Propheten und Könige
Kapitel 1: Salomo
Während der Regierungszeit Davids und Salomos erstarkte Israel unter den Nationen und hatte oft Gelegenheit, einen mächtigen Einfluß für Wahrheit und Recht auszuüben. Der Name des Herrn wurde erhöht und in Ehren gehalten, und die Absicht, um derentwillen die Israeliten ins Land der Verheißung gebracht worden waren, versprach in Erfüllung zu gehen. Schranken wurden niedergerissen, und Wahrheitssucher aus den Ländern der Heiden brauchten nicht unbefriedigt wieder umzukehren. Bekehrungen fanden statt, und die Gemeinde Gottes auf Erden breitete sich aus und gedieh. PK 15.1
Salomo wurde noch bei Lebzeiten seines Vaters David, der zu seinen Gunsten abdankte, zum König gesalbt und ausgerufen. Er machte einen vielversprechenden Anfang. Gott wollte, daß er von Kraft zu Kraft, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit schreiten und ihm charakterlich immer ähnlicher werden sollte. Dadurch sollte er sein Volk dazu veranlassen, seine heilige Aufgabe als Hüter der göttlichen Wahrheit zu erfüllen. PK 15.2
David wußte, daß Gottes hehre Absichten mit Israel nur dann verwirklicht werden konnten, wenn Herrscher und Volk gemeinsam mit unaufhörlicher Wachsamkeit danach trachteten, das ihnen gesteckte Ziel zu erreichen. Ferner wußte er, daß sein Sohn Salomo nicht nur Krieger, Staatsmann und Herrscher sein durfte, sondern als charakterstarker, guter Mensch auch ein Lehrer der Gerechtigkeit und ein Vorbild an Treue sein mußte, um als junger Regent der Aufgabe gerecht zu werden, mit der ihn Gott nach seinem Wohlgefallen ehren wollte. PK 15.3
Mit gütigem Ernst forderte David Salomo eindringlich auf, mannhaft und edel zu sein, seinen Untertanen barmherzig und herzlich entgegenzukommen, in seinem ganzen Umgang mit den Völkern der Erde den Namen Gottes zu ehren und zu verherrlichen und die Schönheit eines heiligen Lebens sichtbar werden zu lassen. Die vielen Prüfungen und einzigartigen Erfahrungen, durch die David zeit seines Lebens gegangen war, hatten ihn den Wert der höheren Tugenden schätzen gelehrt und ihn veranlaßt, noch bei Bekanntgabe seines letzten Willens zu Salomo zu sagen: “Wer gerecht herrscht unter den Menschen, wer herrscht in der Furcht Gottes, der ist wie das Licht des Morgens, wenn die Sonne aufgeht, am Morgen ohne Wolken.” 2.Samuel 23,3.4. PK 15.4
Welch eine Gelegenheit bot sich doch Salomo! Befolgte er die von Gott eingegebene Unterweisung seines Vaters, so würde seine Herrschaft eine Herrschaft der Gerechtigkeit werden, wie sie im zweiundsiebzigsten Psalm beschrieben wird: PK 16.1
“Gott, gib dein Gericht dem König und deine
Gerechtigkeit dem Königssohn,
daß er dein Volk richte mit Gerechtigkeit
und deine Elenden rette ...
PK 16.2
Er soll herabfahren wie der Regen auf die Aue,
wie die Tropfen, die das Land feuchten. Zu seinen
Zeiten soll blühen die Gerechtigkeit und großer
Friede sein, bis der Mond nicht mehr ist. Er soll
herrschen von einem Meer bis ans andere, und von
dem Strom bis zu den Enden der Erde ...
PK 16.3
Er soll leben, und man soll ihm geben vom Gold aus Saba.
Man soll immerdar für ihn beten und ihn täglich segnen ...
PK 16.4
Sein Name bleibe ewiglich; solange die
Sonne währt, blühe sein Name. Und durch ihn
sollen gesegnet sein alle Völker, und sie
werden ihn preisen.
PK 16.5
Gelobt sei Gott der Herr, der Gott Israels,
der allein Wunder tut! Gelobt sei sein herrlicher
Name ewiglich, und alle Lande sollen seiner
Ehre voll werden! Amen! Amen!” Psalm 72,1.2.6-8.15.17-19.
