Der große Kampf
Kapitel 9: Der Reformator der Schweiz
In der Wahl der Werkzeuge für eine Reform der Kirche zeigt sich der gleiche göttliche Plan wie bei der Gründung der Gemeinde. Der himmlische Lehrer ging an den Großen der Erde, an den Angesehenen und Reichen, die gewohnt waren, als Führer des Volkes Lob und Huldigung zu empfangen, vorüber. Diese waren so stolz und vertrauten so sehr auf ihre vielgerühmte Überlegenheit, daß sie nicht umgeformt werden konnten, um mit ihren Mitmenschen zu fühlen und Mitarbeiter des demütigen Nazareners zu werden. An die ungelehrten, schwer arbeitenden Fischer aus Galiläa erging der Ruf: “Folget mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen!” Matthäus 4,19. Diese Jünger waren demütig und ließen sich belehren. Je weniger sie von den falschen Lehren ihrer Zeit beeinflußt waren, desto erfolgreicher konnte Christus sie unterrichten und für seinen Dienst heranbilden. So war es auch in den Tagen der großen Reformation. Die leitenden Reformatoren waren von geringer Herkunft — Männer, die unter ihren Zeitgenossen am wenigsten von Dünkel und vom Einfluß der Scheinfrömmigkeit und des Priestertrugs belastet waren. Es liegt im Plan Gottes, sich bescheidener Mitarbeiter zu bedienen, um große Erfolge zu erreichen. Dann werden Ruhm und Ehre nicht den Menschen zufallen, sondern dem, der durch sie das Wollen und das Vollbringen nach seinem Wohlgefallen wirkt. GK 171.1
Nur wenige Wochen nach Luthers Geburt in der Hütte eines sächsischen Bergmannes wurde Ulrich Zwingli als Sohn eines Landamtmannes in den Alpen geboren. Zwinglis Umgebung in seiner Kindheit und seine erste Erziehung waren eine gute Vorbereitung für seine künftige Aufgabe. Inmitten einer Umgebung von natürlicher Pracht, Schönheit und Erhabenheit erzogen, wurde sein Gemüt frühzeitig von einem Gefühl der Größe, Macht und Majestät Gottes erfüllt. Die Berichte von den auf seinen heimatlichen Bergen vollbrachten tapferen Taten entzündete seine jugendliche Sehnsucht. Zu den Füßen seiner frommen Großmutter lauschte er den köstlichen Erzählungen aus der Bibel, die sie aus den Legenden und Überlieferungen der Kirche ausgewählt hatte. Mit tiefer Anteilnahme hörte er von den großen Taten der Erzväter und Propheten, von den Hirten, die auf den Hügeln Palästinas ihre Herden geweidet hatten, wo Engel mit ihnen von dem Kindlein zu Bethlehem und dem Mann von Golgatha redeten. GK 171.2
Gleich Hans Luther wollte auch Zwinglis Vater seinem Sohn eine gute Ausbildung mitgeben. Der Knabe wurde sehr bald aus seinem heimatlichen Tal fortgeschickt. Sein Verstand entwickelte sich rasch, und bald tauchte die Frage auf, wo man fähige Lehrer für ihn finden könne. Mit dreizehn Jahren ging er nach Bern, wo sich damals die hervorragendste Schule der Schweiz befand. Hier jedoch erstand eine Gefahr, die sein vielversprechendes Leben zu vernichten drohte. Die Mönche bemühten sich beharrlich, ihn zum Eintritt in ein Kloster zu bewegen. Dominikaner und Franziskaner wetteiferten um die Gunst des Volkes, die sie durch den glänzenden Schmuck ihrer Kirchen, das Gepränge ihrer Zeremonien, den Reiz berühmter Reliquien und Wunder wirkender Bilder zu erreichen suchten. GK 172.1
Die Dominikaner von Bern erkannten, daß sie sich Gewinn und Ehre verschaffen würden, wenn sie diesen begabten jungen Studenten gewönnen. Seine außerordentliche Jugend, seine natürliche Fähigkeit als Redner und Schreiber sowie seine Begabung für Musik und Dichtkunst wären wirksamer, das Volk zu ihren Gottesdiensten herbeizuziehen und die Einkünfte ihres Ordens zu mehren, als all ihr Prunk und Aufwand. Durch Täuschung und Schmeichelei versuchten sie Zwingli zu verleiten, in ihr Kloster einzutreten. Luther hatte sich während seiner Studienzeit in einer Klosterzelle vergraben und wäre für die Welt verloren gewesen, hätte nicht Gottes Vorsehung ihn daraus befreit. Zwingli geriet nicht in diese Gefahr. Die Vorsehung fügte es, daß sein Vater von den Absichten der Mönche erfuhr. Da er nicht gewillt war, seinen Sohn dem müßigen und nutzlosen Leben der Mönche frönen zu lassen, und außerdem erkannte, daß dessen zukünftige Brauchbarkeit auf dem Spiel stand, wies er ihn an, unverzüglich nach Hause zurückzukehren. GK 172.2
