Patriarchen und Propheten
Kapitel 16: Jakob und Esau
Jakob und Esau, Isaaks Zwillingssöhne, waren in Charakter und Lebensart auffallend gegensätzlich. Diese Unähnlichkeit hatte der Engel Gottes bereits vor ihrer Geburt vorausgesagt. Als Antwort auf Rebekkas beunruhigtes Gebet tat er ihr kund, daß sie zwei Söhne bekommen wurde. Zugleich eröffnete er deren künftiges Geschick: Jeder sollte das Haupt eines mächtigen Volkes werden, aber einer würde größer sein als der andere und der Jüngere den Vorrang haben. PP 154.1
Der heranwachsende Esau liebte die Annehmlichkeiten des Lebens und alle seine Neigungen galten nur der Gegenwart. Jede Einschränkung ließ ihn aufbegehren. Ihm gefiel das ungebundene Umherstreifen, und so wählte er bald das Leben eines Jägers. Gleichwohl war er des Vaters Liebling. Der Wagemut und die Kraft seines ältesten Jungen beeindruckte den ruhigen, friedliebenden Hirten immer wieder. Furchtlos durchstreifte Esau Berge und Wüsten, und stets kehrte er heim mit Wildbret für den Vater und mit spannenden Berichten über sein abenteuerliches Leben. Der besinnliche, fleißige und fürsorgliche Jakob dagegen lebte mit seinen Gedanken mehr der Zukunft als der Gegenwart und war mit dem häuslichen Leben zufrieden. Er pflegte die Herden und trieb Ackerbau. Seine Ausdauer, Sparsamkeit und Fürsorge schätzte die Mutter an ihm. Seine zurückhaltende, unablässige Aufmerksamkeit trug mehr zu ihrem Glück bei als die gelegentlichen ungestümen Zärtlichkeiten Esaus. Rebekka hatte Jakob lieber. PP 154.2
Die Verheißungen, die Abraham vormals erhalten hatte und die seinem Sohne bestätigt worden waren, bedeuteten für Isaak und Rebekka das große Ziel ihrer Wünsche und Hoffnungen. Auch Jakob und Esau kannten sie gut. Die Eltern sprachen mit ihnen darüber, daß das Erstgeburtsrecht hohe Bedeutung habe, denn es umfaßte ja nicht nur die Erbschaft irdischen Reichtums, sondern auch geistlichen Vorrang. Wer es erhielt, sollte der Priester der Familie sein, und aus der Reihe seiner Nachfahren würde der Erlöser der Welt kommen. Andererseits ruhten auf dem Träger des Erbrechts ganz bestimmte Verpflichtungen, denn wer den Segen erbte, mußte sein Leben in besonderer Weise dem Dienste Gottes weihen. Wie einst Abraham mußte er seinen Geboten gehorchen. Bei der Eheschließung, in allen häuslichen Angelegenheiten und im öffentlichen Leben mußte er den Willen Gottes zu Rate ziehen. PP 154.3
Isaak machte seine Söhne mit diesen Rechten und Bedingungen vertraut und erklärte ihnen ganz deutlich, daß Esau als der Ältere Anspruch auf das Erstgeburtsrecht habe. Aber Esau hatte weder Neigung zur Frömmigkeit noch zum geistlichen Leben. Die mit dem Erstgeburtsrecht verbundenen Bedingungen waren ihm ein lästiger und geradezu verhaßter Zwang. Esau empfand Gottes Gesetz, das die Bedingung des göttlichen Bundes mit Abraham gewesen war, als ein Joch. Mit seinem Hang zur Zügellosigkeit begehrte er nichts so sehr wie die Freiheit, tun und lassen zu können, was er wollte. Für ihn waren Macht und Reichtum, Gelage und Lustbarkeiten gleichbedeutend mit einem glücklichen Leben. Rebekka erinnerte sich jetzt der Worte des Engels, und sie deutete mit größerem Scharfblick als ihr Mann die Charakterzüge ihrer Söhne. Sie kam zu der Überzeugung, daß das Erbe der göttlichen Verheißung Jakob bestimmt war. Deshalb wiederholte sie Isaak die Worte des Engels, aber die Zuneigung des Vaters gehörte nun einmal dem älteren Sohn, und er blieb beharrlich bei seiner Absicht. PP 155.1
