Das Wirken der Apostel

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Kapitel 56: Patmos

Mehr als ein halbes Jahrhundert war seit der Gründung der christlichen Gemeinde verstrichen. In dieser Zeit war das Evangelium ständig auf Widerstand gestoßen. Seine Feinde hatten nicht nachgelassen, bis es ihnen gelungen war, die Macht des römischen Kaisers gegen die Christen ins Feld zu führen. WA 565.1

In der schrecklichen Verfolgung, die daraufhin einsetzte, bemühte sich der Apostel Johannes sehr darum, die Brüder im Glauben zu festigen und zu stärken. Er legte ein Zeugnis ab, dem seine Gegner nicht widersprechen konnten und das zugleich seinen Brüdern half, mutig und standhaft der hereinbrechenden Trübsal zu begegnen. Sooft der Glaube der Christen unter dem furchtbaren Druck, den sie ertragen mußten, zu wanken drohte, rief ihnen der bewährte Diener Jesu die Geschichte des gekreuzigten und auferstandenen Heilandes machtvoll und beredt in Erinnerung. Beharrlich hielt er an seinem Glauben fest, und aus seinem Munde war immer wieder die gleiche frohe Botschaft zu hören: “Das da von Anfang war, das wir gehört haben, das wir gesehen haben mit unsren Augen, das wir beschaut haben und unsere Hände betastet haben, vom Wort des Lebens ... Was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir euch.” 1.Johannes 1,1-3. WA 565.2

Johannes erreichte ein hohes Alter und überlebte alle Jünger. Er erlebte die Zerstörung Jerusalems und die Vernichtung des Tempels. Weil er mit dem Heiland aufs innigste verbunden gewesen war, übten seine Worte einen großen Einfluß aus. Sie bezeugten die Tatsache: Jesus ist der Messias, der Erlöser der Welt! Niemand konnte seine Aufrichtigkeit bezweifeln, und durch seine Verkündigung wandten sich viele vom Unglauben ab. WA 565.3

Die Obersten der Juden waren von bitterem Haß gegen Johannes erfüllt, weil er sich mit unerschütterlicher Treue zu Christus bekannte. Sie erklärten, daß alle ihre Angriffe gegen die Christen nichts ausrichten würden, solange im Volk das Zeugnis des Johannes zu hören war. Sollten die Wunder und Lehren Jesu in Vergessenheit geraten, so mußte die Stimme dieses kühnen Zeugen zum Schweigen gebracht werden. WA 566.1

So wurde Johannes nach Rom vor Gericht geladen, um dort seines Glaubens wegen verhört zu werden. Vor der Obrigkeit wurden die Lehren des Apostels falsch dargestellt, und falsche Zeugen beschuldigten ihn der Verbreitung aufrührerischer Irrlehren. Durch diese Beschuldigung hofften seine Feinde den Tod des Jüngers herbeizuführen. WA 566.2

Johannes verantwortete sich auf eine klare, überzeugende Weise und mit einer solchen Bescheidenheit und Offenheit, daß seine Worte eine starke Wirkung ausübten. Seine Zuhörer waren erstaunt über seine Weisheit und seine gewandte Rede. Aber je überzeugender sein Zeugnis wurde, desto heftiger entbrannte der Haß seiner Gegner. Kaiser Domitian war von Wut erfüllt. Er konnte weder die Beweisführung des treuen Vertreters der Sache Christi entkräften, noch es mit der Macht aufnehmen die dessen Wahrheitsbekundungen begleitete. Dennoch beschloß Domitian, diese Stimme zum Schweigen zu bringen. WA 566.3

Johannes wurde in einen Kessel mit siedendem Öl geworfen; aber der Herr bewahrte das Leben seines treuen Dieners, wie er es einst mit den drei Hebräern im feurigen Ofen getan hatte. Als es hieß: So sollen alle umkommen, die an den Betrüger Jesus Christus von Nazareth glauben, erklärte Johannes: Mein Meister ertrug geduldig alles, was Satan und seine Engel erdenken konnten, um ihn zu kränken und zu quälen. Er gab sein Leben, um die Welt zu retten. Es ist mir eine Ehre, um seinetwillen leiden zu dürfen. Ich bin ein schwacher, sündiger Mensch. Christus aber war heilig, unschuldig und makellos. Er tat keine Sünde, und kein Falsch wurde je in seinem Munde gefunden. WA 566.4

Diese Worte verfehlten ihren Eindruck nicht, und Johannes wurde von denselben Männern, die ihn in den Kessel geworfen hatten, wieder herausgezogen. WA 567.1