Der Jüngling gehorchte; doch blieb er nicht lange in seinem heimatlichen Tal, sondern nahm bald seine Studien wieder auf und begab sich wenig später nach Basel. Hier hörte Zwingli zum erstenmal das Evangelium von der freien Gnade Gottes. Wyttenbach, ein Lehrer der alten Sprachen, war durch das Studium des Griechischen und Hebräischen zur Heiligen Schrift geführt worden. Durch ihn wurden seinen Studenten “gewisse Samenkörner mitgeteilt und der Antrieb geweckt, ohne weitere Rücksicht auf die sophistischen Torheiten dem Lesen der Schrift selbst sich zuzuwenden”.1 “Er widerlegte den päpstlichen Ablaß und die Verdienstlichkeit der sogenannten guten Werke und behauptete, der Tod Christi sei die einzige Genugtuung für unsere Sünden.”1 Auf Zwingli wirkten diese Worte wie der erste Lichtstrahl, mit dem die Morgendämmerung anbricht. GK 173.1
Bald wurde Zwingli von Basel abberufen, um seine Lebensaufgabe anzutreten. Sein erstes Arbeitsfeld war eine Pfarrei in den Alpen, nicht weit von seinem heimatlichen Tal. Nachdem Zwingli die Priesterweihe empfangen hatte, widmete er sich ganz der Erforschung der göttlichen Wahrheit, “denn er wußte”, fügte Myconius hinzu, “wie vieles derjenige zu wissen nötig hat, welchem das Amt anvertraut ist, die Herde Christi zu lehren”.1 GK 173.2
Je mehr der junge Priester in der Heiligen Schrift forschte, desto deutlicher sah er den Gegensatz zwischen ihren Wahrheiten und den Irrlehren Roms. Er unterwarf sich der Bibel als dem Worte Gottes, der allein hinreichenden, unfehlbaren Richtschnur. Er erkannte, daß sie sich selbst auslegen müsse und wagte es deshalb nicht, die Heilige Schrift auszulegen, um eine angenommene Ansicht oder Lehre zu beweisen, sondern hielt es für seine Pflicht, ihre unmittelbaren, deutlichen Aussagen zu erforschen. Er bediente sich jedes Hilfsmittels, um ein volles und richtiges Verständnis ihres Sinnes zu erlangen und erflehte den Beistand des Heiligen Geistes, der nach seiner Überzeugung allen, die ihn aufrichtig und unter Gebet suchen, das göttliche Wort offenbart. GK 173.3
Zwingli schrieb hierüber: “Die Schrift ist von Gott und nicht von Menschen hergekommen” 2.Petrus 1,21. “Eben der Gott, der ihn erleuchtet, der wird auch dir zu verstehen geben, daß seine Rede von Gott kommt.” — “Das Wort Gottes ist gewiß, fehlt nicht, es ist klar, läßt nicht in der Finsternis irren, es lehrt sich selbst, tut sich selbst auf und bescheint die menschliche Seele mit allem Heil und Gnaden, tröstet sie in Gott, demütigt sie, so daß sie selbst verliert, ja verwirft und faßt Gott in sich, in dem lebt sie, danach fechtet sie.”1 Zwingli hatte die Wahrheit dieser Worte an sich selbst erfahren. Später spricht er noch einmal von dieser Erfahrung: “Als ich vor sieben oder acht Jahren anhub, mich ganz an die Heilige Schrift zu lassen, wollte mir die Philosophie und Theologie der Zänker immerdar ihre Einwürfe machen. Da kam ich zuletzt dahin, daß ich dachte (doch mit Schrift und Wort Gottes dazu geleitet): Du mußt das alles lassen liegen und die Meinung Gottes lauter aus seinem eigenen einfältigen Wort lernen. Da hub ich an, Gott um sein Licht zu bitten, und fing mir an, die Schrift viel heller zu werden.”1 GK 174.1
