Patriarchen und Propheten

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Kapitel 65: Davids Großmut

Sauls entsetzlichem Blutbad unter den Priestern des Herrn “entrann aber ein Sohn Ahimelechs, des Sohnes Ahitubs, der hieß Abjathar, und floh zu David und verkündete ihm, daß Saul die Priester des Herrn getötet habe. David aber sprach zu Abjathar: Ich wußte es schon an dem Tage, als der Edomiter Doeg dort war, daß er’s Saul verraten werde. Ich bin schuldig am Leben aller aus deines Vaters Haus. Bleibe bei mir und fürchte dich nicht. Denn der, der mir nach dem Leben trachtet, der trachtet auch dir nach dem Leben; du bist bei mir in Sicherheit.” 1.Samuel 22,20-23. PP 641.1

Noch immer wurde David vom König gejagt; nirgends fand er Ruhe oder Sicherheit. Zwar bewahrten er und seine tapfere Schar die Stadt Kegila vor der Einnahme durch die Philister, aber trotzdem waren sie nicht einmal unter den von ihnen Geretteten sicher. Deshalb zogen sie sich aus Kegila in die Wüste Siph zurück. PP 641.2

Es gab zu jener Zeit wenig Erfreuliches in Davids Leben. Um so mehr beglückte ihn daher ein unerwarteter Besuch Jonathans, der seinen Zufluchtsort erfahren hatte. Kostbar war den Freunden die kurze Zeit, die sie miteinander verbrachten. Sie berichteten gegenseitig von ihren mannigfaltigen Erlebnissen, und Jonathan ermutigte David: “Fürchte dich nicht! Sauls, meines Vaters, Hand wird dich nicht erreichen, und du wirst König werden über Israel, und ich werde der Zweite nach dir sein; auch mein Vater weiß das sehr wohl.” Daß sie über Gottes wunderbare Führung im Leben Davids sprachen, tröstete den gehetzten Flüchtling doch sehr. “Und sie schlossen beide einen Bund miteinander vor dem Herrn. David blieb in Horescha, aber Jonathan zog wieder heim.” 1.Samuel 22,17.18. PP 641.3

Nach Jonathans Besuch richtete sich David innerlich durch Loblieder auf, die er zu seiner Harfe sang: PP 641.4

“Ich traue auf den Herrn. Wie sagt ihr denn zu mir: ‘Flieh wie ein Vogel auf die Berge! Denn siehe, die Gottlosen spannen den Bogen und legen ihre Pfeile auf die Sehnen, damit heimlich zu schießen auf die Frommen. Ja, sie reißen die Grundfesten um; was kann da der Gerechte ausrichten?’ Der Herr ist in seinem heiligen Tempel, des Herrn Thron ist im Himmel. Seine Augen sehen herab, seine Blicke prüfen die Menschenkinder. Der Herr prüft den Gerechten und den Gottlosen; wer Unrecht liebt, den haßt seine Seele.” Psalm 11,1-5. PP 642.1

Die Siphiter, in deren unwirtliches Gebiet David von Kegila aus gezogen war, benachrichtigten sofort Saul, sie wüßten, wo sich David verborgen hielte, und wären bereit, den König zu seinem Versteck zu führen. Aber David wurde gewarnt und konnte noch rechtzeitig Zuflucht in den Bergen zwischen Maon und dem Toten Meer suchen. PP 642.2

Wieder wurde Saul gemeldet: “Siehe, David ist in der Wüste EnGedi. Und Saul nahm dreitausend auserlesene Männer aus ganz Israel und zog hin, David samt seinen Männern zu suchen, in Richtung auf die Steinbockfelsen.” 1.Samuel 24,2.3. David hatte nur sechshundert Mann um sich, während Saul mit einem Heere von dreitausend gegen ihn anrückte. In einer abgelegenen Höhle warteten Isais Sohn und seine Männer auf Gottes Weisung, was nun geschehen sollte. Indessen beschleunigte Saul seinen Weg in die Berge hinauf, wandte sich aber plötzlich zur Seite und betrat ganz allein gerade die Höhle, in der sich David mit seiner Schar verborgen hielt. Als dessen Leute das sahen, bedrängten sie David, Saul zu töten. Der König in ihrer Gewalt, das war für sie der sichere Beweis, daß Gott selbst ihnen den Feind in die Hände gegeben hatte, damit sie ihn umbrächten. David war versucht, sich ihre Meinung zu eigen zu machen, aber sein Gewissen sagte ihm deutlich: “Lege deine Hand nicht an den Gesalbten des Herrn.” PP 642.3

