hat ihn verzäunet und mit Steinhaufen verwahret und edle Reben drein gesenkt. Er baute auch einen Turm drinnen und grub eine Kelter drein und wartete, daß er Trauben brächte.” Jesaja 5,1.2. CGl 282.3

Der Landmann wählt ein Stück Land in der Wildnis, er umzäunt dasselbe, reinigt es von Steinen, pflügt es, bepflanzt es dann mit den auserwähltesten Weinreben und erwartet eine reiche Ernte. Er erwartet, daß dieses Stück Land, nachdem es so viel besser ist, als die unbearbeitet daliegende Wildnis, ihm für seine Arbeit und Fürsorge Ehre machen werden. So hatte Gott auch ein Volk aus der Welt erwählt, das von Christo erzogen und ausgebildet werden sollte. Der Prophet sagt: “Des Herrn Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel, und die Männer Judas seine Pflanzung.” Jesaja 5,7. Diesem Volke hatte Gott große Vorrechte zuteil werden lassen und es nach dem Reichtum seiner Güte gesegnet. Dann erwartete er aber auch, daß es ihn durch Fruchttragen ehren werde. Es sollte die Grundsätze seines Reiches offenbaren. Inmitten einer gefallenen, gottlosen Welt sollte es den Charakter Gottes darstellen. CGl 283.1

Als der Weinberg des Herrn Zebaoth sollte es ganz andere Früchte bringen als die heidnischen Völker. Diese götzendienerischen Völker hatten sich der Gottlosigkeit ganz und gar hingegeben. Gewalttaten und Verbrechen, Habgier, Unterdrückung und die lasterhaftetesten Gebräuche wurden ohne Zurückhaltung ausgeübt. Bosheit, Entartung und Elend waren die Früchte des verderbten Baumes. In einem entschiedenen Gegensatz dazu sollten die Früchte in dem von Gott gepflanzten Weinberge sein. CGl 283.2

Es war das Vorrecht des jüdischen Volkes, den Charakter Gottes darzustellen, wie er dem Moses offenbart worden war. In Erhörung des Gebetes Moses: “So laß mich deine Herrlichkeit sehen,” verhieß der Herr: “Ich will vor deinem Angesicht alle meine Güte vorübergehen lassen.” “Und der Herr ging vor seinem Angesicht vorüber und rief: Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue! Der da bewahret Gnade in tausend Glieder, und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde.” 2.Mose 33,18.19; 2.Mose 34,6.7. Dies war die Frucht, welche Gott von seinem Volke zu bekommen wünschte. In der Reinheit ihres Charakters, in der Heiligkeit ihres Lebens, in ihrer Barmherzigkeit, ihrer Liebe und ihrem Mitleid sollten sie zeigen, daß das Gesetz vollkommen ist, und die Seele erquickt. Psalm 19,8. CGl 283.3

Gott beabsichtigte durch das jüdische Volk allen Völkern reiche Segnungen mitzuteilen. Durch Israel sollte der Weg vorbereitet werden, daß sein Licht sich über die ganze Erde ausbreite. Die Völker der Welt hatten infolge ihrer verderblichen Gebräuche die Erkenntnis Gottes verloren. Dennoch raffte Gott in seiner Barmherzigkeit sie nicht hinweg. Er wollte ihnen durch seine Gemeinde eine Gelegenheit geben, mit ihm bekannt zu werden. Er beabsichtigte, daß die durch sein Volk geoffenbarten Grundsätze das Mittel sein sollten, um das moralische Ebenbild Gottes im Menschen wieder herzustellen. CGl 284.1

Um diesen Zweck zu erreichen, rief Gott den Abraham aus seiner götzendienerischen Verwandtschaft heraus und gebot ihm, im Lande Kanaan zu wohnen. “Ich will dich zum großen Volk machen,” sagte er, “und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und sollst ein Segen sein.” 1.Mose 12,2. CGl 284.2

Die Nachkommen Abrahams, Jakob und seine Söhne wurden nach Ägypten gebracht, damit sie inmitten jenes großen und gottlosen Volkes die Grundsätze des Reiches Gottes offenbaren möchten. Die Treue Josephs und seine wunderbare Einrichtung, durch welche dem ganzen ägyptischen Volke das Leben erhalten wurde, war eine Darstellung des Lebens Christi. Moses und viele andere waren Zeugen für Gott. CGl 284.3