Die Lehre, die Zwingli verkündigte, hatte er nicht von Luther empfangen: es war die Lehre Christi. “Predigt Luther Christus”, schrieb der schweizerische Reformator, “so tut er eben dasselbe, was ich tue; wiewohl, Gott sei gelobt, durch ihn eine unzählbare Welt mehr als durch mich und andere zu Gott geführt werden. Dennoch will ich keinen anderen Namen tragen als den meines Hauptmanns Christi, dessen Kriegsmann ich bin; der wird mir Amt und Sold geben, so viel ihm gut dünkt.” — “Dennoch bezeuge ich vor Gott und allen Menschen, daß ich keinen Buchstaben alle Tage meines Lebens Luther geschrieben habe, noch er mir, noch habe ich solches veranstaltet. Solches habe ich nicht unterlassen aus Menschenfurcht, sondern weil ich dadurch habe allen Menschen offenbaren wollen, wie einhellig der Geist Gottes sei, daß wir so weit von einander wohnen, dennoch so einhellig die Lehre Christi lehren, obwohl ich ihm nicht anzuzählen bin, denn jeder von uns tut, soviel ihm Gott weist.”1 GK 174.2
Zwingli wurde 1516 eine Pfarrstelle am Kloster zu Einsiedeln angeboten. Hier erhielt er einen klareren Einblick in die Verderbtheit Roms. Er übte einen reformerischen Einfluß aus, der sich weit über seine heimatlichen Alpen hinaus fühlbar machen sollte. Ein angeblich Wunder wirkendes Gnadenbild der Jungfrau Maria gehörte zu den Hauptanziehungspunkten in Einsiedeln. Über der Eingangspforte des Klosters prangte die Inschrift: “Hier findet man volle Vergebung der Sünden.”1 Das ganze Jahr hindurch zogen Pilger zum Altar der Maria. Doch einmal im Jahr kamen sie in großer Zahl aus allen Teilen der Schweiz und auch aus Deutschland und Frankreich. Dieser Anblick schmerzte Zwingli sehr, und er benutzte solche Gelegenheiten, ihnen die herrliche Freiheit des Evangeliums zu verkündigen. GK 174.3
Die Vergebung der Sünden und das ewige Leben seien “bei Christo und nicht bei der heiligen Jungfrau zu suchen; der Ablaß, die Wallfahrt und Gelübde, die Geschenke, die man den Heiligen machte, haben wenig Wert. Gottes Gnade und Hilfe sei allen Orten gleich nahe und er höre das Gebet anderswo nicht weniger als zu Einsiedeln”. — “Wir ehren Gott mit Plappergebeten, mit auswendigem Schein der Kutten, mit weißem Geschleife, mit säuberlich geschorenen Glatzen, mit langen, schön gefalteten Röcken, mit wohlvergüldeten Mauleseln.” — “Aber das Herz ist fern von Gott.” — “Christus, der sich einmal für uns geopfert hat, ist ein in Ewigkeit währendes und bezahlendes Opfer für die Sünden aller Gläubigen.”1 GK 175.1
Nicht allen seiner vielen Zuhörer war diese Lehre willkommen. Manche zeigten sich sehr enttäuscht, daß ihre lange und mühsame Pilgerreise vergebens unternommen worden war. Sie konnten die ihnen in Christus frei angebotene Vergebung nicht fassen. Sie waren zufrieden mit dem alten Weg zum Himmel, den Rom ihnen vorgezeichnet hatte. Die Schwierigkeit, nach etwas Besserem zu suchen, schreckte sie zurück. Ihre Seligkeit Papst und Priestern anzuvertrauen, fiel ihnen leichter, als nach Reinheit des Herzens zu trachten. GK 175.2
Andere aber freuten sich über die frohe Kunde der Erlösung in Christus. Ihnen hatten die von Rom auferlegten Bürden keinen Seelenfrieden gebracht, und gläubig nahmen sie des Heilandes Blut zu ihrer Versöhnung an. Sie kehrten in ihre Heimat zurück, um anderen das köstliche Licht zu offenbaren, das sie empfangen hatten. Auf diese Weise pflanzte sich die Wahrheit von Weiler zu Weiler von Stadt zu Stadt fort; die Zahl der Pilger zu dem Altar der Jungfrau dagegen nahm ab, die Gaben verringerten sich, und somit auch Zwinglis Gehalt, das aus diesen Einkünften bestritten werden mußte. Trotz alledem verursachte es ihm nur Freude zu sehen, daß die Macht des Fanatismus und Aberglaubens auch hier gebrochen wurde. GK 175.3
