Propheten und Könige
Kapitel 56: Unterwiesen im Gesetz des Herrn
Auf der Grundlage von Nehemia 8; Nehemia 9; Nehemia 10.
Es war zur Zeit des Festes des Blasens. Viele hatten sich in Jerusalem versammelt. Das Bild, das sich darbot, war traurig. Gewiß, die Mauer Jerusalems war wieder aufgebaut und die Tore waren eingesetzt worden, doch ein großer Teil der Stadt lag noch immer in Trümmern. PK 466.1
Auf einer hölzernen Tribüne, die in einer der breitesten Straßen aufgerichtet worden und auf jeder Seite von den traurigen Erinnerungen an Judas vergangenen Glanz umgeben war, stand Esra, nun ein betagter Mann. Rechts und links von ihm waren seine levitischen Brüder versammelt. Wenn sie von der Plattform hinunterschauten, gingen ihre Augen über ein Meer von Köpfen. Aus dem ganzen umliegenden Land hatten sich die Kinder des Bundes versammelt. “Und Esra lobte den Herrn, den großen Gott. Und alles Volk antwortete: Amen! Amen! und sie ... neigten sich und beteten den Herrn an mit dem Antlitz zur Erde.” Nehemia 8,6. PK 466.2
Doch sogar hier war die Sünde Israels offenkundig. Durch die Mischehen von Israeliten mit Angehörigen anderer Völker war die hebräische Sprache verderbt worden. Die Sprecher mußten daher große Sorgfalt anwenden, um das Gesetz in der Sprache des Volkes so zu erklären, daß es von allen verstanden wurde. Einige Priester und Leviten erläuterten gemeinsam mit Esra zusammen die Grundsätze des Gesetzes. “Sie legten das Buch des Gesetzes Gottes klar und verständlich aus, so daß man verstand, was gelesen worden war.” Nehemia 8,8. PK 466.3
“Und die Ohren des ganzen Volkes waren dem Gesetzbuch zugekehrt.” Nehemia 8,3. Aufmerksam und ehrfürchtig lauschten sie den Worten des Höchsten. Als man das Gesetz erklärte, wurden sie von ihrer Schuld überzeugt und beklagten ihre Übertretungen. Doch dieser Tag war ein Fest, ein Tag der Freude, eine heilige Zusammenkunft, ein Tag, den das Volk nach des Herrn Willen fröhlich und freudig begehen sollte. Im Hinblick darauf wurden sie aufgefordert, ihren Schmerz zu zügeln und sich wegen Gottes großer Barmherzigkeit ihnen gegenüber zu freuen. “Dieser Tag ist heilig dem Herrn, eurem Gott”, sagte Nehemia; “darum seid nicht traurig und weinet nicht ... Geht hin und eßt fette Speisen und trinkt süße Getränke und sendet davon auch denen, die nichts für sich bereitet haben; denn dieser Tag ist heilig unserm Herrn. Und seid nicht bekümmert; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.” Nehemia 8,9.10. PK 466.4
Der erste Teil des Tages war Gottesdiensten gewidmet, und den übrigen Teil der Zeit verbrachte das Volk damit, die Segnungen Gottes dankbar aufzuzählen und die reichen Gaben zu genießen, die er gespendet hatte. Auch den Armen, die nichts hatten, das sie zubereiten konnten, wurde ihr Anteil gesandt. Große Freude herrschte, weil die Worte des Gesetzes vorgelesen und verstanden worden waren. PK 467.1
Auch am folgenden Tag wurde das Gesetz vorgelesen und erklärt. Und zur festgesetzten Zeit — am zehnten Tag des siebenten Monats — führte man nach dem Befehl Gottes die feierlichen Handlungen des Großen Versöhnungstages durch. PK 467.2