Jakob wußte durch die Mutter von der göttlichen Ankündigung, daß ihm das Erstgeburtsrecht zufallen sollte. Und er war von unsagbarem Verlangen nach den Vorrechten erfüllt, die ihm damit übertragen würden. Nicht, daß er nach dem Reichtum des Vaters strebte; das Ziel seiner Sehnsucht galt vielmehr dem geistlichen Erstgeburtsrecht. Mit Gott in der Weise zu verkehren, wie es der gerechte Abraham erlebt hatte, das Versöhnungsopfer für die Familie darzubringen, der Ahnherr des erwählten Volkes und des verheißenen Messias zu sein — das waren Gnadengaben, die er sich brennend wünschte. Sie schlossen ja das Erbe der unvergänglichen Besitztümer und den Segen des Bundes ein. Seine Gedanken gingen immer wieder in die Zukunft, und er trachtete nach ihren noch verborgenen Segnungen. PP 155.2
Mit heimlichem Verlangen nahm er alles auf, was sein Vater über die geistliche Bedeutung des Erstgeburtsrechts sagte, und genauso sorgfältig hütete er, was er von der Mutter erfuhr. Unablässig beschäftigten ihn diese Dinge, so daß sie zum Hauptanliegen seines Lebens wurden. Obwohl er also die ewigen Segnungen den zeitlichen vorzog, hatte er doch noch keine Erfahrung mit dem Gott gemacht, den er verehrte. Ihm fehlte die Herzenserneuerung durch Gottes Gnade. Er war überzeugt, daß sich die ihn betreffende Verheißung nicht erfüllen könne, solange Esau an den Rechten des Erstgeborenen festhielt. So überlegte er unausgesetzt, wie er in den Besitz jener Segnungen kommen könnte, die seinem Bruder so unwichtig, ihm dagegen so kostbar erschienen. PP 156.1
Als Esau eines Tages ermattet und müde von der Jagd nach Hause kam, bat er um die Speise, die Jakob eben zubereitete. Dieser ergriff die Gelegenheit und erbot sich, den Hunger seines Bruders um den Preis des Erstgeburtsrechtes zu stillen; denn der eine Gedanke bewegte ihn ja immer. “Siehe, ich muß doch sterben”, rief der leichtsinnige, unbeherrschte Jäger, “was soll mir da die Erstgeburt?” 1.Mose 25,32. Und für eine Schüssel Linsengericht gab er sein Erstgeburtsrecht auf und bekräftigte diesen Handel mit einem Eid. In Kürze hätte er im Zelt des Vaters bestimmt zu essen bekommen. Aber um seinen Hunger im Augenblick zu stillen, verschleuderte er gedankenlos das herrliche Erbe, das Gott den Vätern verheißen hatte. Sein Denken gehörte eben der Gegenwart. So war er bereit, himmlisches Gut für einen augenblicklichen Vorteil einzutauschen. PP 156.2
So verkaufte Esau seine Erstgeburt. Nachdem er sie veräußert hatte, war ihm wohler. Jetzt hinderte ihn nichts mehr, zu tun und zu lassen, was ihm gefiel. Wie viele verkaufen doch noch heute gewissermaßen ihr Erstgeburtsrecht, den Anspruch auf ein unvergängliches Erbe im Himmel um Vergnügen willen, die man fälschlich Freiheit nennt! PP 156.3
Weil nur Äußerliches und Irdisches Anziehungskraft auf ihn ausübte, nahm sich Esau zwei Frauen von den Töchtern der Hethiter. Diese verehrten falsche Götter, und ihr Götzendienst machte Isaak und Rebekka bitteren Kummer. Esau hatte damit eine Bedingung des Bundes verletzt, der die Heirat zwischen dem erwählten Volk und den Heiden verbot. Dennoch hielt Isaak unerschütterlich an seinem Entschluß fest, ihm das Erstgeburtsrecht zu übertragen. Weder Rebekkas überzeugende Gründe noch Jakobs starkes Verlangen nach dem Segen, oder gar Esaus Gleichgültigkeit gegen die Verpflichtungen des Erstgeburtsrechts, hatten vermocht, den Entschluß des Vaters zu ändern. PP 156.4
