Leben und Wirken von Ellen G. White

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Persönliche Betrachtungen

Bezüglich ihrer Reise nach dem Westen, auf ihrem Wege nach Californien, und ihren Betrachtungen, während sie sich ein paar Wochen in ihrer Sommerwohnung in den Rocky Mountains aufhielt, schrieb Frau White: LW 292.4

“Am 22. August verließ ich in Begleitung meiner Töchter, Emma und Mary White, Battle Creek auf meiner Reise nach dem Westen, in der Hoffnung, aus einem Klimawechsel Nutzen zu ziehen. Obgleich ich noch an den Wirkungen eines ernstlichen Anfalls von Malaria und an den Folgen des Schlages infolge des Todes meines Mannes litt, ertrug ich die Reise besser, als ich erwartet hatte. Wir kamen in Boulder, Colo., am Donnerstag, den 25. August, an und am folgenden Sonntag verließen wir in einem Privatgefährt jenen Platz, um uns nach unserm Heim in den Bergen zu begeben. LW 293.1

“Von unserm Landhause hatte ich einen Ausblick auf einen Wald junger Fichten, so frisch und wohlriechend, dass die Luft von ihrem würzigen Dufte durchdrungen war. In früheren Jahren hatten mein Mann und ich diesen Hain zu unserem Heiligtum gemacht. Inmitten dieser Berge beugten wir uns oft zusammen zur Anbetung und zum Gebet. Überall um mich her waren die Plätze, die in dieser Weise geheiligt worden waren, und als ich auf sie schaute, konnte ich mir viele Gelegenheiten ins Gedächtnis zurückrufen, bei denen wir direkte und bemerkenswerte Erhörungen unserer Gebete erhalten hatten ... LW 293.2

“Wie nahe schienen wir Gott zu sein, als wir bei hellem Mondlicht uns an einem einsamen Bergabhange beugten, um von seiner Hand die nötigen Segnungen zu erbitten! Was für einen Glauben und was für eine Zuversicht hatten wir doch! Gottes Absichten der Liebe und Barmherzigkeit schienen völliger offenbart zu sein, und wir hatten die Gewissheit, dass unsere Sünden und Irrtümer vergeben waren. Bei solchen Gelegenheiten habe ich das Angesicht meines Mannes mit einem Glanze erleuchten sehen, der vom Throne Gottes wiederzustrahlen schien, als er mit veränderter Stimme den Herrn für die reichen Segnungen seiner Gnade pries. Inmitten der Düsterkeit und Finsternis der Erde konnten wir doch allenthalben helle Strahlen aus der Quelle des Lichtes erkennen. Durch die Werke der Schöpfung verkehrten wir mit Dem, der ewiglich wohnet. Als wir zu den sich auftürmenden Felsen, zu den erhabenen Bergen aufschauten riefen wir aus: ‘Wo ist so ein mächtiger Gott als du, Gott, bist?’ LW 293.3

“Umgeben, wie es oft der Fall war, von Schwierigkeiten, überbürdet mit Verantwortlichkeiten, waren wir, zum Besten nur vergängliche, schwache, irrende Sterbliche, zu Zeiten fast bereit, uns der Verzweiflung hinzugeben. Aber als wir Gottes Liebe und Sorge für seine Geschöpfte betrachteten, wie sie in dem Buche der Natur und auf den Blättern der Inspiration offenbart sind, wurden unsere Herzen getröstet und gestärkt. Umgeben von den Beweisen der Macht Gottes, und von seiner Gegenwart überschattet, konnten wie kein Misstrauen, keinen Unglauben nähren. O wie oft sind wir in unsern Erfahrungen inmitten dieser felsigen Einöden mit Frieden und Hoffnung und selbst mit Freude erfüllt worden! LW 294.1

“Wiederum bin ich in den Bergen gewesen, aber allein. Niemand war da, der meine Gedanken und meine Gefühle mit mir teilte, als ich von neuem auf diese großartigen und feierlichen Szenen blickte! Allein, allein! Gottes Verfahren scheint geheimnisvoll, seine Absichten unergründlich zu sein; aber doch weiß ich, dass sie gerecht und weise und barmherzig sein müssen. Es ist mein Vorrecht und meine Pflicht, seiner geduldig zu harren und zu allen Zeiten von Herzen zu sagen: ‘Er hat alles wohlgemacht.’ ... LW 294.2

“Meines Mannes Tod war ein schwerer Schlag für mich, schmerzlicher gefühlt, weil er so plötzlich kam. Als ich den Siegel des Todes auf seinem Antlitz sah, waren meine Gefühle beinahe unerträglich. Ich sehnte mich danach, in meiner Qual aufzuschreien. Aber ich wusste, dass dies das Leben meines Geliebten nicht retten konnte, und ich fühlte, dass es unchristlich sein würde, mich dem Schmerze hinzugeben. Ich suchte Hilfe und Trost von oben, und die Verheißungen Gottes wurden mir verwirklicht. Des Herrn Hand hielt mich aufrecht ... “Lasst uns aus der letzten Unterredung Christi mit seinen Aposteln Mut und Standhaftigkeit lernen. Sie standen im Begriffe, getrennt zu werden. Unser Heiland betrat den blutbefleckten Pfad, der ihn nach Golgatha führen würde. Keine Erfahrung war schwerer als diejenige, die er bald durchzumachen haben würde. Die Apostel hatten die Worte Christi gehört, die seine Leiden und seinen Tod voraussagten, und ihre Herzen waren von Kummer beschwert, ihre Gemüter von Zweifel und Furcht verwirrt. Aber sie schrieen nicht laut auf und überließen sich nicht dem Schmerze. Jene letzten feierlichen, folgenschweren Stunden wurden von unserm Heilande damit zugebracht, dass er zu seinen Jüngern Worte des Trostes und der Zusicherung sprach, und dann vereinigten sie sich alle zum Singen eines Lobliedes ... Welch ein Vorspiel zu der Seelenqual im Garten Gethsemane, der Misshandlung und Verspottung in der Gerichtshalle und den furchtbaren Szenen auf Golgatha waren jene letzten Stunden, die sie damit zubrachten, das Lob des Allerhöchsten zu singen! LW 294.3

“Als Martin Luther entmutigende Nachrichten erhielt, sagte er oft: ‘Kommt, lasst uns den sechsundvierzigsten Psalm singen.’ Dieser Psalm beginnt mit den Worten: ‘Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht, wenn gleich die Welt unterginge, und die Berge mitten ins Meer sänken.’ Ach, wenn wir nur, anstatt zu trauern, zu weinen und zu verzagen, wenn Schwierigkeiten uns wie eine Flut umgeben und uns zu überwältigen drohen, Gott nicht nur um Hilfe anflehen, sondern ihn auch für die noch gebliebenen Segnungen loben würden — ihn loben würden, dass er imstande ist, uns zu helfen —, dann würde unser Wandel ihm gefälliger sein, und wir würden von seinem Heile mehr sehen.”2 LW 295.1