PK 16.6
In seiner Jugend machte Salomo Davids Wahl zu seiner eigenen, wandelte viele Jahre rechtschaffen und führte ein Leben, das sich durch unbedingten Gehorsam gegen Gottes Gebote auszeichnete. Kurz nach Antritt seiner Regierung begab er sich mit seinen Ratgebern nach Gibeon, wo sich immer noch die Stiftshütte befand, die in der Wüste gebaut worden war, und vereinigte sich dort mit seinen sorgfältig ausgewählten Räten, “den Obersten über tausend und über hundert”, “den Richtern” und “allen Fürsten in Israel, mit den Häuptern der Sippen” (2.Chronik 1,2), um Gott Opfer darzubringen und sich dem Dienste des Herrn voll und ganz zu weihen. Da er einen Begriff von der Größe der Pflichten hatte, die mit der Königswürde verbunden waren, wußte Salomo auch, daß Menschen, die schwere Bürden tragen, die Quelle der Weisheit suchen und sich leiten lassen müssen, wenn sie ihren Verpflichtungen in annehmbarer Weise nachkommen wollen. Dies veranlaßte ihn, seine Ratgeber zu bewegen, sich von Herzen mit ihm zu vereinigen, um ihre Annahme bei Gott festzumachen. PK 16.7
Vor allen irdischen Gütern wünschte der König sich Weisheit und Verstand zur Vollbringung des Werkes, das Gott ihm aufgetragen hatte. Er trug Verlangen nach Verstandesschärfe, Seelengröße und einem sanften Geist. In derselben Nacht erschien der Herr dem Salomo in einem Traum und sprach: “Bitte, was ich dir geben soll!” In seiner Antwort gab der junge und unerfahrene Herrscher seinem Gefühl der Hilflosigkeit und seinem Verlangen nach Beistand und Unterstützung Ausdruck. “Du hast”, so sprach er, “an meinem Vater David, deinem Knecht, große Barmherzigkeit getan, wie er denn vor dir gewandelt ist in Wahrheit und Gerechtigkeit und mit aufrichtigem Herzen vor dir, und hast ihm auch die große Barmherzigkeit erwiesen und ihm einen Sohn gegeben, der auf seinem Thron sitzen sollte, wie es denn jetzt ist.” PK 17.1
Dann fuhr er fort: “Nun, Herr, mein Gott, du hast deinen Knecht zum König gemacht an meines Vaters David Statt. Ich aber bin noch jung, weiß weder aus noch ein. Und dein Knecht steht mitten in deinem Volk, das du erwählt hast, einem Volk, so groß, daß es wegen seiner Menge niemand zählen noch berechnen kann. So wollest du deinem Knecht ein gehorsames Herz geben, damit er dein Volk richten könne und verstehen, was gut und böse ist. Denn wer vermag dies dein mächtiges Volk zu richten?” PK 17.2
“Das gefiel dem Herrn gut, daß Salomo darum bat.” 1.Könige 3,5-10.4. PK 17.3
“Weil du dies im Sinn hast”, sprach Gott hierauf zu Salomo, “und nicht gebeten um Reichtum noch um Gut noch um Ehre noch um deiner Feinde Tod noch um langes Leben, sondern hast um Weisheit und Erkenntnis gebeten, mein Volk zu richten” (2.Chronik 1,11), “siehe, so tue ich nach deinen Worten. Siehe, ich gebe dir ein weises und verständiges Herz, so daß deinesgleichen vor dir nicht gewesen ist und nach dir nicht aufkommen wird. Und dazu gebe ich dir, worum du nicht gebeten hast, nämlich Reichtum und Ehre” (1.Könige 3,12.13), “wie sie die Könige vor dir nicht gehabt haben und auch die nach dir nicht haben werden.” 2.Chronik 1,12.7. PK 17.4
“Und wenn du in meinen Wegen wandeln wirst, daß du hältst meine Satzungen und Gebote, wie dein Vater David gewandelt ist, so werde ich dir ein langes Leben geben.” 1.Könige 3,14. PK 18.1
Gott verhieß, daß er so, wie er mit David gewesen war, auch mit Salomo sein werde. Wenn der König rechtschaffen vor dem Herrn wandeln und tun würde, was ihm Gott befohlen hatte, so würde sein Thron bestätigt werden und seine Regierung das Mittel bilden, aus Israel ein “weises und verständiges Volk” (5.Mose 4,6, EB), und das Licht der umwohnenden Völker zu machen. PK 18.2