Jahre waren vergangen, bis sich Isaak entschloß, nun alt und blind und in der Erwartung des baldigen Todes, die Segnung seines Ältesten nicht länger hinauszuzögern. Da er aber Rebekkas und Jakobs Widerstand kannte, wollte er dies heimlich vollziehen. Der Gewohnheit entsprechend, dabei ein Festmahl zu veranstalten, gebot er Esau: “Geh aufs Feld und jage mir ein Wildbret und mach mir ein Essen, wie ich’s gern habe ..., auf daß dich meine Seele segne, ehe ich sterbe.” 1.Mose 27,3.4. PP 157.1
Rebekka ahnte etwas, und sie war fest davon überzeugt, daß dies gegen Gottes offenbarten Willen war. Isaak lief Gefahr, sich das göttliche Mißfallen zuzuziehen, indem er seinen jüngeren Sohn von der Stellung auszuschließen suchte, zu der Gott ihn berufen hatte. Und weil sie bis dahin Isaak nicht überzeugen konnte, nahm sie Zuflucht zur List. PP 157.2
Kaum war Esau mit seinem Auftrag hinausgegangen, machte sich Rebekka an die Ausführung ihres Planes. Sie erzählte Jakob, was sich zugetragen hatte, und trieb zu sofortigem Handeln, um der unwiderruflichen Zusprechung des Segens an Esau zuvorzukommen. Sie versicherte ihrem Sohn, er werde den Segen erlangen, wie Gott es verheißen hatte, wenn er nur ihren Anweisungen folge. Aber Jakob war nicht so schnell dazu bereit. Der Gedanke, seinen Vater täuschen zu sollen, schuf ihm große innere Not. Er hatte schon jetzt das Gefühl, solche Sünde würde eher Fluch als Segen bringen. Doch Rebekka überwand seine Bedenken, und er folgte ihrem Rat. Er hatte es nicht vor, eine direkte Lüge auszusprechen, aber als er dann vor dem Vater stand, schien es ihm, als sei er schon zu weit gegangen, um noch zurück zu können. Und so erlangte er den begehrten Segen durch Betrug. PP 157.3
Jakob und Rebekka hatten Erfolg mit ihrem Plan, aber sie ernteten nur Kummer und Sorge. Gott hatte gesagt, Jakob solle das Erstgeburtsrecht erhalten. Wenn sie im Vertrauen darauf gewartet hätten, würde sich auch Gottes Wort zu seiner Zeit erfüllt haben. Aber gleich vielen angeblichen Kindern Gottes heutzutage wollten sie ihm die Angelegenheit nicht überlassen. Rebekka bereute den falschen Rat, den sie ihrem Sohne gegeben hatte, bitter. Deswegen wurde sie von ihm getrennt und sollte ihn nie wiedersehen. Von Stund an, da Jakob das Erstgeburtsrecht empfing, wurde er von Selbstvorwürfen gequält. Er war schuldig geworden an seinem Vater, an seinem Bruder, an sich selbst und hatte sich auch gegen Gott versündigt. In kürzester Zeit hatte er vollbracht, was ihn lebenslang reuen sollte. Und wenn ihn in späteren Jahren das gottlose Leben seiner eigenen Söhne bedrückte, stand dieses Ereignis immer lebendig vor ihm. PP 157.4
Jakob hatte kaum das Zelt seines Vaters verlassen, als Esau eintrat. Obwohl er sein Erstgeburtsrecht verkauft und die Übertragung mit einem feierlichen Eid bekräftigt hatte, war er fest entschlossen, sich des Segens ohne Rücksicht auf den Anspruch seines Bruders zu bemächtigen. Mit dem geistlichen Erstgeburtsrecht war das irdische verbunden, das ihm die Würde als Familienoberhaupt und den doppelten Anteil am väterlichen Besitz verlieh. Das waren Dinge, die er zu schätzen wußte. “Richte dich auf, mein Vater”, sagte er, “und iß von dem Wildbret deines Sohnes, daß mich deine Seele segne.” 1.Mose 27,31. PP 158.1
Zitternd vor Bestürzung und Schmerz erfuhr der alte, blinde Vater den Betrug, den man an ihm verübt hatte. Seine beharrlich genährten Hoffnungen waren durchkreuzt worden, und bitter empfand er die Enttäuschung, die seinen ältesten Sohn überkommen mußte. Doch blitzte die Überzeugung in ihm auf, daß Gottes Vorsehung seine Absicht zunichte gemacht und gerade das zuwege gebracht hatte, was er verhindern wollte. Er erinnerte sich an die Worte des Engels zu Rebekka, und ungeachtet der Sünde, deren sich Jakob schuldig gemacht hatte, sah er nun in ihm denjenigen, der Gottes Absichten erfüllen würde. Während die Segensworte über seine Lippen geflossen waren, hatte er den Geist der Weissagung auf sich gefühlt. Nun, da er alle Umstände kannte, bestätigte er den Segen, den er unwissend über Jakob ausgesprochen hatte: “Ich habe ihn gesegnet, und er wird auch gesegnet bleiben.” Vgl. 1.Mose 27,33. PP 158.2