Indem der Herr die Kinder Israel aus Ägypten führte, offenbarte er wiederum seine Macht und seine Barmherzigkeit. Seine wunderbaren Taten bei ihrer Erlösung aus der Knechtschaft und sein Verfahren mit ihnen während ihrer Reisen in der Wüste geschah nicht nur ihretwegen. Sie sollten den sie umgebenden Völkern als Anschauungsunterricht dienen. Der Herr offenbarte sich als ein Gott, der höher ist, als alle menschliche Autorität und menschliche Größe. Die Zeichen und Wunder, die er für sein Volk wirkte, offenbarten seine Macht über die Natur und über die Größten von denen, welche die Natur anbeteten. Gott ging durch das stolze Ägypten, wie er in den letzten Tagen durch die ganze Erde gehen wird. Mittels Feuer und Sturm, Erdbeben und Tod erlöste der große “Ich bin” (2.Mose 3,14, EB) sein von den Ägyptern geknechtetes Volk. Er führte sie aus dem Lande der Knechtschaft heraus. Er führte sie “durch die große und grausame Wüste, da feurige Schlangen und Skorpione und eitel Dürre und kein Wasser war”. Er ließ “Wasser aus dem harten Felsen gehen” “und gab ihnen Himmelsbrot.” 5.Mose 8,15; Psalm 78,24. “Denn,” sagt Moses, “des Herrn Teil ist sein Volk, Jakob ist die Schnur seines Erbes. Er fand ihn in der Wüste, in der dürren Einöde, da es heulet. Er umfing ihn und hatte acht auf ihn; er behütete ihn wie seinen Augapfel. Wie ein Adler ausführet seine Jungen und über ihnen schwebet, breitete er seine Fittiche aus und nahm ihn und trug ihn auf seinen Flügeln. Der Herr allein leitete ihn, und war kein fremder Gott mit ihm.” 5.Mose 32,9-12. Auf diese Weise zog er die Seinen zu sich, damit sie unter dem Schatten des Höchsten wohnen möchten. CGl 284.4

Christus war der Führer der Kinder Israel auf ihren Wanderungen in der Wüste. Eingehüllt in die Wolkensäule bei Tage und die Feuersäule bei Nacht, leitete und führte er sie. Er bewahrte sie vor den Gefahren der Wüste; er brachte sie in das Land der Verheißung; und angesichts aller Völker, die Gott nicht anerkannten, pflanzte er Israel als sein eigenes, erwähltes Besitztum, als des Herrn Weinberg. CGl 285.1

Diesem Volke wurde das Wort Gottes anvertraut. Es wurde gleichsam durch die Vorschriften seines Gesetzes, die ewigen Grundsätze der Wahrheit, Gerechtigkeit und Reinheit eingehegt. Im Gehorsam gegen diese Grundsätze sollte sein Schutz liegen, denn der Gehorsam würde es davor bewahren, sich selbst durch sündige Gewohnheiten zu zerstören. Und wie den Turm in den Weinberg, so setzte Gott seinen heiligen Tempel inmitten des Landes. CGl 285.2

Christus war der Lehrer der Israeliten. Wie er in der Wüste bei ihnen gewesen war, so sollte er auch ferner ihr Lehrer und Führer sein. In der Stiftshütte und im Tempel thronte seine Herrlichkeit in der Schechinah über der Bundeslade. Um ihretwillen offenbarte er beständig den Reichtum seiner Liebe und Geduld. CGl 285.3

Gott wünschte, sein Volk Israel herrlich und lobenswert zu machen. Er gab ihm alle nur möglichen, geistlichen Vorrechte. Er enthielt ihm nichts vor, das zur Bildung des Charakters, durch den er dargestellt würde, dienlich sein könnte. CGl 286.1

Infolge ihres Gehorsams gegen das Gesetz Gottes sollten die Kinder Israel so gedeihen, daß sie den Völkern der Welt als ein Wunder dastehen würden. Er, der ihnen Weisheit und Gewandtheit in allerlei künstlichen Arbeiten geben konnte, wollte auch fernerhin ihr Lehrer sein und sie durch Gehorsam gegen seine Gesetze veredeln und erheben. Wenn sie gehorsam waren, sollten sie bewahrt werden vor den Krankheiten, die andere Völker heimsuchten und sollten mit Verstandeskraft gesegnet werden. Die Herrlichkeit Gottes, seine Majestät und Macht sollte sich in ihrem Wohlergehen offenbaren. Sie sollten ein Königreich von Priestern und Fürsten sein. Gott stellte ihnen alle Mittel zur Verfügung, die beitragen konnten, sie zum größten Volk auf Erden zu machen. CGl 286.2