Vom Fünfzehnten bis zum Zweiundzwanzigsten desselben Monats feierten das Volk und seine Oberen wieder einmal das Laubhüttenfest. Es wurde ausgerufen “in allen ihren Städten und in Jerusalem ...: Geht hinaus auf die Berge und holt Ölzweige, Balsamzweige, Myrtenzweige, Palmzweige und Zweige von Laubbäumen, daß man Laubhütten mache, wie es geschrieben steht! Und das Volk ging hinaus und holte sie und machte sich Laubhütten, ein jeder auf seinem Dach und in seinem Hof und in den Vorhöfen am Hause Gottes ... Und es war eine sehr große Freude. Und es wurde jeden Tag aus dem Buch des Gesetzes Gottes vorgelesen, vom ersten Tag an bis zum letzten.” Nehemia 8,15-18. PK 467.3
Während die Juden Tag für Tag den Worten des Gesetzes gelauscht hatten, waren ihnen ihre Übertretungen und die Sünden der vergangenen Generationen ihres Volkes zum Bewußtsein gekommen. Sie erkannten, daß Gott seine schützende Fürsorge von ihnen abgezogen hatte und daß Abrahams Kinder in fremde Länder zerstreut worden waren, weil sie von dem Herrn abgewichen waren. Und sie entschlossen sich, ihn um Gnade zu bitten und zu geloben, nach seinen Geboten zu leben. Ehe sie jenen feierlichen Gottesdienst begannen, der am zweiten Tag nach dem Ende des Laubhüttenfestes stattfand, trennten sie sich von den Heiden unter ihnen. PK 467.4
Während sich das Volk vor dem Herrn niederwarf, seine Sünden bekannte und um Vergebung bat, ermutigten es seine Führer, daran zu glauben, daß Gott ihre Gebete gemäß seiner Verheißung hörte. Sie sollten aber nicht nur klagen, weinen und bereuen, sondern auch glauben, daß Gott ihnen vergebe. Ihren Glauben sollten sie dadurch zeigen, daß sie des Herrn barmherzige Taten erzählten und ihn für seine Güte priesen. “Auf!” sagten diese Lehrer, “lobet den Herrn, euren Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit!” Nehemia 9,5. PK 468.1
Darauf stieg aus der versammelten Menge, die dastand und ihre Hände gen Himmel streckte, das Lied empor: PK 468.2
“Man lobe deinen herrlichen Namen,
der erhaben ist über allen Preis und Ruhm!
Herr, du bist’s allein,
du hast gemacht den Himmel und aller Himmel Himmel
mit ihrem ganzen Heer,
die Erde und alles, was darauf ist,
die Meere und alles, was darinnen ist;
du machst alles lebendig,
und das himmlische Heer betet dich an.” Nehemia 9,5.6.
PK 468.3
Nach dem Lobgesang erzählten die Leiter der Versammlung die Geschichte Israels und zeigten an ihr, wie groß Gottes Güte seinen Kindern gegenüber und wie groß ihre Undankbarkeit gewesen war. Darauf verpflichtete sich die ganze Gemeinde dazu, alle Gebote Gottes zu halten. Sie hatten Strafen für ihre Sünden erlitten; nun anerkannten sie, daß Gott gerecht an ihnen gehandelt hatte, und gelobten, seinem Gesetz zu gehorchen. Damit dies “eine feste Abmachung” (Nehemia 10,1) bleibe und sie dauerhaft aufbewahrt werde zur Erinnerung an die Verpflichtung, die die Juden auf sich genommen hatten, wurde sie niedergeschrieben und von den Priestern, Leviten und Fürsten unterzeichnet. Ihre Aufgabe sollte sein, an die Pflicht zu erinnern und als Schranke gegen die Versuchung zu dienen. Das Volk legte einen feierlichen Eid ab, “zu wandeln im Gesetz Gottes, das durch Mose, den Knecht Gottes, gegeben ist, und alle Gebote, Rechte und Satzungen des Herrn, unseres Herrschers, zu halten und zu tun”. Nehemia 10,30. Der damals geleistete Schwur schloß das Versprechen ein, keine Mischehen mit den Bewohnern des Landes einzugehen. PK 468.4