Davids Männer waren noch immer nicht gewillt, Saul unbehelligt gehen zu lassen; sie erinnerten ihren Befehlshaber an Gottes Worte: “Siehe, ich will deinen Feind in deine Hände geben, daß du mit ihm tust, was dir gefällt. Und David stand auf und schnitt leise einen Zipfel vom Rock Sauls.” 1.Samuel 24,5-7. Aber danach schlug ihm das Gewissen, weil er das Gewand des Königs beschädigt hatte. PP 642.4

Saul erhob sich und verließ die Höhle, um weiter zu suchen. Da hörte er eine Stimme, daß er zusammenfuhr: “Mein Herr und König!” Er wandte sich um, und siehe da, es war Isais Sohn, der ihn anrief, der Mann, den er schon so lange in seine Gewalt zu bringen suchte, um ihn zu töten. David verbeugte sich tief vor dem König, den er damit als seinen Herrn anerkannte. Dann redete er Saul mit den Worten an: “Warum hörst du auf das Geschwätz der Menschen, die da sagen: David sucht dein Unglück? Siehe, heute haben deine Augen gesehen, daß dich der Herr in meine Hand gegeben hat in der Höhle, und man hat mir gesagt, daß ich dich töten sollte. Aber ich habe dich verschont; denn ich dachte: Ich will meine Hand nicht an meinen Herrn legen; denn er ist der Gesalbte des Herrn. Mein Vater, sieh doch hier den Zipfel deines Rocks in meiner Hand! Daß ich den Zipfel von deinem Rock schnitt und dich nicht tötete, daran erkenne und sieh, daß meine Hände rein sind von Bosheit und Empörung. Ich habe mich nicht an dir versündigt; aber du jagst mir nach, um mir das Leben zu nehmen.” 1.Samuel 24,9-12. PP 642.5

Saul war von diesen Worten tief beschämt; denn an ihrer Aufrichtigkeit war nicht zu zweifeln. Bewegt erkannte er, wie vollständig er in der Gewalt des Mannes gewesen war, dem er nach dem Leben trachtete. David stand im Bewußtsein seiner Unschuld vor ihm, und gerührt rief Saul: “Ist das nicht deine Stimme, mein Sohn David? Und Saul erhob seine Stimme und weinte und sprach zu David: Du bist gerechter als ich, du hast mir Gutes erwiesen; ich aber habe dir Böses erwiesen ... Wo ist jemand, der seinen Feind findet und läßt ihn mit Frieden seinen Weg gehen? Der Herr vergelte dir Gutes für das, was du heute an mir getan hast! Nun siehe, ich weiß, daß du König werden wirst und das Königtum über Israel durch deine Hand Bestand haben wird.” 1.Samuel 24,17-21. Und David machte einen Bund mit dem Könige, daß er zur gegebenen Zeit das Haus Sauls wohlwollend behandeln und seinen Namen nicht ausrotten würde. PP 643.1

Und doch konnte David nach Sauls Verhalten in der Vergangenheit den Zusicherungen des Königs nicht recht trauen, auch nicht hoffen, daß seine Reue lange anhalten würde. Er blieb deshalb lieber in den schützenden Bergen, während Saul nach Hause zurückkehrte. PP 643.2

Die Feindschaft den Dienern Gottes gegenüber mag bei den Menschen, die sich der Macht Satans ausgeliefert haben, vorübergehend von Versöhnlichkeit und Gewogenheit abgelöst werden, aber das ist meist nur von kurzer Dauer. Haben sie nachteilig über diese gesprochen und ihnen irgendwie geschadet, bemächtigt sich ihrer schon manchmal die Überzeugung, daß sie unrecht hatten. Der Geist Gottes wirkt auf sie ein, und sie demütigen ihre Herzen vor dem Herrn und vor denen, deren Wirksamkeit sie zu vernichten suchten; ja, sie vermögen ihr eigenes Verhalten sogar zu ändern. Aber sobald sie sich den Einflüsterungen des Bösen erneut zugänglich zeigen, leben die früheren Zweifel wieder auf und erwacht die alte Feindschaft. Und wieder geschieht, was sie bereut und zeitweilig unterlassen hatten. Sie verleumden und verdammen gerade diejenigen aufs härteste, vor denen sie demütige Bekenntnisse abgelegt haben. Solcher Menschen kann sich Satan dann mit weit größerem Erfolg bedienen als zuvor, weil sie wider besseres Wissen sündigen. PP 643.3