Doch der Apostel bekam die Hand der Verfolger aufs neue schwer zu fühlen. Auf Befehl des Kaisers wurde er nach der Insel Patmos verbannt “um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses von Jesus”. Offenbarung 1,9. Von dort aus — meinten seine Feinde — könnte er keinen Einfluß mehr ausüben und würde schließlich den Entbehrungen und Leiden erliegen. WA 567.2

Patmos, eine öde, felsige Insel im Ägäischen Meer, war von der römischen Regierung als Verbannungsort für Verbrecher auserwählt worden. Für den Knecht Gottes aber wurde dieser düstere Aufenthaltsort zur Pforte des Himmels. Abgeschnitten von dem geschäftigen Treiben des Lebens und dem Wirken der vergangenen Jahre, erlebte er dort die Gemeinschaft mit Gott, Christus und den himmlischen Engeln. Von ihnen empfing er für alle kommenden Zeiten Unterweisungen für die Gemeinde. Die Ereignisse, die sich am Ende der Weltgeschichte zutragen sollten, wurden dort vor seinen Blicken entrollt; und dort schrieb er die Gesichte nieder, die er von Gott empfing. Wenn seine Stimme auch nicht länger von dem zeugen konnte, den er liebte und dem er diente, so sollten die Botschaften, die ihm auf dieser kahlen Felseninsel gegeben wurden wie ein Leuchtfeuer hinausstrahlen und Gottes Ratschluß über alle Völker der Erde verkünden. WA 567.3

Inmitten der Klippen und Felsen von Patmos lebte Johannes in enger Verbindung mit seinem Schöpfer. Er blickte über sein vergangenes Leben, und bei dem Gedanken an die empfangenen Segnungen erfüllte Friede sein Herz. Er hatte das Leben eines Christen gelebt und konnte zuversichtlich sagen: “Wir wissen, daß wir aus dem Tode in das Leben gekommen sind.” 1.Johannes 3,14. Aber nicht so der Kaiser, der ihn verbannt hatte. Der konnte nur zurückblicken auf Schlachtfelder und Blutbäder, auf zerstörte Wohnhäuser sowie auf weinende Witwen und Waisen — die Früchte seiner ehrgeizigen Herrschaftsgelüste. WA 567.4

Der einsame Aufenthaltsort bot Johannes mehr als je zuvor Gelegenheit, die Offenbarung der göttlichen Kraft zu erforschen, wie sie im Buche der Natur und auf den Blättern der Heiligen Schrift verzeichnet stehen. Es bereitete ihm große Freude, über das Schöpfungswerk nachzudenken und den göttlichen Baumeister anzubeten. In früheren Jahren hatten sich seine Augen an dem Anblick bewaldeter Höhen, grüner Täler und fruchtbarer Felder ergötzt, und es war ihm stets eine Wonne gewesen, in allem Schönen die Weisheit des Schöpfers zu erkennen. Jetzt aber lebte er inmitten einer Umgebung, die vielen düster und reizlos erschienen wäre. Doch nicht so Johannes. Möchte alles um ihn her verlassen und kahl aussehen, so war doch der Himmel, der sich über ihm wölbte, genauso klar und schön wie der über seinem geliebten Jerusalem. Die wilden, zerklüfteten Felsen, die Geheimnisse der Tiefe und die Pracht des Himmelszeltes vermittelten ihm wichtige Lehren. Sie alle legten Zeugnis ab von Gottes Macht und Herrlichkeit. WA 568.1

Rings um sich her sah der Apostel Zeugen der Sintflut, die über die Erde hereingebrochen war, weil ihre Bewohner Gottes Gesetz freventlich übertreten hatten. Die Felsblöcke, die durch die Gewalt des Wassers aus der Tiefe und aus dem Schoß der Erde herausgeschleudert worden waren, erinnerten ihn daran, wie schrecklich Gottes Zorn gewesen sein mußte. In der Stimme vieler Wasser — “eine Tiefe ruft die andere” (Psalm 42,8) — vernahm der Prophet die Stimme des Schöpfers. Das von erbarmungslosen Winden zur Raserei aufgepeitschte Meer wurde ihm zum Bild des Zornes eines gekränkten Gottes. Daß aber die mächtigen Wogen auch in ihrem schrecklichen Aufruhr wie von unsichtbarer Hand in den ihnen gesetzten Grenzen gehalten wurden, bezeugte ihm die Herrschaft des Allmächtigen. Er wurde sich bewußt, wie schwach und töricht sterbliche Menschen im Vergleich dazu sind, die schließlich zu Staub vergehen. Sie rühmen sich ihrer Weisheit und Stärke und lehnen sich gegen den Herrn des Weltalls auf, als ob Gott ihresgleichen wäre. Die Felsen erinnerten Johannes an Christus, den Fels seiner Stärke, in dessen Schutz er sich furchtlos bergen konnte. Von dem auf das felsige Patmos verbannten Apostel stiegen aus verlangendem Herzen inbrünstige Gebete zu Gott empor, so sehnte er sich nach ihm. WA 568.2