Esau sah den Segen als unwesentlich an, solange er ihm erreichbar schien, aber nachdem er ihn für immer verloren hatte, begehrte er ihn. Die ganze Kraft seiner erregbaren, heftigen Natur wurde wach. Sein Klagen und Zorn waren furchtbar. In maßlosem Jammer schrie er: “Segne mich auch, mein Vater! ... Hast du mir denn keinen Segen vorbehalten?” 1.Mose 27,34.36. Aber Isaak konnte die einmal ausgesprochene Verheißung nicht zurücknehmen. Das so sorglos eingetauschte Erstgeburtsrecht ließ sich nicht zurückgewinnen. “Um der einen Speise willen” (Hebräer 12,16), um den augenblicklichen Hunger zu stillen, den er ja niemals bezähmt hatte, veräußerte Esau sein Erbe. Als er seine Torheit einsah, war es zu spät. “Er fand keinen Raum zur Buße, wiewohl er sie mit Tränen suchte.” Hebräer 12,17. Esau besaß durchaus noch die Möglichkeit, seine Tat zu bereuen und Gottes Gnade zu erbitten, aber es gab kein Mittel, das Erstgeburtsrecht wiederzubekommen. Sein Kummer entsprang aber nicht dem Schuldbewußtsein. Er suchte auch keine Versöhnung mit Gott, sondern grämte sich nur über die Folgen seiner Sünde, nicht über sie selbst. PP 158.3
Wegen seiner Gleichgültigkeit gegenüber den göttlichen Bedingungen und Segnungen wird Esau in der Heiligen Schrift ein “Gottloser” (Hebräer 12,16) genannt. Er ist ein Vertreter derer, welche die Erlösung durch Christus für sich selbst geringschätzen und schnell dabei sind, ihr himmlisches Erbe für die vergänglichen Dinge dieser Welt dranzugeben. Die meisten Menschen leben für die Gegenwart, ohne einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Wie Esau rufen sie: “Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot!” 1.Korinther 15,32. Sie lassen sich nur von ihren Wünschen leiten und wollen sich nichts versagen. Lieber verzichten sie auf die wertvollsten Güter. Werden die Menschen vor die Wahl gestellt, entweder ihre nichtswürdigen Wünsche zu befriedigen oder aber die himmlischen Segnungen zu erlangen, die nur den Selbstlosen und Gottesfürchtigen verheißen sind, dann hat das selbstsüchtige Verlangen die Oberhand, während Gott im Grunde genommen verachtet wird. Wie viele vorgebliche Christen frönen Genüssen, die der Gesundheit schädlich sind und das feine Empfinden abstumpfen! Hält man ihnen die sittliche Pflicht vor Augen, sich von jeder Art Unsauberkeit zu reinigen und sich in der Furcht Gottes zu heiligen, sind sie gekränkt. Sie begreifen sehr wohl, daß man diese verderblichen Freuden nicht genießen und dennoch den Himmel gewinnen kann, und so gehen sie schließlich den Weg zum ewigen Leben nicht weiter, weil er ihnen zu schmal erscheint. PP 159.1
Viele Menschen verkaufen ihr Erstgeburtsrecht für sinnliche Genüsse. Sie opfern die Gesundheit, sie mindern ihre geistigen Fähigkeiten und verscherzen sich den Himmel, und das alles nur für zeitliche Vergnügen, ein Sich-gehen-Lassen, das ihren Charakter verdirbt. Wie Esau die Torheit seines übereilten Tausches erst zum Bewußtsein kam, als es zu spät war, so wird es am Tage Gottes jenen gehen, die ihr himmlisches Erbe gegen selbstsüchtige Freuden eingetauscht haben. PP 159.2