Die Worte, deren Salomo sich in seinem Gebet zu Gott vor dem altehrwürdigen Altar zu Gibeon bediente, offenbarten seine Demut und sein starkes Verlangen, Gott zu ehren. Er erkannte, daß er ohne göttliche Hilfe kraftlos wie ein kleines Kind den ihm auferlegten Verpflichtungen gegenüberstand. Er wußte, daß es ihm an Unterscheidungsvermögen fehlte. Das Bewußtsein dieses großen Mangels trieb ihn, Gott um Weisheit zu ersuchen. In seinem Herzen trug er kein Verlangen nach einer Erkenntnis, die ihn andern überlegen machte. Ihm kam es nur darauf an, die ihm zufallenden Pflichten treulich erfüllen zu können. Deshalb erwählte er die Gabe, die ihn befähigen konnte, durch seine Herrschaft Gott zu verherrlichen. Nie war Salomo so reich, weise und wahrhaft groß wie damals, als er bekannte: “Ich aber bin noch jung, weiß weder aus noch ein.” PK 18.3
Wer heute eine Vertrauensstellung bekleidet, sollte die in Salomos Gebet ausgedrückte Lehre zu beherzigen suchen. Je höher die Stellung ist, die jemand bekleidet, und je mehr Verantwortung er zu tragen hat, desto weiter reicht sein Einfluß und desto größer ist auch seine Abhängigkeit von Gott. Er sollte deshalb bedenken, daß die Berufung zur Erfüllung einer Aufgabe immer mit der Berufung zu einem umsichtigen Wandel vor seinen Mitmenschen verbunden ist. Er sollte vor Gott die Haltung eines Lernenden einnehmen. Eine hohe Stellung verleiht nicht ohne weiteres Heiligkeit des Charakters. Allein Gott ehren und seine Gebote halten macht einen Menschen wahrhaft groß. PK 18.4
Der Gott, dem wir dienen, sieht die Person nicht an. Er, der Salomo einen weisen und verständigen Geist verlieh, ist bereit, seinen Kindern heute denselben Segen zu schenken. “Wenn aber jemandem unter euch Weisheit mangelt”, sagt sein Wort, “der bitte Gott, der da gern gibt jedermann und allen mit Güte begegnet, so wird ihm gegeben werden.” Jakobus 1,5. Wenn einem Verantwortungsträger mehr um Weisheit zu tun ist als um Reichtum, Macht oder Ruhm, so wird er nicht enttäuscht werden. Er wird von dem großen Lehrer nicht nur lernen, was er tun soll, sondern auch, wie er es tun muß, um Gottes Zustimmung zu finden. PK 19.1
Solange ein Mensch, den Gott mit Verstand und Fähigkeiten ausgerüstet hat, dem Herrn geweiht bleibt, wird er kein Verlangen nach einer hohen Stellung hegen, noch wird er regieren oder herrschen wollen. Die Menschen müssen notwendigerweise Verantwortlichkeiten tragen, doch wird der wahre Leiter nicht danach trachten, andere zu beherrschen, sondern wird um ein verständiges Herz bitten, um zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. PK 19.2
Der Pfad derer, die zu Führern berufen sind, ist nicht leicht. Doch jede Schwierigkeit sollte für sie eine Aufforderung zum Gebet sein. Nie sollten sie versäumen, den großen Quell aller Weisheit um Rat anzugehen. Durch den Meister gestärkt und erleuchtet, werden sie imstande sein, unheiligen Einflüssen zu widerstehen sowie Recht von Unrecht und Gut von Böse zu unterscheiden. Sie werden gutheißen, was Gott gutheißt, sich aber entschieden dem Eindringen verkehrter Grundsätze in Gottes Werk widersetzen. PK 19.3
Salomo erhielt von Gott die Weisheit, die er mehr als Reichtum, Ehre oder langes Leben begehrte. Auch seine Bitte um einen scharfen Verstand, ein weites Herz und einen sanften Geist wurde erhört: “Gott gab Salomo sehr große Weisheit und Verstand und einen Geist, so weit, wie Sand am Ufer des Meeres liegt, daß die Weisheit Salomos größer war als die Weisheit von allen, die im Osten wohnen, und als die Weisheit der Ägypter. Und er war weiser als alle Menschen ... und war berühmt unter allen Völkern ringsum.” 1.Könige 5,9-11. PK 19.4
“Und ganz Israel hörte das Urteil ..., und sie fürchteten sich vor dem König; denn sie sahen, daß die Weisheit Gottes in ihm war, Recht zu üben.” 1.Könige 3,28 (EB). Die Herzen des Volkes fielen Salomo zu, wie sie einst David zugefallen waren, und sie gehorchten ihm in allen Dingen. “Salomo ... wurde mächtig in seinem Königtum, und der Herr, sein Gott, war mit ihm und machte ihn immer größer.” 2.Chronik 1,1. PK 20.1
Viele Jahre lang zeichnete Salomos Leben sich durch Hingabe an Gott, durch Rechtschaffenheit, Grundsatzfestigkeit und unbedingten Gehorsam gegen Gottes Gebote aus. Er leitete selbst alle wichtigen Unternehmungen und regelte weise die geschäftlichen Angelegenheiten des Reiches. Sein Reichtum und seine Weisheit, die prächtigen Bauten und öffentlichen Arbeiten, die er in den ersten Jahren seiner Regierung ausführte, die Tatkraft, Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Großherzigkeit, die er in Wort und Tat bekundete, gewannen ihm die Zuneigung seiner Untertanen sowie die Bewunderung und Huldigung der Herrscher vieler Länder. PK 20.2