Die Geschichte des Johannes liefert ein treffendes Beispiel dafür, wie Gott seine betagten Diener gebrauchen kann. Als Johannes nach der Insel Patmos verbannt wurde, meinten viele, daß es nun mit seinem Wirken vorbei sei und er wie ein geknicktes Rohr zusammenbrechen werde. Aber der Herr hielt es für gut ihn noch länger zu gebrauchen. Obwohl Johannes von seiner früheren Wirkungsstätte verbannt war, hörte er doch nicht auf für Gottes Wahrheit zu zeugen. Selbst auf der Insel Patmos gewann er Freunde und Nachfolger Jesu. Ihm war eine frohe Botschaft anvertraut worden, die Verkündigung des auferstandenen Heilandes, der im Himmel für sein Volk Fürbitte einlegt, bis er wiederkommt, um die Seinen zu sich zu nehmen. Und gerade jetzt, da Johannes im Dienst seines Herrn ergraut war, empfing er mehr Botschaften von Gott als während der früheren Jahre seines Lebens. WA 569.1

Ein herzliches Verstehen sollte stets denen entgegengebracht werden, deren Lebensweg mit dem Werk Gottes eng verknüpft ist. Die betagten Arbeiter haben sich in Stürmen und Prüfungen treu erwiesen. Mögen sie nun auch gebrechlich sein, so besitzen sie doch immer noch Gaben, die sie befähigen, einen Platz im Werk Gottes auszufüllen. Auch wenn sie verbraucht und nicht mehr fähig sind, so schwere Lasten zu tragen, wie es jüngere Leute vermögen und sollen, sind doch die Ratschläge, die sie erteilen können, äußerst wertvoll. WA 569.2

Sie mögen Fehler gemacht haben, aber daraus haben sie gelernt, Irrtümer und Gefahren zu vermeiden. Sind sie nicht gerade aus diesem Grunde befähigt, weisen Rat zu erteilen? Sie haben sich in Anfechtungen und Prüfungen bewährt, und obwohl sie etwas von ihrer Tatkraft eingebüßt haben, setzt sie der Herr doch nicht beiseite. Er verleiht ihnen vielmehr besondere Gnade und Weisheit. WA 570.1

Die dem Herrn gedient haben, als die Arbeit beschwerlich war, die Armut ertragen haben und treu geblieben sind, als nur wenige für die Wahrheit einstanden, sollen wertgeschätzt und geachtet werden. Der Herr will, daß die jüngeren Mitarbeiter durch den Umgang mit diesen treuen Männern zunehmen an Weisheit, Stärke und Reife. Die jüngeren Leute sollten erkennen, daß es für sie ein großer Gewinn ist, solche Arbeiter in ihrer Mitte zu haben. Sie sollten ihnen einen Ehrenplatz bei ihren Beratungen einräumen. WA 570.2

Wenn die Männer, die ihr Leben im Dienst für Christus verbracht haben, sich dem Ende ihrer irdischen Laufbahn nähern, wird der Heilige Geist sie veranlassen, die Erfahrungen zu berichten, die sie im Werk Gottes machen durften. Gottes wunderbares Handeln an seinen Kindern, seine große Güte, durch die er sie aus Schwierigkeiten erlöste, all dies sollte den zum Glauben Gekommenen vor Augen gehalten werden. Gott will, daß die betagten und bewährten Arbeiter auf ihrem Platz ausharren und ihr Teil dazu beitragen, Männer und Frauen davor zu bewahren, daß sie nicht von dem mächtigen Strom des Bösen hinweggerissen werden. Er will, daß sie die Waffenrüstung so lange tragen, bis er ihnen gebietet, sie abzulegen. WA 570.3

Die Erfahrungen des Apostels Johannes während seiner Verfolgung enthalten eine wunderbare Lehre, die den Christen stärkt und tröstet: Gott verhindert nicht die Anschläge feindseliger Menschen, aber er bewirkt, daß sie zum Besten derer dienen, die in Kampf und Anfechtung Treue bewahren. Oft muß der Evangeliumsarbeiter sein Werk unter schwerer Verfolgung, heftigem Widerstand und unbegründeten Vorwürfen vollbringen. In solchen Zeiten soll er bedenken, daß die Erfahrungen, die er im feurigen Ofen der Prüfung und des Leidens sammelt, alle Schmerzen aufwiegen, die sie kosteten. So zieht Gott seine Kinder an sich, damit er ihnen ihre Schwäche und zugleich seine Kraft zeigt. Er lehrt sie, sich ganz auf ihn zu stützen. Auf diese Weise bereitet er sie vor, Notlagen zu begegnen, Vertrauensstellungen einzunehmen und der hohen Aufgabe nachzukommen, für die er ihnen Kraft verliehen hat. WA 571.1

