Das Wirken der Apostel

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Kapitel 46: In Freiheit

Während das Wirken des Apostels Paulus in Rom unter göttlichem Segen zur Bekehrung vieler und zur Stärkung und Ermutigung der Gläubigen diente, zogen sich düstere Wolken zusammen, die nicht nur seine eigene Sicherheit, sondern auch das Wohl der Gemeinde bedrohten. Bei seiner Ankunft in Rom war er dem Hauptmann der kaiserlichen Wache übergeben worden, einem gerecht denkenden, aufrichtigen Manne, durch dessen Entgegenkommen er sich verhältnismäßig frei bewegen und der Evangeliumsverkündigung nachgehen konnte. Aber noch ehe die zweijährige Gefangenschaft zu Ende ging, wurde dieser Mann von einem Beamten abgelöst, von dem Paulus kein besonderes Wohlwollen erwarten konnte. WA 481.1

Die Juden wurden jetzt aktiver als zuvor in ihren Bemühungen gegen Paulus. Sie fanden dabei eine willige Helferin in der sittenlosen Frau, die Nero zu seiner zweiten Gemahlin gemacht hatte. Sie war zum Judentum übergetreten und benutzte ihren ganzen Einfluß, um die verbrecherischen Absichten gegen diesen herausragenden Mann des Christentums zu unterstützen. WA 481.2

Paulus konnte von dem Kaiser, auf den er sich berufen hatte, kaum Gerechtigkeit erwarten. Nero war in seiner Lebensführung verkommener, in seinem Charakter ruchloser und zu scheußlichen Grausamkeiten fähiger als alle Herrscher vor ihm. Die Zügel der Regierung hätten keinem despotischeren Herrscher anvertraut werden können. Bereits im ersten Jahr seiner Regierung hatte er seinen jungen Stiefbruder, den rechtmäßigen Thronerben, vergiften lassen. Immer stärker und unaufhaltsamer geriet Nero in den Strudel von Laster und Verbrechen, bis er sogar seine eigene Mutter und später seine Gemahlin ermorden ließ. Es gab keine Abscheulichkeit, zu der er nicht fähig gewesen wäre, keine noch so niederträchtige Tat, die er nicht hätte ausführen können. In jedem rechtschaffenen Gemüt erweckte er Abscheu und Verachtung. WA 481.3

Die Einzelheiten der an seinem Hof begangenen Schlechtigkeiten waren zu gemein und zu schrecklich, als daß man sie schildern könnte. Seine unbeschreibliche Bosheit erregte Abscheu selbst bei vielen, die gezwungen waren, an seinen Verbrechen teilzunehmen. Ständig schwebten sie in Furcht davor, auf welche Ungeheuerlichkeiten er noch verfallen könnte. Doch selbst diese Verbrechen Neros erschütterten die Ergebenheit seiner Untertanen nicht. Er wurde als unumschränkter Herrscher über die gesamte zivilisierte Welt anerkannt und genoß darüber hinaus Verehrung und Anbetung wie ein Gott. WA 482.1

Menschlich gesehen war eine Verurteilung des Apostels vor solch einem Richter so gut wie gewiß. Aber Paulus wußte, daß er nichts zu fürchten hatte, solange er Gott treu bliebe. Der in der Vergangenheit sein Schutz gewesen war, konnte ihn auch jetzt vor dem Haß der Juden und der Macht des Kaisers bewahren. WA 482.2

Und wirklich, Gott beschützte seinen Diener. Beim Verhör des Paulus wurden die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen nicht aufrechterhalten. Entgegen allen Erwartungen und aus Rücksicht auf die Gerechtigkeit, was seinem Charakter völlig widersprach, ließ Nero den Gefangenen frei. Dem Apostel wurden die Ketten abgenommen, und er war wieder ein freier Mann. WA 482.3

Wäre die Verhandlung länger hinausgeschoben worden oder hätte sich Paulus aus irgendeinem Grunde bis zum nächsten Jahre in Rom aufgehalten, wäre er zweifellos bei der dann ausbrechenden Verfolgung umgekommen. Während seiner Gefangenschaft hatte sich nämlich die Zahl der Bekehrten so vermehrt, daß dadurch die Aufmerksamkeit und Feindschaft der Behörden ausgelöst wurde. Der Zorn des Kaisers wurde besonders dadurch erregt, daß sich selbst Mitglieder seiner eigenen Hofhaltung zu Christus bekannten. Bald fand er dann auch einen Vorwand für seine erbarmungslose Grausamkeit Christen gegenüber. WA 483.1

Um diese Zeit brach in Rom eine schreckliche Feuersbrunst aus, durch die fast die halbe Stadt zerstört wurde. Das Gerücht ging um, Nero selbst habe den Brand anlegen lassen. Um diesen Verdacht von sich abzulenken, gab er sich den Anschein besonderer Großmut, indem er Obdachlosen und Notleidenden Hilfe gewährte. Dessen ungeachtet beschuldigte man ihn weiterhin des Verbrechens. Das Volk war erregt und aufgebracht. Um alle Verdächtigungen zurückzuweisen und gleichzeitig die Stadt von denen zu säubern, die er fürchtete und haßte, wälzte Nero alle Schuld auf die Christen ab. Diese List hatte den gewünschten Erfolg, und Tausende Nachfolger Christi — Männer, Frauen und Kinder — wurden auf grausame Weise umgebracht. WA 483.2

Vor dieser schrecklichen Verfolgung blieb Paulus bewahrt; denn bald nach seinem Freispruch hatte er Rom verlassen. Die letzte Zeit, die er in Freiheit lebte, benutzte er dazu, den Gemeinden zu dienen. Besonders lag ihm daran, eine innigere Verbindung zwischen den griechischen und den östlichen Gemeinden herzustellen und das Herz der Gläubigen gegen die Irrlehren zu festigen, die sich einschlichen und den Glauben gefährdeten. WA 483.3

Paulus hatte so viele Anfechtungen und Sorgen erduldet, daß seine körperlichen Kräfte aufgezehrt waren. Die Gebrechen des Alters machten sich bemerkbar. Er fühlte, daß seine Arbeit bald getan sein würde. Je mehr sich sein Wirken dem Ende näherte, desto mehr setzte er sich ein. Seinem Eifer schienen keine Grenzen gesetzt zu sein. Zielbewußt, entschlußfreudig und stark im Glauben reiste er von Gemeinde zu Gemeinde, von Land zu Land. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln suchte er die Gläubigen zu stärken, damit sie treu blieben im Dienst der Menschenrettung für Christus, in den bereits angebrochenen schweren Zeiten standhaft am Evangelium festhielten und als treue Zeugen für Jesus wirkten. WA 483.4