Seine Vorgesetzten wußten um sein Bemühen. Er drang in sie, die Mißstände abzustellen; aber sie schritten nicht ein, sondern hofften, ihn durch Schmeichelei für ihre Sache zu gewinnen. Unterdessen schlug die Wahrheit in den Herzen des Volkes Wurzel. Zwinglis Wirken in Einsiedeln hatte ihn für ein größeres Feld vorbereitet, das er bald betreten sollte. Im Dezember 1518 wurde er zum Leutpriester am Großmünster zu Zürich berufen. Zürich war damals schon die bedeutendste Stadt der schweizerischen Genossenschaft, so daß der dort ausgeübte Einfluß weithin fühlbar wurde. Die Domherren, auf deren Einladung Zwingli nach Zürich gekommen war, schärften ihm, da sie Neuerungen befürchteten, bei seiner Amtsübernahme folgende Hauptpflichten ein: GK 176.1
“Du mußt nicht versäumen, für die Einkünfte des Domkapitels zu sorgen und auch das Geringste nicht verachten. Ermahne die Gläubigen von der Kanzel und dem Beichtstuhle, alle Abgaben und Zehnten zu entrichten und durch Gaben ihre Anhänglichkeit an die Kirche zu bewähren. Auch die Einkünfte von Kranken, von Opfern und jeder andern kirchlichen Handlung mußt du zu mehren suchen. Auch gehört zu deinen Pflichten die Verwaltung des Sakramentes, die Predigt und die Seelsorge. In mancher Hinsicht, besonders in der Predigt, kannst du dich durch einen Vikar ersetzen lassen. Die Sakramente brauchst du nur den Vornehmen, wenn sie dich fordern, zu reichen; du darfst es sonst ohne Unterschied der Personen nicht tun.”1 GK 176.2
Ruhig hörte Zwingli diesem Auftrag zu, drückte auch seinen gebührenden Dank aus für die Ehre, zu einem so wichtigen Amt berufen worden zu sein, versicherte, alles treu und redlich ausführen zu wollen, fuhr dann aber fort, “von der Geschichte Christi, des Erlösers, wie sie der Evangelist Matthäus beschrieben hat, sei wohl schon der Titel länger bekannt, aber deren Vortrefflichkeit sei schon lange Zeit nicht ohne Verlust des göttlichen Ruhmes und der Seelen verborgen geblieben. Dasselbe sei nicht nach menschlichem Gutdünken zu erklären, sondern im Sinne des Geistes mit sorgfältigem Vergleich und innigem Gebet”,1 “alles zur Ehre Gottes und seines einigen Sohnes und dem rechten Heil der Seelen und Unterrichtung der frommen und biedern Leute.”1 Obwohl etliche der Domherren diesen Plan nicht billigten und ihn davon abzubringen suchten, blieb Zwingli doch standhaft und erklärte, so zu predigen sei nicht neu, sondern es sei die alte und ursprüngliche Predigtweise, wie sie die Kirche in ihrem reineren Zustand geübt habe. GK 176.3
Da das Interesse für die von ihm gelehrten Wahrheiten bereits geweckt war, strömte das Volk in großer Zahl zu seinen Predigten. Unter seinen Zuhörern befanden sich viele, die schon lange keine Gottesdienste besucht hatten. Er begann sein Amt mit dem ersten Kapitel des Matthäusbriefes und erklärte, wie ein Zuhörer dieser ersten Predigt berichtet, “das Evangelium so köstlich durch alle Propheten und Patriarchen, desgleichen auch nach aller Urteil nie gehört worden war”.1 Wie in Einsiedeln, so stellte er auch hier das Wort Gottes als die alleinige Autorität und den Tod Christi als das einzige hinreichende Opfer dar. Seine Hauptaufgabe sah er darin, “Christus aus der Quelle zu predigen und den reinen Christus in die Herzen einzupflanzen”.1 Alle Stände des Volkes, Ratsherren und Gelehrte, Handwerker und Bauern, scharten sich um diesen Prediger. Mit tiefer Anteilnahme lauschten sie seinen Worten. Er verkündigte nicht nur das Anerbieten der freien Erlösung, sondern rügte auch furchtlos die Übelstände und Verderbnisse seiner Zeit. Viele priesen Gott bei ihrer Rückkehr aus dem Großmünster und sprachen: “Dieser ist ein rechter Prediger der Wahrheit, der wird sagen, wie die Sachen stehn und als ein Mose uns aus Ägypten führen.”1 GK 177.1