Zu jeder Zeit haben sich Gottes erwählte Zeugen um der Wahrheit willen der Schmach und der Verfolgung ausgesetzt. Joseph wurde übel behandelt und verfolgt, weil er an Tugend und Rechtschaffenheit festhielt. David, den auserwählten Boten Gottes, jagten seine Feinde wie ein Raubtier. Daniel wurde in die Löwengrube geworfen, weil er Gott treu blieb. Hiob verlor seine irdischen Güter und wurde von körperlichen Leiden so heimgesucht, daß sich selbst seine Verwandten und Freunde von ihm abwandten; dennoch bewahrte er seine Rechtschaffenheit. Jeremia ließ sich nicht hindern, die Worte zu reden, die Gott ihm aufgetragen hatte. Sein Zeugnis versetzte König und Fürsten in solchen Zorn, daß sie ihn in eine widerliche Schlammgrube warfen. Stephanus wurde gesteinigt, weil er den gekreuzigten Christus predigte. Paulus wurde ins Gefängnis geworfen, gegeißelt, gesteinigt und zuletzt getötet, weil er ein treuer Zeuge Gottes unter den Heiden war. Und Johannes wurde “um des Wortes Willen und des Zeugnisses von Jesus” nach der Insel Patmos verbannt. WA 571.2

Diese Beispiele menschlicher Standhaftigkeit sind zugleich ein Zeugnis für die Zuverlässigkeit der Verheißungen Gottes bezüglich seiner ständigen Gegenwart und seiner erhaltenden Gnade. Sie bestätigen ferner die Kraft des Glaubens, die den Mächten der Welt zu widerstehen vermag. Der Glaube bewirkt es, daß wir uns selbst in den dunkelsten Stunden sicher in Gott geborgen wissen, weil wir spüren, daß unser Vater am Steuer ist, wie sehr wir auch von Versuchungen und Stürmen bedrängt werden. Allein mit den Augen des Glaubens können wir über die zeitlichen Dinge hinwegschauen, um den Wert der ewigen Güter richtig einzuschätzen. WA 572.1

Jesus stellt seinen Nachfolgern weder irdische Ehren und Reichtümer noch ein Leben ohne Anfechtungen in Aussicht. Er ruft sie statt dessen auf, ihm auf dem Pfad der Selbstverleugnung und Erniedrigung zu folgen. Ihm, der kam, um die Welt zu erlösen, widerstanden die vereinten Kräfte des Bösen. In einer unbarmherzigen Verschwörung erhoben sich böse Menschen und böse Engel gegen den Friedensfürsten. Mit jedem Wort und jeder Tat offenbarte er göttliche Barmherzigkeit, und weil er so völlig anders als die Welt war, erregte er die erbittertste Feindschaft. WA 572.2

So wird es allen ergehen, die “gottesfürchtig leben wollen in Christus Jesus”. (2.Timotheus 3,12). Wer vom Geist Christi erfüllt ist, muß mit Schmach und Bedrängnis rechnen. Die Art und Weise der Verfolgung mag sich im Laufe der Zeit wandeln, aber seit den Tagen Abels steht dahinter der gleiche Geist als treibende Kraft. WA 572.3

Satan hat zu allen Zeiten die Kinder Gottes verfolgt, gemartert und getötet. Dennoch erwiesen sie sich selbst im Sterben als Überwinder. Sie legten Zeugnis ab von der Kraft des Herrn, der mächtiger ist als Satan. Mögen gottlose Menschen in ihrem Haß den Leib peinigen und zerstören — das Leben, das mit Christus in Gott verborgen ist, können sie nicht antasten. Sie vermögen wohl Männer und Frauen hinter Gefängnismauern zu werfen, aber niemals ihren Geist zu fesseln. WA 572.4

In Anfechtungen und Verfolgungen wird die Herrlichkeit Gottes, d.h. sein Charakter, an seinen Auserwählten offenbar. Die Gläubigen, von der Welt gehaßt und verfolgt, werden in der Schule Christi erzogen. Sie wandern auf schmalen Pfaden über die Erde und werden geläutert im Feuerofen der Trübsal. Sie bleiben Christus treu selbst in schweren Kämpfen sie verleugnen sich selbst und erdulden bittere Enttäuschungen: Dadurch lernen sie die Schwere und das Furchtbare der Sünde kennen und verabscheuen sie. Als Teilhaber an Christi Leiden können sie hinter dem Dunkel die Herrlichkeit Gottes erblicken und sagen: “Ich halte dafür, daß dieser Zeit Leiden der Herrlichkeit nicht wert sei, die an uns soll offenbart werden.” Römer 8,18. WA 573.1