Christus hatte ihnen durch Moses in der bestimmtesten Weise Gottes Absicht dargelegt und ihnen die Bedingungen zu ihrem Wohlergehen klar gemacht. “Du bist ein heilig Volk, dem Herrn, deinem Gott,” sagte er. “Dich hat der Herr, dein Gott, erwählet zum Volk es Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind.” “So sollst du nun wissen, daß der Herr, dein Gott, ein Gott ist, ein treuer Gott, der den Bund und Barmherzigkeit hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, in tausend Glieder.” “so halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, daß du darnach tust. Und wenn ihr diese Rechte höret und haltet sie und darnach tut, so wird der Her, dein Gott, auch halten den Bund und Barmherzigkeit, die er deinen Vätern geschworen hat, und wird dich lieben und segnen und mehren; und wird die Frucht deines Leibes segnen, und die Frucht deines Landes, dein Getreide, Most und Öl, die Früchte deiner Kühe und die Früchte deiner Schafe auf dem Lande, das er deinen Vätern geschworen hat dir zu geben. Gesegnet wirst du sein über allen Völkern ... Der Herr wird von dir tun alle Krankheit, und wird keine böse Seuche der Ägypter dir auflegen, die du erfahren hast.” 5.Mose 7,6.9.11-15. CGl 286.3

Wenn sie seine Gebote halten würden, verhieß Gott, ihnen den schönsten Weizen zu geben und Honig aus dem Felsen zu bringen. Er würde sie sättigen mit langem Leben und ihnen zeigen sein Heil. CGl 287.1

Durch den Ungehorsam gegen Gott hatten Adam und Eva Eden verloren, und wegen der Sünde wurde die ganze Erde verflucht. Wenn aber das Volk Gottes seiner Weisung folgen würde, dann sollte ihr Land seine frühere Fruchtbarkeit und Schönheit wieder erlangen. Gott selbst gab ihnen Anweisungen, wie sie den Boden bearbeiten sollten; er wollte, daß sie mit ihm in der Wiederherstellung desselben zusammenwirkten. Auf diese Weise sollte das ganze Land unter der Aufsicht Gottes ein Anschauungsunterricht in geistlicher Wahrheit sein. Wie die Erde im Gehorsam gegen die göttlichen Naturgesetze ihre Schätze hervorbringen sollte, so sollten die Herzen der Menschen im Gehorsam gegen sein Sittengesetz seine Charaktereigenschaften widerstrahlen. Selbst die Heiden würden die Erhabenheit derer anerkennen, die den lebendigen Gott anbeteten und ihm dienen. CGl 287.2

“Siehe,” sagte Moses, “ich habe euch gelehret Gebote und Rechte, wie mir der Herr, mein Gott, geboten hat, daß ihr also tun sollt im Lande, darein ihr kommen werdet, daß ihr’s einnehmet. So behaltet’s nun und tut’s. Denn das wird eure Weisheit und Verstand sein bei allen Völkern, wenn sie hören werden alle diese Gebote, daß sie müssen sagen: Ei, welch weise und verständige Leute sind das und ein herrlich Volk! Denn wo ist so ein herrlich Volk, das so gerechte Sitten und Gebote habe als all dies Gesetz, das ich euch heutigentags vorlege?” 5.Mose 4,5-8. CGl 287.3

Die Kinder Israel sollten alles Gebiet einnehmen, welches Gott ihnen anwies. Jenen Völkern, welche die Anbetung und den Dienst des wahren Gottes verwarfen, sollte ihr Land genommen werden. Aber es war Gottes Absicht, daß durch die Offenbarung seines Charakters seitens Israels die Menschen zu ihm gezogen werden sollten. Der ganzen Welt sollte die Evangeliumseinladung gegeben werden. Durch den vorbildlichen Opferdienst sollte Christus vor den Völkern erhöht werden, und alle, die auf ihn blicken würden, sollten leben. Alle, welche sich, wie Rahab, die Kanaanitin, und Ruth, die Moabitin, von dem Götzendienst zur Anbetung des wahren Gottes wandten, sollten sich seinem erwählten Volke anschließen. Wenn im Laufe der Zeit die Gliederzahl Israels zunehmen würde, sollte es seine Grenzen ausdehnen, bis sein Reich die ganze Welt umfassen würde. CGl 287.4

