Patriarchen und Propheten
Kapitel 48: Die Aufteilung Kanaans
Dem Sieg bei Beth-Horon folgte bald die Eroberung Südkanaans. “So schlug Josua das ganze Land auf dem Gebirge und im Süden und im Hügelland und an den Abhängen ... und unterwarf alle diese Könige mit ihrem Lande auf einmal; denn der Herr, der Gott Israels, stritt für Israel. Und Josua kehrte ins Lager nach Gilgal zurück mit ganz Israel.” Josua 10,40.42.43. Erschrocken über den Erfolg des israelitischen Heeres, schlossen sich jetzt die Stämme Nordpalästinas gegen sie zusammen. An der Spitze dieses Bundes stand Jabin, König von Hazor, einer Landschaft westlich des Meromsees. “Diese zogen aus mit ihrem ganzen Heer” — und das war viel größer als alle anderen, auf die Israel bisher in Kanaan gestoßen war —, “ein großes Volk, so viel wie der Sand am Meer, und sehr viele Rosse und Wagen. Alle diese Könige versammelten sich und kamen und lagerten sich gemeinsam am Wasser von Merom, um mit Israel zu kämpfen.” Aber wieder erhielt Josua die Ermutigung: “Fürchte dich nicht vor ihnen! Denn morgen um diese Zeit will ich sie alle vor Israel dahingeben und sie erschlagen.” Josua 11,4-6. PP 490.1
Am Meromsee überfiel Josua das Lager der Verbündeten und vernichtete ihre Streitkräfte völlig. “Der Herr gab sie in die Hände Israels, und sie schlugen sie und jagten ihnen nach ... bis niemand mehr unter ihnen übrigblieb.” Josua 11,8. Wagen und Pferde, die der Stolz der Kanaaniter gewesen waren, sollten sich die Israeliten jedoch nicht aneignen. Auf Gottes Befehl wurden die Wagen verbrannt und die Pferde gelähmt und dadurch kampfunfähig gemacht. Nicht auf Wagen oder Pferde sollte Israel sein Vertrauen setzen, sondern “auf den Namen des Herrn, ihres Gottes”. PP 490.2
Eine Stadt nach der andern wurde genommen und Hazor, das Bollwerk der Verbündeten, verbrannt. Der Krieg währte noch einige Jahre, aber am Ende war Josua Herr über Kanaan. “Und das Land war zur Ruhe gekommen vom Kriege.” Josua 11,23. PP 490.3
Obwohl die Macht der Kanaaniter zusammengebrochen war, hatte man ihnen nicht allen Besitz genommen. Im Westen hielten die Philister entlang der Meeresküste noch eine fruchtbare Ebene; im Norden lag das Gebiet der Sidonier, die auch den Libanon besaßen; und im Süden, Richtung Ägypten, war das Land ebenfalls noch von Israels Feinden besetzt. Dennoch sollte Josua den Krieg nicht fortsetzen. Ehe er die Führung über Israel niederlegte, gab es für ihn noch eine andere Aufgabe zu erfüllen. Das ganze Land, sowohl die bereits eroberten als auch die noch nicht unterworfenen Gebiete, sollte unter Israel aufgeteilt werden. Und es war die Pflicht jedes Stammes, das ihm als Erbe zugewiesene Gebiet selbst zu unterwerfen. Vertrauten sie Gott, würde er ihre Feinde vor ihnen vertreiben; und er verhieß ihnen noch größere Besitztümer, wenn sie seinen Bund treu hielten. PP 491.1
Die Aufteilung wurde Josua, dem Hohenpriester Eleasar und den Stammeshäuptern übertragen; jedem Stamm sein Gebiet durch das Los zugewiesen. Mose selbst hatte die Grenzen festgesetzt, wie das Land unter die Stämme aufgeteilt werden sollte, wenn sie im Besitz Kanaans wären, und aus jedem Stamm einen Fürsten zur Überwachung der Landverteilung bestimmt. Der Stamm Levi, für den Heiligtumsdienst ausgesondert, war in diese Verlosung nicht einbezogen; aber ihm wurden achtundvierzig Städte in den verschiedenen Gegenden des Landes als Erbe zugewiesen. PP 491.2