Der Name des Herrn wurde während der ersten Jahre der Herrschaft Salomos hoch in Ehren gehalten. Die Weisheit und Gerechtigkeit, die der König an den Tag legte, bezeugten allen Nationen die hervorragenden Eigenschaften des Gottes, dem er diente. Vorübergehend war Israel wie das Licht der Welt, da es von der Größe des Herrn kündete. Der wahre Glanz der frühen Herrschaftsjahre Salomos lag nicht in seiner überragenden Weisheit, nicht in seinem unvorstellbaren Reichtum, nicht in seiner weitreichenden Macht und nicht in seinem Ruhm, sondern in der Ehre, die er dem Namen des Gottes Israels durch den weisen Gebrauch der himmlischen Gaben darbrachte. PK 20.3
Als nun die Jahre verstrichen und sein Ruhm wuchs, ehrte Salomo Gott stets dadurch, daß er seine geistigen und geistlichen Kräfte zu vermehren trachtete und daß er andere an den erhaltenen Segnungen teilnehmen ließ. Keiner wußte so gut wie er, daß er nur durch die Gunst des Herrn in den Besitz von Macht, Weisheit und Verstand gelangt war und daß er diese Gaben erhalten hatte, damit die Welt durch ihn den König aller Könige erkennen sollte. PK 20.4
Salomo beschäftigte sich besonders mit der Geschichte der Natur; seine Forschungen beschränkten sich jedoch nicht auf ein bestimmtes Wissensgebiet. Durch fleißiges Studium aller erschaffenen Dinge, der belebten wie der unbelebten, gewann er einen immer klareren Begriff von ihrem Schöpfer. Die Kräfte der Natur, das Mineral- und Tierreich, jeder Baum, jeder Strauch und jede Blume waren für ihn Offenbarungen der Weisheit Gottes, und je mehr er zu lernen suchte, desto beständiger nahm seine Gotteserkenntnis sowie seine Liebe zu Gott zu. PK 20.5
Die Weisheit, die Salomo von Gott erhalten hatte, fand ihren Ausdruck in Lobgesängen und vielen Sprüchen. “Er dichtete dreitausend Sprüche und tausendundfünf Lieder. Er dichtete von den Bäumen, von der Zeder an auf dem Libanon bis zum Ysop, der aus der Wand wächst. Auch dichtete er von den Tieren des Landes, von Vögeln, vom Gewürm und von Fischen.” 1.Könige 5,12.13. PK 21.1
In den Sprüchen Salomos werden Grundsätze heiligen Lebens und hohen Strebens dargelegt; Grundsätze, die dem Himmel entstammen und zu einem gottähnlichen Leben führen; Grundsätze, die jede Tat unseres Lebens bestimmen sollten. Dank der weiten Verbreitung dieser Grundsätze und der Anerkennung, daß Gott aller Preis und alle Ehre gebührt, waren die ersten Jahre der Herrschaft Salomos eine Zeit sittlichen Aufstiegs und wirtschaftlichen Gedeihens. Er schrieb: PK 21.2
“Wohl dem Menschen, der Weisheit erlangt, und dem Menschen, der Einsicht gewinnt! Denn es ist besser, sie zu erwerben, als Silber, und ihr Ertrag ist besser als Gold. Sie ist edler als Perlen, und alles, was du wünschen magst, ist ihr nicht zu vergleichen. Langes Leben ist in ihrer rechten Hand, in ihrer Linken ist Reichtum und Ehre. Ihre Wege sind liebliche Wege, und alle ihre Steige sind Frieden. Sie ist ein Baum des Lebens allen, die sie ergreifen, und glücklich sind, die sie festhalten.” Sprüche 3,13-18. “Der Weisheit Anfang ist: Erwirb Weisheit, und erwirb Einsicht mit allem, was du hast.” Sprüche 4,7. “Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang.” Psalm 111,10. “Die Furcht des Herrn haßt das Arge; Hoffart und Hochmut, bösem Wandel und falschen Lippen bin ich feind.” Sprüche 8,13. PK 21.3
Hätte Salomo doch diese wunderbaren Worte der Weisheit in seinen späteren Jahren beachtet! Er hatte erklärt: “Der Weisen Mund breitet Einsicht aus.” Sprüche 15,7. Er selbst hatte die Könige der Erde unterwiesen, dem König der Könige das Lob darzubringen, das sie ihm als irdischem Herrscher zu spenden wünschten. Wäre er doch selber nie dahin gekommen, mit “falschen Lippen”, in “Hoffart und Hochmut” die Ehre für sich zu nehmen, die Gott allein gebührte! PK 21.4