Gott wünschte alle Völker unter seine gnädige Regierung zu bringen. Er wünschte, daß die Erde voller Freude und Friede sein möchte. Er schuf den Menschen, damit er glücklich sein möchte, und er sehnt sich darnach, menschliche Herzen mit Himmelsfrieden zu erfüllen. Er wünscht, daß die Familien hier auf Erden ein Sinnbild der großen Familie dort droben sein sollen. CGl 288.1

Aber Israel erfüllte Gottes Absicht nicht. Der Herr erklärte: “Ich aber hatte dich gepflanzt zu einem süßen Weinstock, einen ganz rechtschaffenen Samen. Wie bist du mir denn geraten zu einem bittern, wilden Weinstock?” “Israel ist ein ausgebreiteter Weinstock, der seine Frucht trägt; aber so viel Früchte er hatte, so viel Altäre hatte er gemacht; wo das Land am besten war, da stifteten sie die schönsten Bildsäulen.” Jeremia 2,21; Hosea 10,1. “Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberge. Was sollte man doch mehr tun an meinem Weinberge, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn Herlinge gebracht, da ich wartete, daß er Trauben brächte? Wohlan, ich will euch zeigen, was ich meinem Weinberge tun will. Seine Wand soll weggenommen werden, daß er verwüstet werde, und sein Zaun soll zerrissen werden, daß er zertreten werde. Ich will ihn wüste liegen lassen, daß er nicht geschnitten, noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen drauf wachsen, und will den Wolken gebieten, daß sie nicht drauf regnen ... (Denn) Er wartet auf Recht, siehe, so ist’s Schinderei; auf Gerechtigkeit, siehe, so ist’s Klage.” Jesaja 5,3-7. CGl 288.2

Der Herr hatte durch Moses seinem Volke die Folgen der Untreue vorführen lassen. Würden sie sich weigern, seinen Bund zu halten, so würden sie sich dadurch von dem Leben Gottes abschneiden, und sein Segen könnte nicht über sie kommen. “So hüte dich nun,” sagte Moses, “daß du des Herrn, deines Gottes, nicht vergessest, damit daß du seine Gebote und seine Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, nicht hältst; daß, wenn du nun gegessen hast und satt bist, und schöne Häuser erbauest und drinnen wohnest, und deine Kinder und Schafe und Silber und Gold und alles, was du hast, sich mehret, daß dann dein Herz sich nicht erhebe, und vergessest des Herrn, deines Gottes.” “Du möchtest sonst sagen in deinem Herzen: Meine Kräfte und meiner Hände Stärke haben mir dies Vermögen ausgerichtet.” “Wirst du aber des Herrn, deines Gottes, vergessen und andern Göttern nachfolgen und ihnen dienen und sie anbeten, so bezeuge ich heute über euch, daß ihr umkommen werdet; eben wie die Heiden, die der Herr umbringet vor eurem Angesicht, so werdet ihr auch umkommen, darum, daß ihr nicht gehorsam seid der Stimme des Herrn, eures Gottes.” 5.Mose 8,11-14.17.19.20. CGl 289.1

Die Warnung wurde von den Juden mißachtet. Sie vergaßen Gottes und verloren ihr hohes Vorrecht, seine Stellvertreter zu sein, aus den Augen; die Segnungen, die sie erhalten hatten, brachten der Welt keinen Segen. Sie benutzten alle ihre Vorrechte zur Selbstverherrlichung. Sie enthielten Gott den Dienst vor, den er von ihnen forderte und beraubten ihre Mitmenschen der religiösen Leitung und eines heiligen Vorbildes. Gleich den Bewohnern der vorsintflutlichen Welt war das Dichten und Trachten ihres Herzens böse immerdar. Sie ließen heilige Dinge als ein Possenspiel erscheinen und sagten: “Hier ist des Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel!” (Jeremia 7,4) während sie gleichzeitig den Charakter Gottes entstellten, seinen Namen entehrten und sein Heiligtum befleckten. CGl 289.2

Die Weingärtner, denen der Herr die Aufsicht über seinen Weinberg übertragen hatte, kamen ihrer hehren Pflicht nicht nach. Die Priester und Lehrer unterwiesen das Volk nicht getreulich. Sie zeigten ihm nicht die Güte und Barmherzigkeit Gottes und sein Anrecht auf dessen Liebe und Dienst. Diese Weingärtner suchten ihre eigene Ehre; sie wünschten die Früchte des Weinberges sich selber zuzueignen. Sie dachten beständig darüber nach, wie sie die Aufmerksamkeit und die Ehrenbezeigungen auf sich selbst lenken könnten. CGl 289.3