Zuvor aber meldete Kaleb, begleitet von seinen Stammeshäuptern, einen besonderen Anspruch an. Neben Josua war er jetzt der älteste Mann in Israel. Sie waren die einzigen Kundschafter gewesen, die günstig über das Land der Verheißung berichtet und das Volk ermutigt hatten, hinaufzuziehen und es im Namen des Herrn einzunehmen. Jetzt erinnerte er Josua daran, was ihm damals als Lohn seiner Treue verheißen wurde: “Das Land, das dein Fuß betreten hat, soll dein und deiner Nachkommen Erbteil sein für immer, weil du dem Herrn, meinem Gott, treulich gefolgt bist.” Josua 14,9. Deshalb äußerte er die Bitte, ihm Hebron als Besitz zu geben. Dort war jahrelang Abrahams, Isaaks und Jakobs Heimat gewesen; dort, in der Höhle von Machpela, waren sie begraben. In Hebron saßen die gefürchteten Enakiter, über deren schreckenerregende Erscheinung die Kundschafter damals so entsetzt waren, daß ihretwegen ganz Israel der Mut verging. Gerade diesen Ort erwählte sich Kaleb im Vertrauen auf die Kraft Gottes zum Erbteil. PP 491.3
“Siehe, der Herr hat mich am Leben gelassen”, sagte er, “wie er mir zugesagt hat. Es sind nun fünfundvierzig Jahre her, daß der Herr dies zu Mose sagte ... Und nun siehe, ich bin heute fünfundachtzig Jahre alt und bin noch heute so stark, wie ich war an dem Tage, da mich Mose aussandte. Wie meine Kraft damals war, so ist sie noch jetzt, zu kämpfen und aus- und einzuziehen. So gib mir nun dies Gebirge, von dem der Herr geredet hat an jenem Tage; denn du hast’s gehört am selben Tage, daß dort die Enakiter wohnen und große und feste Städte sind. Vielleicht wird der Herr mit mir sein, damit ich sie vertreibe, wie der Herr zugesagt hat.” Josua 14,10-12. Die Obersten Judas unterstützten diese Bitte. Da Kaleb selbst von diesem Stamm für die Verteilung des Landes berufen war, hatte er sich diese Männer als Rückhalt für seine Forderung mitgenommen. Es sollte nicht aussehen, als habe er seine Stellung dazu benutzt, andere zu übervorteilen. PP 492.1
Seine Bitte wurde sofort gewährt. Die Eroberung der Festung der Riesen konnte keinem Zuverlässigeren anvertraut werden. “Da segnete ihn Josua und gab Kaleb, dem Sohn Jephunnes, Hebron zum Erbteil”, “weil er dem Herrn, dem Gott Israels, treulich gefolgt war.” Josua 14,13.14. Kalebs Glaube war noch ebenso stark wie damals, als er dem ungünstigen Bericht der Kundschafter widersprach. Er hatte auf Gottes Zusage vertraut, daß er sein Volk in den Besitz Kanaans bringen werde, und ihm rückhaltlos gehorcht. Mit seinem Volk hatte er die lange Wüstenwanderung ertragen und die Enttäuschungen und Beschwernisse der Schuldiggewordenen geteilt. Doch er klagte niemals darüber, sondern rühmte Gottes Gnade, die ihn in der Wüste bewahrte, als seine Brüder hinweggerafft wurden. In allen Mühsalen, Gefahren und Plagen der Wüstenzeit und während der Kriegsjahre seit dem Einzug in Kanaan hatte der Herr ihn behütet; und noch jetzt, mit über achtzig Jahren, war seine Lebenskraft ungemindert. Er erbat sich kein Land, das bereits erobert war, sondern den Ort, den die Kundschafter vor allen anderen als uneinnehmbar bezeichnet hatten. Mit Gottes Hilfe wollte er den Riesen, deren Stärke einst Israels Glauben ins Wanken brachte, die Festung entreißen. Sein Wunsch ging nicht auf Selbstverherrlichung hinaus. Ihm lag daran, Gott zu ehren und die Stämme zu ermutigen, das Land, das ihre Väter für uneinnehmbar gehalten hatten, vollständig zu erobern. PP 492.2