“Und Samuel starb, und ganz Israel versammelte sich und hielt ihm die Totenklage. Und sie begruben ihn in seinem Hause zu Rama.” 1.Samuel 25,1. Samuels Tod wurde vom Volk Israel als unersetzlicher Verlust empfunden. Mit ihm ging ein großer, wahrhafter Prophet und hervorragender Richter dahin, und ihre Trauer war tief und aufrichtig. Von Jugend auf war Samuel in der Lauterkeit seines Herzens Israel vorangegangen. Obwohl Saul König war, hatte Samuel viel stärkeren Einfluß als er, weil man ihn als pflichttreu, gehorsam und fromm kannte. Wir lesen, daß er Israel während seines ganzen Lebens richtete. PP 644.1

Als das Volk Sauls und Samuels Leben verglich, erkannte es, wie unklug es gewesen war, sich einen König zu wünschen, nur um sich nicht von den Nachbarvölkern zu unterscheiden. Viele wiesen beunruhigt auf die Zersetzung der herrschenden Gesellschaftsordnung durch Unglauben und Gottlosigkeit hin. Das Beispiel ihres Herrschers übte einen weitreichenden Einfluß aus, und mit Recht beklagten die Israeliten Samuels Tod, der ein Prophet des Herrn gewesen war. PP 644.2

Israel hatte den Gründer und Leiter seiner gesegneten Schulen verloren, darüber hinaus aber auch den Mann, zu dem jeder mit seinen Sorgen hatte gehen können, und von dem alle wußten, daß er vor Gott stets für das Wohl des Volkes eingetreten war. Samuels Fürbitte hatte ihnen immer ein Gefühl der Sicherheit gegeben; denn “des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist”. Jakobus 5,16. Jetzt hatte man allgemein das Empfinden, von Gott verlassen zu sein. Der König war offenbar dem Wahnsinn nahe. Das Recht wurde verfälscht, und aus Ordnung war Verwirrung geworden. PP 644.3

Gerade als das Volk von inneren Streitigkeiten zerrissen war und Samuels beruhigender, gottesfürchtiger Rat am nötigsten schien, legte Gott seinen greisen Diener zur Ruhe. Mit schmerzlichen Empfindungen schauten die Israeliten auf seinen schlichten Ruheplatz und erinnerten sich ihrer Torheit, ihn als Herrscher abgelehnt zu haben; hatte er doch in so engem Verhältnis zum Himmel gestanden, daß er ganz Israel mit dem Thron Jahwes zu verbinden schien. Samuel hatte sie gelehrt, Gott zu lieben und ihm zu gehorchen. Nun er tot war, sahen sie sich einem König ausgeliefert, der dem Bösen verfallen war und das Volk von Gott und dem Himmel trennen würde. PP 645.1

David konnte an Samuels Begräbnis nicht teilnehmen, aber er trauerte so tief und schmerzlich um ihn wie ein Sohn um den geliebten Vater. Er wußte, mit Samuels Tod war ein weiteres Hindernis für Sauls Untaten gefallen, und er fühlte sich noch bedrohter als zu Lebzeiten des Propheten. Während Sauls Aufmerksamkeit von der Totenklage für Samuel in Anspruch genommen war, benutzte David die Gelegenheit, sich nach einem Ort größerer Sicherheit umzuschauen. Deshalb floh er in die Wüste Paran. Dort verfaßte er den hundertzwanzigsten und hunderteinundzwanzigsten Psalm. In dieser trostlosen Einöde dichtete er in Erinnerung an den Tod des Propheten und an die Feindschaft des Königs: PP 645.2

“Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht. Siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht ... Der Herr behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele. Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit!” Psalm 121,2-8. PP 645.3

Solange David und seine Männer in der Wüste Paran weilten, beschützten sie die Herden eines reichen Mannes namens Nabal, der in jener Gegend große Besitzungen hatte, vor räuberischen Überfällen. Nabal, ein Nachkomme Kalebs, war aber von Natur aus mürrisch und geizig. PP 645.4