Die Schuld dieser Leiter in Israel war nicht wie die Schuld des gewöhnlichen Sünders. Diese Männer standen unter der heiligsten Verpflichtung Gott gegenüber. Sie hatten gelobt, ein “So spricht der Herr” zu lehren und dem Herrn in ihrem täglichen Leben selbst aufs genaueste zu gehorchen. Anstatt dessen verdrehten sieh die Schrift. Sie legten den Menschen schwere Lasten auf, indem sie Zeremonien einführten, die sich auf jeden Schritt im Leben erstreckten. Die Menschen lebten in beständiger Unruhe, weil sie die von den Rabbinern gestellten Forderungen nicht erfüllen konnten. Als sie dann die Unmöglichkeit sahen, diese Menschensatzungen zu halten, mißachteten sie auch die Gebote Gottes. CGl 290.1

Der Herr hatte sein Volk gelehrt, daß er der Eigentümer des Weinbergs sei und daß alle ihre Besitzungen ihnen nur anvertraut worden seien, um sie für den Herrn zu verwerten. Aber die Priester und Lehrer verrichteten die Pflichten ihres heiligen Amts nicht, als ob sie das Eigentum Gottes handhabten. Sie beraubten ihn systematisch der Mittel und Wege, die ihnen zur Förderung seines Werkes anvertraut waren. Ihre Selbstsucht und Habgier verursachten, daß sie selbst von den Heiden verachtet wurden. In dieser Weise wurde der heidnischen Welt Veranlassung gegeben, den Charakter Gottes und die Gesetze seines Reiches falsch auszulegen. CGl 290.2

Gott trug sein Volk mit Vaterliebe. Er suchte es zu gewinnen, sei es durch Spenden seiner Gnade oder durch Entziehung derselben. Geduldig hielt er ihm seine Sünden vor und wartete in Langmut, daß es dieselben bekennen möchte. Propheten und Boten wurden gesandt, um den Weingärtnern Gottes Anrechte klar zu machen, aber anstatt sie freundlich aufzunehmen, wurden sie als Feinde behandelt. Die Weingärtner verfolgten und töteten sie. Gott sandte noch andere Boten, aber ihnen wurde dieselbe Behandlung zuteil wie den ersten, nur daß die Weingärtner noch größeren Haß offenbaren. CGl 290.3

Als letztes Mittel sandte Gott seinen Sohn und sagte: “Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen.” Aber ihr Widerstand hatte sie rachsüchtig gemacht, und sie sprachen untereinander: “Das ist der Erbe, kommt, laßt uns ihn töten, und sein Erbgut an uns bringen!” Dann werden wir uns des Weinberges erfreuen und mit der Frucht tun können, was wir wollen. CGl 291.1

Die jüdischen Obersten liebten Gott nicht, deshalb trennten sie sich von ihm und verwarfen alle seine Vorschläge betreffs eines gerechten Ausgleichs. Christus, der Geliebte Gottes, kam, um seine Ansprüche als Eigentümer des Weinbergs zu behaupten; aber die Weingärtner behandelten ihn mit der größten Verachtung und sagten: Wir wollen nicht, daß dieser über uns herrsche. Sie beneideten Christum seines edlen Charakters wegen. Seine Art und Weise des Lehrens war der ihrigen weit überlegen und sie fürchteten seinen Erfolg. Er machte ihnen Vorstellungen, legte ihre Heuchelei bloß und zeigte ihnen, was die sichere Folge ihrer Handlungsweise sein werde. Dies erregte ihren Zorn aufs höchste. Seine Zurechtweisungen, deren Richtigkeit sie nicht in Abrede stellen konnten, kränkten sie. Sie haßten den hohen Maßstab der Gerechtigkeit, worauf Christus sie beständig hinwies. Sie sahen, daß seine Lehren ihre Selbstsucht bloßstellten, und sie beschlossen, ihn zu töten. Sie haßten das von ihm gegebene Beispiel der Wahrheitsliebe und Frömmigkeit und jene erhabene geistliche Gesinnung, die in allem, was er tat, offenbar wurde. Sein ganzes Leben war ein Tadel ihrer Selbstsucht, und als die schließliche Prüfung kam, die Prüfung, welche Gehorsam zum ewigen Leben, oder Ungehorsam zum ewigen Tode bedeutete, da verwarfen sie den Heiligen Israels. Als ihnen die Wahl zwischen Christo und Barabbas gestellt wurde, da riefen sie: “Gib uns Barabbas los!” Und als Pilatus fragte: “Was soll ich denn machen mit Jesu?” Da schrien sie: “Laß ihn kreuzigen!” “Soll ich euren König kreuzigen?” fragte Pilatus; und von den Priestern und Obersten kam die Antwort: “Wir haben keinen König denn den Kaiser.” Als Pilatus seine Hände wusch und sagte: “Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten,” da schlossen sich die Priester der leidenschaftlichen Erklärung der Menge an: “Sein Blut komme über uns und unsre Kinder!” Lukas 23,18; Matthäus 27,22; Johannes 19,15; Matthäus 27,24.25. CGl 291.2