Kaleb erhielt das Erbteil, wonach er vierzig Jahre lang ausgeschaut hatte, und im Vertrauen auf Gott “vertrieb er von dort die drei Söhne Enaks”. Josua 15,14. Aber sein Eifer erlahmte nicht, nachdem er für sich und sein Haus Besitz erworben hatte. Er ließ sich keineswegs nieder, um das Erbe nun zu genießen, sondern drängte auf weitere Eroberungen zum Besten des Volkes und zur Ehre Gottes. PP 493.1
Die Feiglinge und Empörer waren in der Wüste umgekommen, aber die gerechten Kundschafter aßen von den Trauben am Bache Eschkol. Jeder empfing nach seinem Glauben. Die Ungläubigen hatten ihre Befürchtungen bestätigt gesehen. Trotz Gottes Verheißungen hatten sie behauptet, es sei unmöglich, Kanaan zu erben, und sie nahmen es auch nicht in Besitz. Aber die Gott vertrauten und nicht so sehr auf die Schwierigkeiten als vielmehr auf die Stärke des Allmächtigen sahen, betraten das verheißene Land. Jene ehrenwerten Männer “haben durch den Glauben Königreiche bezwungen ... sind des Schwertes Schärfe entronnen, sind kräftig geworden aus der Schwachheit, sind stark geworden im Streit, haben der Fremden Heere zum Weichen gebracht.” “Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.” Hebräer 11,33.34; 1.Johannes 5,4. PP 493.2
Einen ganz anderen Geist als Kaleb bei der Verteilung des Landes verriet die Forderung der Kinder Josephs, des Stammes Ephraim mit dem halben Stamm Manasse. In Anbetracht ihrer großen Zahl verlangten sie einen doppelten Gebietsanteil. Dabei war ihnen der reichste des Landes zugefallen; auch die fruchtbare Ebene Saron gehörte dazu. Aber im Tal besaßen die Kanaaniter noch viele wichtige Städte. Vor der Mühe und Gefahr, ihren Besitz erst zu erobern, schreckten viele Israeliten zurück und verlangten zusätzlich bereits unterworfenes Gebiet. Der Stamm Ephraim zählte ebenso wie der Stamm Juda, zu dem Josua gehörte, zu den größten in Israel, und ihre Mitglieder fühlten sich wie selbstverständlich zu besonderen Ansprüchen berechtigt. “Warum hast du mir nur ein Los und ein Erbteil gegeben?” sagten sie. “Ich bin doch ein großes Volk.” Josua 17,14. Aber Josua blieb unnachgiebig und wich nicht von strenger Gerechtigkeit ab. Er antwortete: “Weil du ein großes Volk bist, so geh hinauf ins Waldgebirge und rode dort für dich im Lande der Perisiter und Rephaiter, wenn dir das Gebirge Ephraim zu eng ist.” Josua 17,15. PP 493.3
Die Antwort zeigte den wahren Grund ihrer Beschwerde: Es fehlte ihnen an Glauben und Mut, die Kanaaniter zu vertreiben. “Das Gebirge wird nicht Raum genug für uns haben”, sagten sie; “dazu gibt es eiserne Wagen bei allen Kanaanitern, die im ebenen Land wohnen.” PP 494.1