In der Zeit der Schafschur war man besonders gastfrei. David brauchte für sich und seine Leute dringend Nahrungsmittel. So sandte er, der damaligen Sitte entsprechend, zehn junge Männer zu Nabal, trug ihnen Grüße auf und ließ sie ausrichten: “Friede sei mit dir und deinem Hause und mit allem, was du hast! Ich habe gehört, daß du Schafschur hast. Nun, deine Hirten sind mit uns zusammen gewesen; wir haben ihnen nichts zuleide getan, und sie haben nichts vermißt, solange sie in Karmel1 gewesen sind. Frage deine Leute danach, die werden’s dir sagen. Und laß meine Leute Gnade finden vor deinen Augen, denn wir sind an einem Festtag gekommen. Gib deinen Knechten und deinem Sohn David, was du zur Hand hast.” 1.Samuel 25,6-8. PP 645.5

David und seine Männer hatten Nabals Herden wie eine Schutzmauer umgeben; nun baten sie diesen reichen Mann, ihnen für die geleisteten, wertvollen Dienste etwas von seinem Überfluß für ihren Lebensunterhalt abzugeben. David hätte sich natürlich mit seinen Kriegern an den Herden schadlos halten können. Sie taten es nicht, sie blieben ehrlich. Aber ihre Gefälligkeiten machten auf Nabal keinen Eindruck. Die Antwort, die er David geben ließ, war bezeichnend für sein Wesen: “Wer ist David? Und wer ist der Sohn Isais? Es gibt jetzt viele Knechte, die ihren Herren davongelaufen sind. Sollte ich mein Brot und mein Wasser nehmen und mein Fleisch, das ich für meine Scherer geschlachtet habe, und Leuten geben, von denen ich nicht weiß, wo sie her sind?” 1.Samuel 25,10.11. PP 646.1

Als die jungen Leute mit leeren Händen zurückkamen und David Bericht erstatteten, packte ihn der Zorn. Er befahl seinen Männern, sich für ein Gefecht zu wappnen, denn er war entschlossen, den Mann zu bestrafen, der ihm verweigerte, was ihm von rechtswegen zustand, und der ihn obendrein beschimpfte. Diese leidenschaftliche Erregung paßte freilich mehr zu Sauls als zu Davids Wesen, aber Isais Sohn mußte noch oft in der Leidensschule Geduld lernen. PP 646.2

Nachdem Davids Boten abgewiesen worden waren, eilte einer von Nabals Knechten zu dessen Frau Abigail und berichtete ihr das Vorgefallene: “Siehe, David hat Boten gesandt aus der Wüste, unsern Herrn zu grüßen, er aber hat sie angeschrien. Aber die Männer sind uns doch sehr nützlich gewesen und haben uns nichts zuleide getan, und wir haben nichts vermißt, solange wir mit ihnen umherzogen, wenn wir auf dem Felde waren, sondern sie sind wie Mauern um uns gewesen Tag und Nacht, solange wir die Schafe in ihrer Nähe gehütet haben. So bedenke nun und siehe zu, was du tust; denn es ist gewiß ein Unheil beschlossen über unsern Herrn und über sein ganzes Haus.” 1.Samuel 25,14-17. PP 646.3

Ohne ihrem Mann etwas zu sagen oder mit ihm über ihre Absicht zu sprechen, machte Abigail einen reichlichen Vorrat an Lebensmitteln zurecht und schickte ihn, auf Eseln verladen, unter der Obhut von Knechten voraus. Dann machte sie sich selbst auf, um Davids Schar zu begegnen. Sie fand sie im Schutz eines Hügels. “Als nun Abigail David sah, stieg sie eilends vom Esel und fiel vor David nieder und beugte sich zur Erde und fiel ihm zu Füßen und sprach: Ach, mein Herr, auf mich allein falle die Schuld! Laß deine Magd reden vor deinen Ohren und höre die Worte deiner Magd!” 1.Samuel 25,23.42. Abigail redete David mit soviel Ehrerbietung an, als spräche sie zu einem gekrönten Monarchen. Nabal hatte höhnisch gerufen: “Wer ist David?” Abigail nannte ihn “mein Herr”. Mit freundlichen Worten versuchte sie, seine Erbitterung zu besänftigen und ihren Mann zu entschuldigen. Schlicht und ohne jeden Stolz, erfüllt von göttlicher Weisheit und Liebe enthüllte sie ihm ihre starke innere Bindung zu ihrer Familie. Sie machte David klar, daß das unfreundliche Verhalten ihres Mannes keineswegs als persönliche Beleidigung aufzufassen sei, sondern einfach als Ausdruck seines unglückseligen, selbstsüchtigen Wesens. PP 647.1