[Der folgende Absatz fehlt in der deutschen Übersetzung und ist nach dem englischen Original zitiert] So trafen die jüdischen Führer ihre Wahl. Ihre Entscheidung wurde in dem Buch verzeichnet, das Johannes in der Hand dessen sah, der auf dem Thron saß — das Buch, das niemand auftun konnte. [Siehe Offenbarung 5,1.3.] Diese Entscheidung wird ihnen in ihrer ganzen Niederträchtigkeit vor Augen stehen, wenn der Löwe aus dem Stamm Juda das Buch entsiegeln wird. CGl 292.1

Die Juden hegten die Idee, daß sie die Günstlinge des Himmels seien und immer als die Gemeinde Gottes über alle anderen emporragen sollten, Nach ihrer Auffassung waren sie die Kinder Abrahams, und zwar schien ihnen die Grundlage ihres Wohlergehens so fest zu stehen, daß sie Himmel und Erde herausforderten, ihnen ihr Recht streitig zu machen. Indem sie aber so treulos wandelten, bereiteten sie selbst den Tag vor, da der Himmel sie verwarf und Gott sich von ihnen trennte. CGl 292.2

Im Gleichnis vom Weinberg veranschaulichte Christus den Priestern die krönende Handlung ihrer Gottlosigkeit und stellte dann die Frage an sie: “Wenn nun der Her des Weinberges kommen wird, was wird er diesen Weingärtnern tun?” Die Priester waren seiner Erzählung mit großem Interesse gefolgt und ohne dieselbe auf sich selbst anzuwenden, schlossen sie sich der Antwort des Volkes an: “Er wird die Bösewichter übel umbringen und seinen Weinberg andern Weingärtnern austun, die ihm die Früchte zu rechter Zeit geben.” CGl 292.3

Ohne es zu wissen, hatten sie ihr eigenes Urteil gesprochen. Jesus blickte sie an und unter seinem forschenden Blick wußten sie, daß er die Geheimnisse ihres Herzens las. Seine Gottheit strahlte von ihm in unverkennbarer Kraft vor ihnen aus. Sie sahen in den Weingärtnern ihr eigenes Bild und riefen unwillkürlich aus: “Das sei ferne!” Lukas 20,16. CGl 292.4

Feierlich und mit Bedauern sagte Christus: “Habt ihr nie gelesen in der Schrift: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein worden. Von dem Herrn ist das geschehen, und es ist wunderbarlich vor unsern Augen? Darum sage ich euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volke gegeben werden, das seine Früchte bringt. Und wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen; auf welchen aber er fällt, den wird er zermalmen.” CGl 292.5

Christus würde das Schicksal des jüdischen Volkes abgewandt haben, wenn die Leute ihn angenommen hätten. Aber Neid und Eifersucht machten sie unversöhnlich. Sie beschlossen, Jesum von Nazareth nicht als den Messias anzunehmen. Sie verwarfen das Licht der Welt, und hinfort war ihr Leben von einer Finsternis, so dicht wie die Finsternis der Mitternacht umgeben. Das vorausgesagte Verhängnis kam über die Juden. Ihre eigenen unbezähmten, wilden Leidenschaften hatten ihr Verderben zur Folge. In blinder Wut vernichteten sie einander. Durch den empörerischen, hartnäckigen Stolz zogen sie sich den Zorn der römischen Besieger zu. Jerusalem wurde zerstört, der Tempel zur Ruine gemacht und der Platz, wo er gestanden, wie ein Feld gepflügt. Die Kinder Judas kamen auf die schrecklichsten Weisen um. Millionen wurden verkauft, um in heidnischen Ländern als Sklaven zu dienen. CGl 292.6

Als Volk hatten die Juden die Absicht Gottes nicht erfüllt und der Weinberg wurde von ihnen genommen. Die Vorrechte, die sie mißbraucht, das Werk, welches sie vernachlässigt hatten, wurde anderen anvertraut. CGl 293.1