Ehe der Fastentag endete, bekundete das Volk seine Entschlossenheit, zum Herrn zurückzukehren, ferner dadurch, daß es sich verpflichtete, von der Entweihung des Sabbats abzulassen. Nehemia setzte bei dieser Gelegenheit nicht wie später seine Autorität ein, um die heidnischen Händler an ihren Besuchen in Jerusalem zu hindern. Doch in dem Bestreben, das Volk davor zu bewahren, daß es in Versuchung fiel, verpflichtete er es durch einen feierlichen Bund, das Sabbatgebot nicht durch Einkäufe bei diesen Händlern zu übertreten. Er hoffte, daß dies die Händler entmutigen und dem Handel ein Ende setzen würde. PK 469.1
Außerdem wurden Vorkehrungen zur Förderung der öffentlichen Gottesdienste getroffen. Die Gemeinde verpflichtete sich, zusätzlich zum Zehnten jährlich eine festgesetzte Summe für den Dienst des Heiligtums aufzubringen. “Wir warfen auch das Los ...”, überliefert Nehemia. “Wir verpflichteten uns, auch jährlich die Erstlinge unsres Landes und die Erstlinge aller unsrer Früchte von allen Bäumen, von Jahr zu Jahr, zum Hause des Herrn zu bringen; auch die Erstgeburt unsrer Söhne und unsres Viehes, wie es im Gesetz geschrieben steht, und die Erstlinge unsrer Rinder und unsrer Schafe.” Nehemia 10,35-37 (Schlachter). PK 469.2
Die Israeliten waren mit tiefem Schmerz über ihre Abtrünnigkeit zu Gott zurückgekehrt. Unter Trauern und Klagen hatten sie ihre Sünden eingestanden. Sie hatten anerkannt, daß Gott gerecht mit ihnen verfahren war, und sich verpflichtet, seinem Gesetz zu gehorchen. Nun mußten sie ihr Vertrauen zu Gottes Verheißungen bekunden. Gott hatte ihre Reue angenommen. Nun sollten sie sich freuen in der Gewißheit, daß ihre Sünden vergeben waren und sie wieder in Gottes Gunst standen. PK 469.3
Nehemias Bemühungen, die Anbetung des wahren Gottes wiedereinzuführen, waren von Erfolg gekrönt. Solange das Volk dem geleisteten Eid treu blieb und dem Worte Gottes gehorchte, würde der Herr seine Verheißung erfüllen, indem er es mit reichen Segnungen überschüttete. PK 469.4
Für Menschen, die sich ihrer Sünde bewußt sind und von einem Gefühl ihrer Unwürdigkeit niedergedrückt werden, enthält dieser Bericht Lehren des Glaubens und der Ermutigung. Die Bibel stellt die Folgen des Abfalls Israels wahrheitsgetreu dar; sie schildert jedoch auch die tiefe Demütigung und Reue, die ernste Hingabe und das großherzige Opfer, welche die Zeit ihrer Rückkehr zu Gott kennzeichneten. PK 470.1
Jede echte Hinwendung zum Herrn bringt dem Leben bleibende Freude. Wenn ein Sünder sich dem Einfluß des Heiligen Geistes überläßt, erkennt er seine eigene Schuld und Befleckung im Gegensatz zur Heiligkeit des Einen, der die Herzen wahrhaft erforscht. Er sieht sich als Übertreter verurteilt. Aber er braucht deshalb nicht der Verzweiflung Raum zu geben, denn seine Begnadigung ist schon gesichert. Er darf frohlocken in dem Bewußtsein, daß seine Sünden vergeben sind und daß ein verzeihender himmlischer Vater ihn liebt. Es gereicht Gott zum Ruhme, sündige, reuige Menschen in seine Liebesarme zu schließen, ihre Wunden zu verbinden, sie von der Sünde zu reinigen und sie mit den Kleidern des Heils zu umhüllen. PK 470.2