Gott hatte Israel seine Hilfe versprochen, und hätten die Ephraimiten Kalebs Glaubensmut besessen, hätte ihnen kein Feind widerstehen können. Ihrem offensichtlichen Wunsch, Mühen und Gefahren aus dem Wege zu gehen, begegnete Josua mit Festigkeit. “Du bist ein großes Volk”, sagte er. “Du wirst ‘die Kanaaniter vertreiben, obwohl sie eiserne Wagen haben, denn du wirst mächtiger sein als sie’”. Josua 17,16-18. So führte er ihre eigenen Beweisgründe gegen sie an. Waren sie ein großes Volk, wie sie behaupteten, mußten sie auch in der Lage sein, den eigenen Weg zu gehen wie ihre Brüder. Mit Gottes Hilfe brauchten sie die eisernen Wagen nicht zu fürchten. PP 494.2
Bis dahin war Gilgal Israels Hauptquartier. Hier stand auch die Stiftshütte. Nun sollte sie einen bleibenden Aufenthaltsort finden. Das war Silo, eine kleine Stadt im Gebiet von Ephraim. Sie lag etwa in der Mitte des Landes und war von allen Stämmen leicht zu erreichen. Dieses Gebiet war bereits völlig unterworfen, so daß die Anbeter Gottes nicht belästigt werden konnten. “Es versammelte sich die ganze Gemeinde der Kinder Israel in Silo und richtete dort die Stiftshütte auf.” Josua 18,1. Die noch im Lager befindlichen Stämme folgten ihr bei der Verlegung von Gilgal nach Silo und schlugen dort ihre Zelte auf. Hier lebten sie, bis sie sich auf ihre Besitzungen verteilten. PP 494.3
Dreihundert Jahre blieb die Bundeslade in Silo, bis sie wegen der Sünden des Hauses Eli in die Hände der Philister fiel und Silo zerstört wurde. Sie kam nie wieder dorthin zurück. Der Heiligtumsdienst wurde schließlich in den Tempel zu Jerusalem verlegt und Silo damit bedeutungslos. Heute kennzeichnen nur noch Ruinen den Platz, wo es einst stand. Viel später wurde sein Schicksal Jerusalem zur Warnung vorgehalten. “Geht hin an meine Stätte zu Silo, wo früher mein Name gewohnt hat”, sprach der Herr durch den Propheten Jeremia, “und schaut, was ich dort getan habe wegen der Bosheit meines Volks Israel ... so will ich mit dem Hause, das nach meinem Namen genannt ist, auf das ihr euch verlaßt, und mit der Stätte, die ich euch und euren Vätern gegeben habe, ebenso tun, wie ich mit Silo getan habe.” Jeremia 7,12.14. PP 494.4
“Als sie das ganze Land ausgeteilt hatten” und allen Stämmen ihr Erbteil zugemessen war, stellte auch Josua seine Forderung. Wie Kaleb hatte er ebenfalls eine besondere Verheißung bezüglich seines Erbes erhalten; doch bat er nicht um eine große Provinz, sondern um eine einzige Stadt. Und sie “gaben ihm ... die Stadt, die er forderte ... Dann baute er die Stadt auf und wohnte darin.” Josua 19,49.50. Man nannte sie Timnath-Serach, “der Teil, der übrig bleibt”, als ein dauerndes Zeugnis für den edlen Charakter und die Selbstlosigkeit des Eroberers. Statt sich die Kriegsbeute als erster anzueignen, stellte er seine Ansprüche zurück, bis selbst der Geringste aus seinem Volk versorgt war. PP 495.1
Sechs von den Städten, die den Leviten zugewiesen worden waren — auf jeder Seite des Jordans drei —, wurden zu Freistädten bestimmt. Dorthin konnte ein Totschläger zu seiner Sicherheit fliehen. Schon Mose hatte bestimmt: “Ihr sollt Städte auswählen, daß sie für euch Freistädte seien, wohin fliehen soll, wer einen Totschlag aus Versehen tut. Und es sollen unter euch diese Städte eine Zuflucht sein, daß der nicht sterben muß, der einen Totschlag getan hat, bis er vor der Gemeinde vor Gericht gestanden hat.” 4.Mose 35,11.12. Diese barmherzige Einrichtung war wegen der Blutrache nötig, einer alten Sitte, bei der die Bestrafung des Mörders dem nächsten Verwandten oder Erben des Getöteten zufiel. War die Schuld klar erwiesen, brauchte man nicht auf die Gerichtsverhandlung durch die Obrigkeit zu warten. Der Rächer konnte den Schuldigen überallhin verfolgen und ihn umbringen, wo er ihn fand. Der Herr ließ diesen Brauch damals nicht abschaffen, aber er traf eine Sicherheitsmaßnahme für diejenigen, die ohne Absicht getötet hatten. PP 495.2