Seine Bemühungen wurden zuerst mit großer Begeisterung aufgenommen; doch mit der Zeit regte sich immer häufiger Widerspruch. Die Mönche versuchten, sein Werk zu hindern und seine Lehren zu verurteilen. Viele bestürmten ihn mit Hohn und Spott; andere drohten und schmähten. Zwingli trug alles in christlicher Geduld und sagte: “Wenn man die Bösen zu Christus führen will, so muß man bei manchem die Augen zudrücken.”1 GK 177.2
Um diese Zeit kam ein neues Mittel hinzu, um die Erneuerung der Kirche zu fördern. Der Humanist Beatus Rhenanus in Basel, ein Freund des evangelischen Glaubens sandte einen gewissen Lucian mit etlichen Büchern Luthers nach Zürich. Er sah in der Verbreitung solcher Bücher ein mächtiges Mittel zur Förderung des Lichtes und schrieb Zwingli: “Wenn nun dieser Lucian Klugheit und Geschmeidigkeit genügend zu haben scheint, so muntere ihn auf, daß er Luthers Schriften, vor allem die für Laien gedruckte Auslegung des Herrn Gebets, in allen Städten, Flecken, Dörfern, auch von Haus zu Haus verbreite. Je mehr man ihn kennt, desto mehr Absatz hat er. Doch soll er sich hüten, gleichzeitig andere Bücher zu verkaufen, denn je mehr er gezwungen ist, nur diese anzupreisen, eine desto größere Menge solcher Bücher verkauft er.”1 Auf diese Weise fand das Licht Eingang in die Herzen vieler Menschen. GK 178.1
Doch wenn Gott sich anschickt, die Fesseln der Unwissenheit und des Aberglaubens zu sprengen, dann wirkt auch Satan mit größter Macht, die Menschen in Finsternis zu hüllen und ihre Bande noch fester zu schmieden. In verschiedenen Ländern erhoben sich Männer, um den Menschen die freie Vergebung und Rechtfertigung durch das Blut Christi zu verkündigen. Rom aber begann mit erneuerter Tatkraft in der ganzen Christenheit seinen Handel, Vergebung gegen Geld feilzubieten. GK 178.2
Jede Sünde hatte ihren Preis, und den Menschen wurde volle Freiheit für grobe Vergehen gewährt, wenn damit nur der Schatzkasten der Kirche wohl zu füllen war. So schritten beide Bewegungen voran, die eine bot Freisprechung von Sünden durch Geld, die andere Vergebung durch Christus. Rom erlaubte die Sünde und machte sie zu einer Quelle seiner Einnahmen; die Reformer verurteilten die Sünde und wiesen auf Christus hin als den einzigen Versöhner und Befreier. GK 178.3
In Deutschland war der Verkauf von Ablässen den Dominikanermönchen anvertraut worden, wobei Tetzel eine berüchtigte Rolle spielte. In der Schweiz lag der Handel in den Händen der Franziskaner und wurde von Samson, einem italienischen Mönch, geleitet. Samson hatte der Kirche bereits gute Dienste geleistet, als von ihm in Deutschland und in der Schweiz ungeheure Summen für die Schatzkammer des Papstes gesammelt worden waren. Jetzt durchreiste er die Schweiz unter großem Zuzug, beraubte die armen Landsleute ihres dürftigen Einkommens und erpreßte Geschenke von den wohlhabenden Klassen. Doch der Einfluß der Reformbestrebungen machte sich bereits bemerkbar, und der Ablaßhandel wurde, wenn ihm auch nicht völlig Einhalt geboten werden konnte, sehr beschnitten, Zwingli weilte noch in Einsiedeln, als Samson, kurz nachdem er in die Schweiz gekommen war, den Ablaß in einem benachbarten Ort anbot. Kaum hatte er von dessen Kommen gehört, als er sich ihm auch schon widersetzte. Die beiden trafen sich nicht, doch stellte Zwingli die Anmaßungen des Mönches mit solchem Erfolg bloß, daß Samson die Gegend verlassen mußte. GK 178.4
Auch in Zürich predigte Zwingli eifrig gegen den Ablaßhandel, und als Samson sich später dieser Stadt näherte, bedeutete ihm ein Ratsbote, er solle weiterziehen. Schließlich gelang es ihm, durch eine List sich Eingang zu verschaffen; er wurde jedoch fortgeschickt, ohne einen einzigen Ablaß verkauft zu haben, und bald darauf verließ er die Schweiz.1 GK 179.1