“Nun aber, mein Herr, so wahr der Herr lebt und so wahr du selbst lebst: der Herr hat dich davor bewahrt, in Blutschuld zu geraten und dir mit eigener Hand zu helfen. So sollen deine Feinde und alle, die meinem Herrn übel wollen, wie Nabal werden!” 1.Samuel 25,26. Abigail beanspruchte keineswegs das Verdienst für sich, David von seinem übereilten Vorhaben abgebracht zu haben, sondern gab Gott die Ehre. Dann bot sie Davids Leuten ihre reichlichen Vorräte als Friedensgabe an und entschuldigte sich erneut, als ob sie selbst den Unwillen des Anführers heraufbeschworen hätte. PP 647.2

“Vergib deiner Magd die Anmaßung!” bat sie. “Der Herr wird meinem Herrn ein beständiges Haus bauen, denn du führst des Herrn Kriege. Es möge nichts Böses an dir gefunden werden dein Leben lang.” Abigail wies David ohne weiteres auf den Weg, den er gehen sollte: Er sollte die Kriege des Herrn führen und sich nicht für persönlich erlittenes Unrecht zu rächen suchen, selbst wenn er als Verräter verfolgt würde. Sie fuhr fort: “Und wenn sich ein Mensch erheben wird, dich zu verfolgen und dir nach dem Leben zu trachten, so soll das Leben meines Herrn eingebunden sein im Bündlein der Lebendigen bei dem Herrn, deinem Gott ... Wenn dann der Herr meinem Herrn all das Gute tun wird, was er dir zugesagt hat, und dich zum Fürsten bestellt hat über Israel, so wird das Herz meines Herrn frei sein von dem Anstoß und Ärgernis, daß du unschuldiges Blut vergossen und dir selber geholfen habest. Und wenn der Herr meinem Herrn wohltun wird, so wollest du an deine Magd denken.” 1.Samuel 25,28-31. PP 647.3

Solche Worte konnten nur über die Lippen eines Menschen kommen, der von himmlischer Weisheit erfüllt war. Wie der Duft einer Blume war Abigails Gottesfurcht ganz unbewußt aus ihrem gesamten Verhalten zu spüren. In ihr wohnte der Geist des Sohnes Gottes. Ihre Rede war mit Anmut gewürzt, voller Güte und Friedfertigkeit und strahlte himmlischen Einfluß aus. In David kamen nun freundlichere Empfindungen auf, und er erschrak bei dem Gedanken an die Folgen, die seine vorschnellen Absichten hätten haben können. “Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.” Matthäus 5,9. Gäbe es doch recht viele solcher Frauen wie diese Israelitin, die Zorn besänftigen, voreilige Entschlüsse verhindern und mit klugen, beruhigenden Worten großes Unheil verhüten! PP 648.1

Ein geheiligtes christliches Leben verbreitet immer Licht, Trost und Frieden. Es ist geprägt von Lauterkeit, Zartgefühl, Arglosigkeit und Hilfsbereitschaft. Es wird von jener selbstlosen Liebe beherrscht, die heiligenden Einfluß ausübt. Weil Christus es erfüllt, hinterläßt es überall leuchtende Spuren. Abigail zeigte im Tadel und im Rat Weisheit. Unter dem Einfluß ihrer Überzeugungskraft schmolz Davids Zorn. Er sah ein, daß er im Begriff gewesen war, etwas Törichtes zu tun, und daß er seine Selbstbeherrschung verloren hatte. PP 648.2

Demütig nahm er die Zurechtweisung hin und handelte damit nach seinen eigenen Worten: “Der Gerechte schlage mich freundlich und weise mich zurecht; das wird mir wohltun wie Balsam auf dem Haupte.” Psalm 141,5. Er dankte Abigail und segnete sie, weil sie ihn recht beraten hatte. Viele halten es schon für lobenswert, Vorwürfe hinzunehmen, ohne ungeduldig zu werden. Aber nur wenige vermögen Tadel mit Dank hinzunehmen und jene gar zu segnen, die sie vor dem Weg des Unrechts bewahren wollen. PP 648.3