Die Freistädte waren so verteilt, daß sie aus jeder Gegend des Landes in einem halben Tag zu erreichen waren. Die dahin führenden Straßen sollten immer in gutem Zustand sein. Überall standen Wegweiser, die in deutlicher, auffallender Schrift das Wort “Zuflucht” trugen, damit der Flüchtige keinen Augenblick aufgehalten wurde. Jeder — ob Hebräer, Fremdling oder Gast — konnte sich diese Einrichtung zunutze machen. Wenn auch dadurch die Unschuldigen nicht übereilt getötet werden durften, entgingen die Missetäter deswegen ihrer Strafe nicht. Die zuständigen Obrigkeiten hatten den Fall des Flüchtlings unparteiisch zu prüfen, und nur wenn er vom vorsätzlichen Mord freigesprochen wurde, genoß er den Schutz der Freistadt. Der Schuldige wurde dem Rächer ausgeliefert. Wer Anspruch auf Schutz hatte, mußte an dem ihm zugewiesenen Zufluchtsort bleiben. Bewegte er sich außerhalb der vorgeschriebenen Grenzen und der Bluträcher fand ihn, bezahlte er die Mißachtung der göttlichen Vorkehrung mit dem Leben. Aber beim Tode des jeweiligen Hohenpriesters stand es allen, die in den Freistädten Schutz gesucht hatten, frei, zu ihrem Besitztum zurückzukehren. PP 495.3
Bei der Anklage wegen Mordes durfte der Beschuldigte nicht auf die Aussage eines einzigen Zeugen hin verurteilt werden, selbst dann nicht, wenn die Umstände klar gegen ihn sprachen. Der Herr befahl: “Wer einen Menschen erschlägt, den soll man töten auf den Mund von Zeugen hin. Ein einzelner Zeuge aber soll keine Aussage machen, um einen Menschen zum Tode zu bringen.” 4.Mose 35,30. Christus gab Mose diese Anweisungen für Israel, und als er auf Erden weilte, lehrte er seine Jünger, wie man mit Irrenden umgeht. Er wiederholte ihnen, daß eines einzigen Mannes Zeugnis nicht zum Freispruch oder zur Verurteilung genüge, um strittige Dinge zu schlichten. In all solchen Fragen sollen sich zwei oder mehr zusammentun und gemeinsam die Verantwortung tragen, “auf daß jegliche Sache stehe auf zweier oder dreier Zeugen Mund”. Matthäus 18,16. PP 496.1
Wurde der Angeklagte des Mordes für schuldig befunden, retteten ihn weder Sühne noch Lösegeld. “Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.” “Ihr sollt kein Sühnegeld nehmen für das Leben des Mörders; denn er ist des Todes schuldig und soll des Todes sterben.” Du sollst “ihn von meinem Altar wegreißen, daß man ihn töte”, hieß Gottes Befehl. “Das Land kann nicht entsühnt werden vom Blut, das darin vergossen wird, außer durch das Blut dessen, der es vergossen hat.” 1.Mose 9,6; 4.Mose 35,31.33; 2.Mose 21,14. Sicherheit und Reinheit des Volkes forderten bei Mord harte Bestrafung. Das menschliche Leben, das allein Gott verleihen kann, mußte heiliggehalten werden. PP 496.2