Das Auftreten der Pest, des sogenannten “schwarzen Todes”, die 1519 die Schweiz heimsuchte, verlieh den Erneuerungsbestrebungen starken Auftrieb. Als die Menschen auf diese Weise dem Verderben unmittelbar gegenübergestellt wurden, sahen viele ein, wie nichtig und wertlos die Ablässe waren, die sie kürzlich erst gekauft hatten, und sie sehnten sich nach einem sicheren Grund für ihren Glauben. In Zürich wurde auch Zwingli aufs Krankenlager geworfen. Er lag so schwer danieder, daß man auf seine Genesung nicht mehr zu hoffen wagte und das Gerücht sich verbreitete, er sei tot. In jener schweren Stunde der Prüfung blieben jedoch seine Hoffnungen und sein Mut unerschüttert. Im Glauben blickte er auf das Kreuz von Golgatha und vertraute auf die allgenügsame Versöhnung für die Sünde. Als er von der Pforte des Todes zurückgekehrt war, predigte er das Evangelium mit größerer Kraft als je zuvor, und seine Worte übten eine ungewöhnliche Macht aus. Das Volk begrüßte freudig seinen verehrten Seelsorger, der ihm wiedergeschenkt war. Mit der Besorgung der Kranken und Sterbenden selbst beschäftigt gewesen, fühlte es wie nie zuvor den Wert des Evangeliums. GK 179.2
Zwingli war zu einem klareren Verständnis der Evangeliumswahrheiten gelangt und hatte an sich selbst deren neugestaltende Macht völliger erfahren. Der Sündenfall und der Erlösungsplan waren die Themen, mit denen er sich beschäftigte. Er schrieb: “In Adam sind wir alle tot und in Verderbnis und Verdammnis versunken”, aber Christus ist “wahrer Mensch gleichwie wahrer Gott und ein ewig währendes Gut”. “Sein Leiden ist ewig gut und fruchtbar, tut der göttlichen Gerechtigkeit in Ewigkeit für die Sünden aller Menschen genug, die sich sicher und gläubig darauf verlassen.” Doch lehrte er deutlich, daß es den Menschen unter der Gnade Christi nicht freistehe, weiterhin zu sündigen. “Siehe, wo der wahre Glaube ist (der von der Liebe nicht geschieden), da ist Gott. Wo aber Gott ist, da geschieht nichts Arges ... da fehlt es nicht an guten Werken.”1 GK 180.1
Zwinglis Predigten erregten solches Aufsehen, daß das Großmünster die Menge nicht fassen konnte, die ihm zuhören wollte. Nach und nach, wie sie es aufnehmen konnten, öffnete er seinen Zuhörern die Wahrheit. Er war sorgfältig darauf bedacht, nicht gleich am Anfang Lehren einzuführen, die sie erschrecken und die Vorurteile erregen würden. Seine Aufgabe hieß, ihre Herzen für die Lehren Christi zu gewinnen, sie durch dessen Liebe zu erweichen und ihnen dessen Beispiel vor Augen zu halten. Nähmen sie die Grundsätze des Evangeliums an, schwänden unvermeidlich ihre abergläubischen Begriffe und Gebräuche. GK 180.2
Schritt für Schritt ging die Reformation in Zürich vorwärts. Schreckensvoll erhoben sich ihre Feinde zu tatkräftigem Widerstand. Ein Jahr zuvor hatte der Mönch von Wittenberg in Worms Papst und Kaiser sein “Nein” entgegengehalten, und nun schien in Zürich alles auf ein ähnliches Widerstreben gegen die päpstlichen Ansprüche hinzudeuten. Zwingli wurde wiederholt angegriffen. In den päpstlichen Kantonen wurden von Zeit zu Zeit Jünger des Evangeliums auf den Scheiterhaufen gebracht, doch das genügte nicht; der Lehrer der Ketzerei mußte zum Schweigen gebracht werden. Deshalb sandte der Bischof von Konstanz drei Abgeordnete zu dem Rat zu Zürich, die Zwingli anklagten, er lehre das Volk, die Gesetze der Kirche zu übertreten, und gefährde so den Frieden und die Ordnung des Volkes. Sollte aber die Autorität der Kirche unberücksichtigt bleiben, so träte ein Zustand allgemeiner Gesetzlosigkeit ein. Zwingli antwortete: “Ich habe schon beinahe vier Jahre lang das Evangelium Jesu mit saurer Mühe und Arbeit gepredigt. Zürich ist ruhiger und friedlicher, als jeder andere Ort der Eidgenossenschaft, und dies schreiben alle guten Bürger dem Evangelium zu.”1 GK 180.3