Als Abigail heimkehrte, fand sie Nabal und seine Gäste bei einem großen Fest, das zu einem regelrechten Trinkgelage ausgeartet war. Darum berichtete sie ihrem Mann erst am nächsten Morgen von der Unterredung mit David. Nabal war im Grunde ein Feigling. Als ihm klar wurde, wie nahe er durch seine Torheit dem Tode gewesen war, erlitt er einen Schlaganfall. Und aus Furcht, David hinge seinen Rachegelüsten weiter nach, versank er in hoffnungslosen Stumpfsinn. Zehn Tage darauf starb er. Das ihm von Gott geschenkte Leben war für seine Umwelt nur ein Fluch gewesen. Mitten im Festtrubel und beim Feiern sprach Gott zu ihm wie zu dem reichen Mann im Gleichnis: “Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern.” Lukas 12,20. PP 649.1

David heiratete später Abigail. Zwar hatte er schon eine Frau, aber die Sitten der Zeit trübten auch seine Einsicht und beeinflußten sein Tun. Selbst bedeutende und wertvolle Menschen irrten, wenn sie sich den Gewohnheiten der Welt anpaßten. David bekam es lebenslang schmerzlich zu spüren, daß er mehrere Frauen heiratete. PP 649.2

Nach Samuels Tod hatte David für einige Monate Ruhe und Frieden und zog sich wieder in die Einsamkeit zu den Siphiten zurück. Aber diese Leute waren ihm nach wie vor nicht gut gesonnen. In der Hoffnung, die Gunst des Königs zu gewinnen, verrieten sie ihm Davids Versteck. Diese Nachricht weckte die in Saul schlummernde Dämonie der Leidenschaft erneut. Wieder bot er seine Krieger zur Verfolgung auf. Aber freundlich gesinnte Kundschafter warnten David, der daraufhin mit einigen Männern Sauls Standort ausfindig zu machen suchte. Die Nacht war hereingebrochen, als sie, behutsam vorrückend, auf das Lager stießen und vor sich die Zelte des Königs und seines Gefolges sahen. Niemand bemerkte sie, denn alles lag in tiefem Schlaf. Als David seine Gefolgsleute aufforderte, mit ihm mitten unter die Feinde zu gehen, und fragte: “Wer begleitet mich hinab in Sauls Lager?” da antwortete Abisai sofort: “Ich will mit dir hinab.” 1.Samuel 26,6. PP 649.3

Im dunklen Schatten der Berge betraten David und sein Begleiter das feindliche Lager. Als sie sich über die genaue Zahl ihrer Gegner Klarheit zu verschaffen suchten, stießen sie auf den schlafenden Saul. Sein Speer steckte in der Erde, ein Krug mit Wasser stand neben seinem Haupt. Neben ihm lag Abner, sein Feldhauptmann, und um sie herum die fest schlafenden Krieger. Abisai hob seinen Spieß und flüsterte David zu: “Gott hat deinen Feind heute in deine Hand gegeben; so will ich ihn nun mit seinem Speer an den Boden spießen mit einem Mal, daß es keines zweiten mehr bedarf.” Er wartete auf die Erlaubnis, aber an sein Ohr drangen ebenso leise die Worte: “Tu ihm nichts zuleide; denn wer könnte die Hand an den Gesalbten des Herrn legen und ungestraft bleiben? ... So wahr der Herr lebt: der Herr wird ihn schlagen, wenn seine Zeit kommt, daß er sterbe, oder er wird in den Krieg ziehen und umkommen. Von mir lasse der Herr fern sein, daß ich meine Hand sollte an den Gesalbten des Herrn legen. Nimm nun den Spieß zu seinen Häupten und den Wasserkrug und laß uns gehen. So nahm David den Spieß und den Wasserkrug zu Häupten Sauls, und sie gingen weg, und es war niemand, der es sah oder merkte oder der erwachte, sondern sie schliefen alle ...” 1.Samuel 26,8-12. Es ist dem Herrn ein Leichtes, den Stärksten kraftlos und den Klügsten unvorsichtig werden zu lassen sowie die Pläne des Gewandtesten zu durchkreuzen. PP 649.4