Die für das Volk Gottes im Altertum bestimmten Freistädte waren ein Sinnbild für die Zuflucht, die Christus bietet. Derselbe barmherzige Heiland, der jene irdischen Freistädte anordnete, schuf durch sein vergossenes Blut für die Übertreter des göttlichen Gesetzes eine sichere Zuflucht, in die sie zu ihrer Sicherheit vor dem zweiten Tod fliehen können. Keine Macht der Welt kann die Menschen aus seiner Hand reißen, die ihn um Vergebung bitten. “So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind.” “Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns”, damit wir “einen starken Trost haben, die wir unsre Zuflucht dazu genommen haben, festzuhalten an der angebotenen Hoffnung”. Römer 8,1.34; Hebräer 6,18. PP 496.3
Wer in die Freistadt flüchtete, durfte nicht lange zögern. Es hieß, Familie und Beschäftigung zu verlassen. Er hatte nicht Zeit, seinen Lieben Lebewohl zu sagen. Sein Leben stand auf dem Spiel. Da mußte alles andere hinter diesem einen Gedanken zurückstehen, die Stadt zu erreichen, wo er sicher war. Vergessen war die Müdigkeit, man achtete nicht der Mühseligkeiten. Der Flüchtling durfte nicht wagen, seinen Schritt auch nur einen Augenblick zu verlangsamen, ehe er innerhalb der rettenden Stadtmauern war. PP 497.1
Ebenso ist der Sünder dem ewigen Tode preisgegeben, bis er Zuflucht in Christus findet. Und wie Zögern und Sorglosigkeit den Flüchtling um die einzige Überlebensmöglichkeit bringen konnten, so können Zaudern und Gleichgültigkeit das Verderben des Menschen bedeuten. Satan, der große Gegner, ist jedem Übertreter des heiligen Gesetzes Gottes auf der Spur. Und wer sich der Gefahr nicht bewußt wird und in der ewigen Zuflucht Schutz sucht, fällt dem Verderber zum Opfer. PP 497.2
Jeder Angeklagte, der die Freistadt irgendwann verließ, war dem Bluträcher ausgeliefert. Auf diese Weise wurde das Volk gelehrt, sich an die Anordnungen zu halten, die der Allwissende zu seiner Sicherheit vorgesehen hatte. Ebenso genügt es nicht, als Sünder an die Sündenvergebung in Christus zu glauben; er muß auch durch Glauben und Gehorsam in Christus bleiben. “Denn so wir mutwillig sündigen, nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben, haben wir hinfort kein andres Opfer mehr für die Sünden, sondern es bleibt nichts als ein schreckliches Warten auf das Gericht und das gierige Feuer, das die Widersacher verzehren wird.” Hebräer 10,26.27. PP 497.3
Zwei Stämme Israels — Ruben und Gad — und der halbe Stamm Manasse erhielten ihr Erbteil schon, ehe sie den Jordan überschritten. Einem Hirtenvolk wie ihnen gewährten die weiten Hochebenen und reichen Wälder von Gilead und Basan ausgedehntes Weideland für ihre Herden. Das war ein Anreiz, den nicht einmal Kanaan selbst zu bieten hatte. Die zweieinhalb Stämme wollten sich darum hier niederlassen und gaben ihr Wort, sie würden ihren Anteil an bewaffneten Männern stellen und die anderen über den Jordan begleiten. Gemeinsam wollte man mit ihnen kämpfen, bis auch die anderen ihr Erbe in Besitz genommen hatten. Und sie erfüllten diese Verpflichtung gewissenhaft. Als die zehn Stämme in Kanaan einzogen, “gingen die Rubeniter und Gaditer und der halbe Stamm Manasse gerüstet vor den Kindern Israel her ... An vierzigtausend zum Krieg gerüstete Männer gingen vor dem Herrn her zum Kampf ins Jordantal von Jericho.” Josua 4,12.13. Jahrelang fochten sie tapfer an der Seite ihrer Brüder, nun konnten sie heimkehren. Und wie sie gemeinsam gekämpft hatten, so teilten sie auch die Beute mit ihnen und kamen zurück “mit großem Gut ... mit sehr viel Vieh, Silber, Gold, Kupfer, Eisen und Kleidern” (Josua 22,8), wovon sie denen abgeben sollten, die bei den Familien und Herden geblieben waren. PP 497.4