Die Abgeordneten des Bischofs hatten die Räte ermahnt, in der Kirche zu bleiben, da es außer ihr kein Heil gebe. Zwingli erwiderte: “Laßt euch, liebe Herrn und Bürger, durch diese Ermahnung nicht auf den Gedanken führen, daß ihr euch jemals von der Kirche Christi gesondert habt. Ich glaube zuversichtlich, daß ihr euch noch wohl zu erinnern wißt, was ich euch in meiner Erklärung über Matthäus gesagt habe, daß jener Fels, welcher dem ihn redlich bekennenden Jünger den Namen Petrus gab, das Fundament der Kirche sei. In jeglichem Volk, an jedem Ort, wer mit seinem Munde Jesum bekennt und im Herzen glaubt, Gott habe ihn von den Toten auferweckt, wird selig werden. Es ist gewiß, daß niemand außer derjenigen Kirche selig werden kann.”1 Die Folge dieser Verhandlung war, daß bald darauf Wanner, einer der drei Abgesandten des Bischofs, sich offen zum Evangelium bekannte.1 GK 181.1
Der Zürcher Rat lehnte jedes Vorgehen gegen Zwingli ab, und Rom rüstete sich zu einem neuen Angriff. Als Zwingli von den Plänen der Römlinge hörte, schrieb er von ihnen als solchen, “welche ich weniger fürchte, wie ein hohes Ufer die Wellen drohender Flüsse”.1 Die Anstrengungen der Priester förderten nur die Sache, die sie zu vernichten trachteten. Die Wahrheit breitete sich immer weiter aus. In Deutschland faßten die Anhänger Luthers, die durch dessen Verschwinden entmutigt waren, neuen Mut, als sie von dem Wachstum des Evangeliums in der Schweiz hörten. GK 181.2
Als die Reformation in Zürich Wurzel gefaßt hatte, sah man ihre Früchte in der Unterdrückung des Lasters und in der Förderung der Ordnung und friedlichen Einvernehmens, so daß Zwingli schreiben konnte: “Der Friede weilt in unserer Stadt. Zu dieser Ruhe hat aber wohl die Einigkeit der Prediger des Worts nicht das geringste beigetragen. Zwischen uns gibt es keine Spannung, keine Zwietracht, keinen Neid, keine Zänkereien und Streitigkeiten. Wem könnte man aber diese Übereinstimmung der Gemüter mehr zuschreiben als wie dem höchsten, besten Gott?”1 GK 181.3
Die von der Reformation errungenen Erfolge reizten die Anhänger Roms zu noch größeren Anstrengungen, sie zu vernichten. Da die Unterdrückung der Sache Luthers in Deutschland durch Verfolgungen so wenig fruchtete, entschlossen sie sich, die Reformbestrebungen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Es sollte ein Streitgespräch mit Zwingli stattfinden, und da die Anordnung dieses Gespräches in ihren Händen lag, wollten sie sich dadurch den Sieg sichern, indem sie den Kampfplatz und die Richter, die zwischen den Streitenden entscheiden sollten, wählten. Konnten sie erst einmal Zwingli in ihre Gewalt bekommen, dann wollten sie schon dafür sorgen, daß er ihnen nicht entwischte. Und war der führende Kopf zum Schweigen gebracht, dann konnte die Reformationsbewegung rasch erstickt werden. Doch sorgfältig verheimlichten sie ihre Absicht. GK 182.1
Das Religionsgespräch sollte in Baden stattfinden; Zwingli aber war nicht dabei. Der Züricher Rat mißtraute den Absichten Roms, auch das Auflodern der in den katholischen Kantonen für die evangelischen Gläubigen angezündeten Scheiterhaufen diente als Warnung; deshalb verbot er seinem Seelsorger, sich dieser Gefahr auszusetzen. Zwingli war bereit, sich allen Römlingen in Zürich zu stellen; aber nach Baden zu gehen, wo eben erst das Blut der Märtyrer um der Wahrheit willen vergossen worden war, hätte für ihn den sicheren Tod bedeutet. Ökolampadius und Haller vertraten die Reformation, während der bekannte Doktor Eck, den eine Schar päpstlicher Gelehrter und Kirchenfürsten unterstützte, der Vertreter Roms war. GK 182.2