Als David in sicherer Entfernung auf einem Berggipfel stand, rief er die Kriegsleute und Abner mit lauter Stimme an: “Bist du nicht ein Mann? Und wer ist dir gleich in Israel? Warum hast du denn deinen Herrn, den König, nicht bewacht? Denn es ist einer vom Volk hineingekommen, deinen Herrn, den König, umzubringen. Das war nicht recht, was du getan hast. So wahr der Herr lebt: ihr seid Kinder des Todes, weil ihr euren Herrn, den Gesalbten des Herrn, nicht bewacht habt! Nun sieh doch nach, wo der Spieß des Königs ist und der Wasserkrug, der zu seinen Häuptern war. Da erkannte Saul die Stimme Davids und sprach: Ist das nicht deine Stimme, mein Sohn David? David sprach: Es ist meine Stimme, mein Herr und König. Und sprach weiter: Warum verfolgt denn mein Herr seinen Knecht? Was habe ich getan? Und was ist Böses in meiner Hand? So höre doch nun mein Herr, der König, die Worte seines Knechtes.” 1.Samuel 26,15-19. Abermals mußte der König zugeben: “Ich habe gesündigt; komm wieder, mein Sohn David, ich will dir hinfort nichts Böses mehr tun, weil mein Leben heute in deinen Augen teuer gewesen ist. Siehe, ich habe töricht und sehr unrecht getan. David antwortete: Siehe, hier ist der Spieß des Königs; es komme einer von den jungen Leuten herüber und hole ihn.” 1.Samuel 26,21.22. Obwohl Saul versprochen hatte: “Ich will dir hinfort nichts Böses mehr tun”, begab sich David nicht in seine Gewalt. PP 650.1

Daß David das Leben seines Königs ein zweites Mal schonte, machte noch tieferen Eindruck auf Saul und ließ ihn seine Schuld noch zerknirschter eingestehen. Er war verwundert und überwältigt zugleich von soviel Großherzigkeit. Als er von David schied, rief er aus: “Gesegnet seist du, mein Sohn David; du wirst’s ausführen und vollenden.” 1.Samuel 26,25. Aber Isais Sohn hatte die Hoffnung aufgegeben, daß der König lange in dieser Gemütsverfassung bleiben würde. PP 651.1

David zweifelte allmählich an einer Aussöhnung mit Saul. Es schien ihm fast unvermeidlich, daß er schließlich doch der Arglist des Königs zum Opfer fallen würde, und so entschloß er sich, wieder im Lande der Philister Zuflucht zu suchen. Mit seinen sechshundert Mann ging er zu Achis, dem König von Gath. PP 651.2

Davids Überzeugung, Saul würde seinen mörderischen Plan eines Tages ganz sicher ausführen, entstand ohne Gottes Rat. Selbst als Saul Ränke schmiedete und seinen Mordplan zu verwirklichen suchte, war der Herr am Werke, David das Königreich zu sichern. Gott führt seine Pläne durch, auch wenn sie dem menschlichen Auge verhüllt sind. Viele können Gottes Wege nicht verstehen. Und da sie auf äußere Anzeichen sehen, deuten sie Versuchungen und Prüfungen, die Gott über sie kommen läßt, als widrige Umstände, die sie nur zugrunde richten sollen. So achtete auch David nur auf die scheinbaren Widerstände und schaute nicht auf Gottes Verheißungen. Es schien ihm mehr als zweifelhaft, daß er den Thron Israels je besteigen würde. Die endlosen Anfechtungen hatten ihn in seinem Glauben müde gemacht und seine Geduld erschöpft. PP 651.3

Nicht der Herr schickte David zu Israels erbittertsten Feinden, den Philistern, um bei ihnen Schutz zu suchen. Gerade sie sollten bis zuletzt zu Israels schlimmsten Gegnern zählen; und doch floh er in der Not zu ihnen, damit sie ihm hülfen. Nachdem er alles Vertrauen zu Saul und dessen Dienern verloren hatte, lieferte er sich lieber den Feinden seines Volkes auf Gnade und Ungnade aus. David war ein ausgezeichneter Feldherr und hatte sich als kluger, erfolgreicher Kriegsmann erwiesen. Aber daß er jetzt zu den Philistern ging, wirkte sich zu seinem eigenen Schaden aus. Gott hatte ihn dazu berufen, sein Banner im Lande Juda aufzupflanzen. Wenn er den ihm zugewiesenen Platz ohne des Herrn Befehl verließ, geschah dies aus Mangel an Glauben. PP 651.4