Sie wohnten jetzt ziemlich weit vom Heiligtum des Herrn entfernt. Deshalb sah Josua sie nur besorgt scheiden. Er wußte, wie stark bei ihrem abgesonderten Wanderleben die Versuchung sein würde, in die Gewohnheiten der heidnischen Nachbarn zu verfallen. PP 498.1
Während Josua und mit ihm einige andere Führer bange Ahnungen bedrückten, erreichte sie auch schon seltsame Kunde. Die zweieinhalb Stämme errichteten am Jordan, an der Stelle, wo Israel den wunderbaren Übergang erlebt hatte, einen großen Altar, ähnlich dem Brandopferaltar zu Silo. Gottes Gesetz verbot aber bei Todesstrafe jeden andern Gottesdienst als den am Heiligtum. Falls das der Zweck dieses Altars war und man ihn stehen ließe, würde er sie vom wahren Glauben abbringen. Die Vertreter des Volkes versammelten sich in Silo und schlugen in der Hitze der Erregung und des Unmuts vor, die Schuldigen sofort mit Krieg zu überziehen. Aber unter dem Einfluß der Vorsichtigeren beschloß man, erst eine Abordnung hinzuschicken und von den zweieinhalb Stämmen eine Erklärung zu verlangen. Dazu wählte man zehn Fürsten, aus jedem Stamm einen. An ihrer Spitze stand Pinhas, der sich schon beim Peor durch seinen Eifer ausgezeichnet hatte. PP 498.2
Die zweieinhalb Stämme hatten einen Fehler gemacht, als sie ohne jede Erklärung etwas taten, das so schweren Verdacht hervorrufen mußte. Da die Abgesandten ihre Brüder ganz selbstverständlich für schuldig hielten, machten sie ihnen sofort heftige Vorwürfe. Sie bezichtigten sie der Empörung gegen den Herrn und erinnerten an das Gericht, mit dem Israel heimgesucht worden war, als es Götzendienst mit Baal-Peor getrieben hatte. Wenn sie nicht ohne Opferaltar auskommen könnten, so setzte Pinhas den Nachkommen von Gad und Ruben auseinander, sollten sie um Israels willen kommen und an den Besitztümern und Vorrechten ihrer Brüder auf der andern Jordanseite teilhaben. PP 498.3
Aber die Beschuldigten erklärten, daß ihr Altar nicht als Opferstätte gedacht sei, sondern einfach als Zeuge dafür, daß sie, wenn auch durch den Fluß voneinander getrennt, doch denselben Glauben hätten wie ihre Brüder in Kanaan. Sie befürchteten, ihre Kinder könnten in Zukunft vom Heiligtum ausgeschlossen werden, da sie keinen Anteil in Israel hätten. Dann sollte dieser Altar, nach dem Vorbilde in Silo errichtet, Zeugnis davon ablegen, daß seine Erbauer ebenfalls Anbeter des lebendigen Gottes waren. Diese Erklärung nahmen die Gesandten mit großer Befriedigung auf und überbrachten sie sofort ihren Auftraggebern. Jeder Gedanke an einen Krieg war damit erledigt; das Volk, geeint durch die Freude darüber, lobte Gott. PP 499.1
Die Kinder Gad und Ruben setzten nun eine Inschrift auf den Altar, die den Zweck seiner Errichtung deutlich machte: “Zeuge ist er zwischen uns, daß der Herr Gott ist.” Josua 22,34. Auf diese Weise bemühten sie sich, künftigen Mißverständnissen vorzubeugen und jeden Anlaß zur Versuchung zu vermeiden. PP 499.2