Nahm Zwingli auch an dem Gespräch nicht teil, sein Einfluß war doch spürbar. Die Katholiken selbst hatten die Schreiber bestimmt; allen andern war jede Aufzeichnung bei Todesstrafe verboten. Dennoch erhielt Zwingli täglich von den in Baden abgehaltenen Reden genauen Bericht. Ein bei den Verhandlungen anwesender Student schrieb jeden Abend die Beweisführungen auf. Zwei andere Studenten übernahmen es, diesen Verhandlungsbericht sowie die brieflichen Anfragen Ökolampads und seiner Glaubensbrüder an Zwingli zu befördern. Die Antworten des Reformators, die Ratschläge und Winke enthielten, mußten nachts geschrieben werden. Frühmorgens kehrten dann die Boten nach Baden zurück. Um der Wachsamkeit der an den Stadttoren postierten Hüter zu entgehen, trugen sie auf ihren Köpfen Körbe mit Federvieh und konnten so ungehindert durchgehen. GK 182.3
Auf diese Weise kämpfte Zwingli mit seinen verschlagenen Gegnern. “Er hat”, schreibt Myconius, “während des Gesprächs durch Nachdenken, Wachen, Raten, Ermahnen und Schreiben mehr gearbeitet, als wenn er der Disputation selbst beigewohnt hätte.”1 GK 183.1
Die Römlinge hatten sich im Vorgefühl ihres vermeintlichen Triumphes in ihren schönsten Kleidern und funkelndsten Juwelen nach Baden begeben. Sie lebten schwelgerisch; ihre Tafeln waren mit den köstlichsten Leckerbissen und ausgesuchtesten Weinen besetzt. Die Last ihrer geistlichen Pflichten wurde durch Schmausen und Lustbarkeiten erleichtert. In bezeichnendem Gegensatz dazu erschienen die Reformatoren, die vom Volk kaum höher angesehen wurden denn eine Schar von Bettlern, und deren anspruchslose Mahlzeiten sie nur kurze Zeit bei Tische hielten. Ökolampads Hauswirt, der den Anhänger Zwinglis auf seinem Zimmer zu überwachen suchte, fand ihn stets beim Studium oder im Gebet und sagte sehr verwundert: “Man muß gestehen, das ist ein sehr frommer Ketzer.”1 GK 183.2
Bei der Versammlung betrat Eck “eine prächtig verzierte Kanzel, der einfach gekleidete Ökolampad mußte ihm gegenüber auf ein grobgearbeitetes Gerüste treten”.1 Ecks mächtige Stimme und unbegrenzte Zuversicht ließen ihn nie im Stich. Sein Eifer wurde durch die Aussicht auf Gold und Ruhm angespornt, war doch dem Verteidiger des Glaubens eine ansehnliche Belohnung zugesichert. Wo es ihm an besseren Belegen mangelte, überschrie er seinen Gegner und griff zu Schimpf- und Schandworten. GK 183.3
Der bescheidene Ökolampad, der kein Selbstvertrauen hatte, war vor dem Streit zurückgeschreckt und erklärte am Anfang feierlich, daß alles nach Gottes Wort als Richtschnur ausgemacht werden sollte. Sein Auftreten war bescheiden und geduldig, doch erwies er sich als fähig und tapfer. “Eck, der mit der Schrift nicht zurechtkommen konnte, berief sich immer wieder auf Überlieferung und Herkommen. Ökolampad antwortete: ‘Über allen Übungen steht in unserem Schweizerlande das Landrecht. Unser Landbuch aber (in Glaubenssachen) ist die Bibel.’”1 GK 183.4
Der Gegensatz zwischen den beiden Hauptrednern verfehlte seine Wirkung nicht. Die ruhige, klare Beweisführung Ökolampads und sein bescheidenes Betragen gewannen die Gemüter für ihn, die sich mit Widerwillen von den prahlerischen und lauten Behauptungen Ecks abwandten. GK 184.1
Das Religionsgespräch dauerte 18 Tage. Am Ende beanspruchten die Anhänger Roms zuversichtlich den Sieg. Die meisten Abgesandten standen auf Roms Seite, und die Versammelten erklärten die Reformatoren für unterlegen und einschließlich ihres Oberhauptes Zwingli für aus der Kirche ausgeschlossen. Die Früchte dieses Religionsgespräches offenbarten jedoch, auf welcher Seite die Überlegenheit lag. Das Streitgespräch verlieh der protestantischen Sache starken Auftrieb, und wenig später bekannten sich die wichtigen Städte Bern und Basel zur Reformation. GK 184.2