Das Wirken der Apostel

11/59

Kapitel 10: Der erste christliche Märtyrer

Auf der Grundlage von Apostelgeschichte 6,5-15; Apostelgeschichte 7.

Stephanus, der erste der sieben Diakone, war ein Mann tiefer Frömmigkeit und starken Glaubens. Obwohl er von Geburt Jude war, sprach er griechisch und war mit den Gewohnheiten und Sitten der Griechen vertraut. Deshalb konnte er auch das Evangelium in den Synagogen der griechischen Juden predigen. Er war sehr rührig für die Sache Christi und bekannte unerschrocken seinen Glauben. Gelehrte Rabbiner und Gesetzeslehrer ließen sich in öffentliche Diskussionen mit ihm ein, weil sie meinten, einen leichten Sieg über ihn erringen zu können. Aber “sie vermochten nicht, zu widerstehen der Weisheit und dem Geiste, aus welchem er redete”. Apostelgeschichte 6,10. Er sprach nicht nur in der Kraft des Heiligen Geistes, sondern es wurde auch deutlich, daß er die Prophezeiungen durchforscht hatte und in allen Fragen des Gesetzes bewandert war. Geschickt verteidigte er die Wahrheit, die er vertrat, und überwand seine Gegner. An ihm erfüllte sich die Verheißung: “So nehmet nun zu Herzen, daß ihr nicht sorget, wie ihr euch verantworten sollt. Denn ich will euch Mund und Weisheit geben, welcher nicht sollen widerstehen noch widersprechen können alle eure Widersacher.” Lukas 21,14.15. WA 99.1

Als die Priester und Obersten erkannten, von welcher Kraft die Predigt des Stephanus begleitet war, stieg bitterer Haß in ihnen auf. Anstatt sich von den Beweisen, die er vortrug, überführen zu lassen, beschlossen sie, ihn zu töten und so seine Stimme zum Schweigen zu bringen. Schon verschiedentlich hatten sie die römischen Behörden bestochen, es nicht zu beanstanden, wenn die Juden sich selbst “Recht” verschafft und Gefangene nach ihren nationalen Gepflogenheiten verhört, verurteilt und hingerichtet hatten. Die Feinde des Stephanus zweifelten nicht daran, daß sie auch jetzt diesen Weg ohne eigene Gefahr einschlagen könnten. Sie beschlossen, es darauf ankommen zu lassen, ergriffen Stephanus und brachten ihn zum Verhör vor den Hohen Rat. WA 99.2

Gelehrte Juden aus den umliegenden Ländern wurden herbeigerufen, um die Beweisführung des Gefangenen zu widerlegen. Auch Saulus von Tarsus war anwesend und spielte eine führende Rolle gegen Stephanus. Er führte die Beredsamkeit und Logik eines Rabbiners ins Feld, um das Volk davon zu überzeugen, daß Stephanus betrügerische und gefährliche Lehren verkündigte. Aber in Stephanus stieß er auf einen, der ein tiefes Verständnis für Gottes Plan hinsichtlich der Ausbreitung des Evangeliums unter allen Völkern besaß. WA 100.1

Die Priester und Obersten konnten gegenüber der klaren, besonnenen Weisheit des Stephanus nicht die Oberhand gewinnen. Deshalb faßten sie den Entschluß, an ihm ein warnendes Exempel zu statuieren. Während sie so ihren Haß und ihre Rachsucht befriedigten, wollten sie gleichzeitig andere davon abhalten, seinen Glauben anzunehmen. Zeugen wurden gedungen, die fälschlich behaupteten, Stephanus habe Lästerworte gegen den Tempel und das Gesetz geredet: “Wir haben ihn sagen hören: Dieser Jesus von Nazareth wird diese Stätte zerstören und ändern die Sitten, die uns Mose gegeben hat.” Apostelgeschichte 6,14. WA 100.2

Als Stephanus Auge in Auge seinen Richtern gegenüberstand, um sich wegen der Anklage der Lästerung zu verantworten, erleuchtete ein heiliger Glanz sein Angesicht. “Und sie sahen auf ihn alle, die im Rat saßen, und sahen sein Angesicht wie eines Engels Angesicht.” Apostelgeschichte 6,15. Viele, die dieses Licht erblickten, zitterten und verhüllten ihr Angesicht, aber der starrsinnige Unglaube und das Vorurteil der Obersten wankten nicht. WA 100.3

Stephanus wurde nun befragt, ob die gegen ihn vorgebrachten Anklagen der Wahrheit entsprächen. Da begann er seine Verteidigung mit klarer, durchdringender Stimme, die im ganzen Gerichtssaal zu vernehmen war. Mit Worten, die die ganze Versammlung in Bann hielten, gab er einen Überblick über die Geschichte des auserwählten Volkes. Er bewies eine gründliche Kenntnis des jüdischen Gottesdienstes und dessen geistlicher Bedeutung, wie sie durch Christus offenbart worden war. Er wiederholte, was Mose vom Messias geweissagt hatte: “Einen Propheten wie mich wird dir der Herr, dein Gott, erwecken aus dir und aus deinen Brüdern; dem sollt ihr gehorchen.” 5.Mose 18,15. Während er seine Treue zu Gott und zum jüdischen Glauben bekräftigte, wies er zugleich nach, daß das Gesetz, in dem die Juden ihr Heil suchten, Israel nicht vor dem Götzendienst hatte bewahren können. Er machte den Zusammenhang zwischen Jesus und der ganzen jüdischen Geschichte deutlich, wies auf Salomos Tempelbau hin und führte die Worte des Propheten Jesaja an: “Der Allerhöchste wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind, wie der Prophet spricht: ‘Der Himmel ist mein Thron und die Erde meiner Füße Schemel; was wollt ihr mir denn für ein Haus bauen’, spricht der Herr, ‘oder welches ist die Stätte meiner Ruhe? Hat nicht meine Hand das alles gemacht?’” Apostelgeschichte 7,48-50. WA 101.1