Wie oft entstehen doch aus einfachen Mißverständnissen ernste Schwierigkeiten sogar bei denen, die sich von durchaus schätzenswerten Beweggründen leiten lassen! Und welche unheilvollen Folgen können sie haben, wenn man es an der nötigen Höflichkeit fehlen läßt und keine Geduld hat. Die zehn Stämme dachten daran, wie Gott im Falle Achans ihre fehlende Wachsamkeit bei der Aufdeckung von Sünden getadelt hatte. Diesmal beschlossen sie, rasch durchzugreifen. Aber indem sie den damaligen Fehler zu vermeiden suchten, verfielen sie ins andere Extrem. Anstatt sich in freundlicher Weise erst zu erkundigen, tadelten und verurteilten sie ihre Brüder. Hätten Gads und Rubens Männer in derselben Art erwidert, wäre es zum Krieg gekommen. Es ist einerseits schon wichtig, daß man der Sünde gegenüber nicht gleichgültig ist; andererseits ist es wesentlich, harte Urteile und grundlose Verdächtigungen zu vermeiden. PP 499.3
Viele verfahren sehr hart mit denen, die sich ihrer Meinung nach im Irrtum befinden. Sie selber sind aber beim geringsten Verweis äußerst empfindlich. Durch Tadel und Vorwürfe bringt man keinen von seinem verkehrten Standpunkt ab. Viele werden dadurch eher weiter vom rechten Weg gedrängt und verhärten sich gegen eine bessere Überzeugung. Freundlichkeit, Höflichkeit und Nachsicht helfen besser zurecht und decken eine Menge Sünden zu. PP 500.1
Die Klugheit der Rubeniter und ihrer Gefährten ist nachahmenswert. Obwohl sie den wahren Glauben aufrichtig zu pflegen suchten, wurden sie falsch beurteilt und hart zurechtgewiesen; trotzdem bekundeten sie keine Empfindlichkeit. Höflich und geduldig hörten sie sich die Vorwürfe ihrer Brüder an, ehe sie sich zu verteidigen suchten; dann erst erklärten sie ausführlich ihre Beweggründe und bewiesen damit ihre Unschuld. So wurde die mißliche Lage, aus der so ernste Folgen zu entstehen drohten, freundschaftlich geklärt. PP 500.2
Auch unter falscher Anklage können diejenigen, die im Recht sind, ruhig und besonnen bleiben. Gott kennt all das, was Menschen mißverstehen und falsch deuten; darum dürfen wir unsere Sache getrost in seine Hände legen. So gewiß wie er Achans Schuld heimsuchte, wird er jene rechtfertigen, die ihr Vertrauen auf ihn setzen. Wen der Geist Christi treibt, der besitzt jene Nächstenliebe, die langmütig und freundlich ist. Gott will, daß unter seinem Volk Eintracht und Liebe herrschen. Unmittelbar vor seiner Kreuzigung betete Christus darum, daß seine Jünger eins seien, wie er mit dem Vater eins ist, damit die Welt glaube, daß Gott ihn gesandt habe. Die Wirkung dieses wunderbaren, ergreifenden Gebetes reicht durch die Jahrhunderte bis in unsere Zeit; denn seine Worte lauteten: “Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden.” Diese Einheit zu erreichen, sollte unser ständiges Ziel sein, ohne dabei auch nur einen Wahrheitsgrundsatz aufzugeben. Das ist der Beweis unserer Jüngerschaft. Jesus sagte: “Daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt.” Und der Apostel Petrus ermahnt die Gemeinde: “Endlich aber seid allesamt gleichgesinnt, mitleidig, brüderlich, barmherzig, demütig. Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern dagegen segnet, weil ihr dazu berufen seid, daß ihr den Segen ererbet.” Johannes 17,20; 13,35; 1.Petrus 3,8.9. PP 500.3