Tatsächlich wurde Gott durch Davids Unglauben entehrt. Die Philister fürchteten sich weniger vor Saul und seinen Heeren als vor David. Wenn er sich jetzt aber unter ihren Schutz stellte, verriet er ihnen selbst die Schwäche seines Volkes. Das ermutigte diese hartnäckigen Gegner natürlich, Israel zu unterjochen. David war gesalbt worden, damit er Gottes Volk beschützte. Der Herr will auf keinen Fall, daß seine Knechte die Gottlosen ermutigen, indem sie ihnen die Schwächen seines Volkes enthüllen oder den Anschein erwecken, als sei ihnen dessen Wohl gleichgültig. Außerdem mußten Davids Brüder den Eindruck gewinnen, er sei zu den Heiden übergegangen und diene hinfort deren Göttern. Er gab ihnen Anlaß, seine Beweggründe falsch auszulegen, und viele faßten ein Vorurteil gegen ihn. Er tat gerade das, was Satan durch ihn erreichen wollte. Denn als er bei den Philistern Zuflucht suchte, löste das bei den Widersachern Gottes und seines Volkes lauten Triumph aus. David hörte zwar nie auf, Gott anzubeten und sich auch weiterhin der Sache zu widmen. Aber er vertraute ihm seine persönliche Sicherheit nicht mehr an. Das trübte seinen aufrechten, gläubigen Charakter, den Gott bei seinen Dienern erwartet. PP 652.1

Die Philister nahmen David sehr freundlich auf. Diesen warmen Empfang verdankte er dem Umstand, daß deren König ihn bewunderte und es außerdem seiner Eitelkeit schmeichelte, daß ein Hebräer bei ihm Schutz suchte. Und in Achis’ Gebiet fühlte sich David wirklich vor Verrat sicher. Er brachte daher seine Familie, seine Dienerschaft und alle bewegliche Habe mit, und das Gleiche taten seine Leute. Es schien, als wolle er sich für dauernd im Lande der Philister niederlassen. Achis freute sich darüber und versprach, die israelitischen Flüchtlinge zu beschirmen. PP 652.2

Als David um einen Wohnsitz auf dem Lande bat, weit weg von der Hauptstadt, gab ihm der König Ziklag zum Besitz. David war sich darüber klar, daß es für ihn und seine Leute gefährlich war, unter Götzendienern zu leben. In einer Stadt, die ihnen ganz allein überlassen blieb, konnten sie Gott freier anbeten als in Gath, wo die heidnischen Riten zur Quelle des Unheils und des Verdrusses geworden wären. PP 652.3

Solange David in dieser abseits gelegenen Stadt lebte, führte er Krieg gegen die Geschuriter, Girsiter und Amalekiter und ließ keinen am Leben, der Kunde davon nach Gath hätte bringen können. Kehrte er vom Kampf zurück, tat er Achis gegenüber so, als habe er sein eigenes Volk, die Einwohner Judas, bekämpft. Mit dieser Heuchelei half er die Widerstandskraft der Philister zu stärken; denn der König sagte: “Er hat sich in Verruf gebracht bei seinem Volk Israel; darum wird er für immer mein Knecht sein.” 1.Samuel 27,12. David wußte, daß nach Gottes Willen diese heidnischen Stämme vernichtet werden sollten und er für diese Aufgabe bestimmt war. Aber mit solchen Täuschungen handelte er nicht nach Gottes Ratschluß. PP 652.4

“Und es begab sich zu der Zeit, daß die Philister ihr Heer sammelten, um in den Kampf zu ziehen gegen Israel. Und Achis sprach zu David: Du sollst wissen, daß du und deine Männer mit mir ausziehen sollen im Heer.” David dachte nicht daran, die Hand gegen sein eigenes Volk zu erheben. Aber er wußte auch nicht recht, wie er sich verhalten sollte, solange ihm nicht eindeutige Umstände seine Pflicht deutlich machten. So antwortete er dem König ausweichend: “Wohlan, du sollst erfahren, was dein Knecht tun wird.” 1.Samuel 28,1.2. Achis verstand diese Worte als Beistandsverpflichtung für den bevorstehenden Krieg und gab David seinerseits das Versprechen, ihm unter großen Ehrungen eine hohe Stellung an seinem Hofe zu übertragen. PP 653.1

Aber obwohl Davids Glaube an Gottes Verheißungen ziemlich ins Wanken geraten war, hielt er sich doch vor Augen, daß Samuel ihn zum König Israels gesalbt hatte. Er dachte an die Siege, die Gott ihm in der Vergangenheit über seine Feinde geschenkt hatte, und an Gottes große Gnade, die ihn vor Saul errettet hatte. Und er beschloß, das heilige Vermächtnis nicht zu verraten. Obwohl der König Israels ihm nach dem Leben trachtete, wollte er sich nicht mit seinen Streitkräften den Gegnern seines Volkes anschließen. PP 653.2