Kaum war Stephanus bis dahin gekommen, da brach ein Tumult unter dem Volk aus. Als er Christus mit den Weissagungen des Alten Testaments in Verbindung brachte und so auch vom Tempel redete, zerriß der Priester — angeblich vor Entsetzen — sein Gewand. Für Stephanus war das ein Zeichen dafür, daß man seine Stimme bald für immer zum Schweigen bringen wollte. Er sah, welchen Widerstand seine Worte hervorriefen, und wußte, daß er sein letztes Zeugnis ablegte. Obgleich er erst bis zur Mitte seiner Predigt gekommen war, schloß er sie plötzlich ab. Seine geschichtliche Darlegung jäh abbrechend, wandte er sich an seine wütenden Richter und rief: “ihr Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herzen und Ohren, ihr widerstrebet allezeit dem heiligen Geist, wie eure Väter so auch ihr. Welchen Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Und sie haben getötet, die da zuvor verkündigten das Kommen des Gerechten, dessen Verräter und Mörder ihr nun geworden seid. Ihr habt das Gesetz empfangen durch der Engel Dienste und habt’s doch nicht gehalten.” Apostelgeschichte 7,51-53. WA 101.2

Darüber gerieten die Priester und Obersten außer sich vor Zorn. Sie glichen mehr wilden Tieren als menschlichen Wesen, als sie zähneknirschend über Stephanus herfielen. In den haßerfüllten Gesichtern rings um ihn las der Gefangene, welches Geschick ihm bevorstand; aber er wankte nicht. Alle Todesfurcht war von ihm gewichen. Die erzürnten Priester und der erregte Pöbel konnten ihn nicht schrecken. Das Bild vor ihm entschwand seinen Blicken. Vor seinen Augen standen die Pforten des Himmels weit offen. Er blickte hindurch und schaute die Herrlichkeit am Throne Gottes. Und er sah, als ob sich Christus gerade von seinem Thron erhoben hätte, um seinem Diener beizustehen. Triumphierend rief Stephanus aus: “Siehe, ich sehe den Himmel offen und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes stehen.” Apostelgeschichte 7,55. WA 102.1

Die Beschreibung der Herrlichkeit, die seine Augen wahrnahmen, war unerträglich für seine Verfolger. Um seine Worte nicht zu hören, hielten sie sich die Ohren zu, brachen in lautes Geschrei aus, stürmten auf ihn ein, “stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn ... Stephanus ... betete und sprach: ‘Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!’ Er kniete aber nieder und schrie laut: ‘Herr, behalte ihnen diese Sünde nicht!’ Und als er das gesagt, entschlief er.” Apostelgeschichte 7,56-59. Kein rechtsgültiges Urteil war gefällt worden, vielmehr waren die römischen Behörden mit hohen Geldsummen bestochen worden, diesen Fall nicht weiter zu untersuchen. WA 102.2

Der Märtyrertod des Stephanus beeindruckte alle Augenzeugen tief. Die Erinnerung an das göttliche Siegel auf seinem Angesicht und seine Worte, die die Herzen aller Hörer bewegt hatten, prägten sich dem Gedächtnis der Anwesenden ein und bezeugten die Wahrheit dessen, was er gepredigt hatte. Sein Tod war eine schwere Prüfung für die Gemeinde, aber er hatte gleichzeitig die Bekehrung Sauls zur Folge, der den Glauben und die Standhaftigkeit dieses Märtyrers nie mehr aus seinem Gedächtnis löschen konnte. WA 103.1

Während des Verhörs und des Todes des Stephanus schien Saulus von wahnsinnigem Eifer erfüllt. Hinterher ärgerte er sich über seine eigene geheime Überzeugung, Stephanus sei gerade zu der Zeit von Gott geehrt worden, als die Menschen ihn entehrten. Saulus fuhr fort, die Gemeinde Gottes zu verfolgen, jagte den Gläubigen nach, nahm sie in ihren Häusern fest und lieferte sie den Priestern und Obersten zu Gefängnis und Tod aus. Der Eifer, mit dem er die Verfolgung betrieb, versetzte die Christen zu Jerusalem in Schrecken. Die römischen Behörden unternahmen nichts, dem grausamen Wirken Einhalt zu gebieten, ja, insgeheim unterstützten sie die Juden, um diese für sich zu gewinnen und ihre Gunst zu erwerben. WA 103.2

Nach dem Tode des Stephanus wurde Saulus in Anerkennung seiner dabei erworbenen Verdienste zum Mitglied des Hohen Rates gewählt. Eine Zeitlang war er ein mächtiges Werkzeug in der Hand Satans, um dessen empörerische Anschläge gegen den Sohn Gottes auszuführen. Doch bald sollte dieser hartnäckige Verfolger, der jetzt die Gemeinde zu zerstören trachtete, dazu ausersehen werden, sie aufzubauen. Ein Mächtigerer als Satan hatte Saulus dazu erwählt, den Platz des als Glaubenszeugen gestorbenen Stephanus einzunehmen, Christus zu predigen, für des Herrn Namen zu leiden und nah und fern die Botschaft von der Erlösung durch des Heilandes Blut zu verbreiten. WA 103.3