Erziehung
Kapitel 8: Der Lehrer, den Gott sandte
“Ein Sohn ist uns geschenkt!
Er wird die Herrschaft übernehmen.
Man nennt ihn ‘Wunderbarer Ratgeber’,
‘Starker Gott’, ‘Ewiger Vater’, ‘Friedensfürst’.”
Jesaja 9,5.
Mit Christus, dem von Gott gesandten Lehrer, schenkte der Himmel uns Menschen das Wertvollste, was er anzubieten hatte. Er, der selbst Gott war und göttliche Macht ausübte, wurde ein Mensch wie wir, um für uns Gottes Wesen und seine Absichten sichtbar werden zu lassen. ERZ 73.1
Jeder Strahl göttlichen Lichts, der die in Sünde gefallene Welt jemals erreichte, wurde durch Christus vermittelt. Er war es auch, der durch die Jahrtausende hindurch immer wieder Menschen beauftragte, Gottes Wort weiterzugeben. Das, was die großen Glaubenszeugen der Vergangenheit auszeichnete, kam nicht allein von ihnen, sondern war eigentlich nur der Widerschein seines Wesens: zum Beispiel die Reinheit und Menschenfreundlichkeit Josefs oder der Glaube, die Güte und die Geduld eines Mose; auch die Standhaftigkeit Elisas, die Redlichkeit und Glaubenstreue Daniels oder der Eifer und die Opferbereitschaft des Paulus. Die geistige und geistliche Kraft, die diese Menschen — und nicht nur sie — bewiesen, waren letztlich nur ein Abglanz der Herrlichkeit Christi. Ihm kommt keiner gleich, deshalb ist er auch für alle anderen das vollkommene Vorbild. ERZ 73.2
Durch ihn sollte deutlich werden, daß auf Erden nichts wichtiger ist als sich an diesem Ideal zu orientieren. Und er wollte zeigen, was aus einem Menschen werden kann, der sich Gott zuwendet und ihm in seinem Leben freie Hand läßt. Darüber hinaus sollte sichtbar werden, wie Menschen zu wahren Kindern Gottes erzogen werden können, die sich hier auf Erden nach Gottes Grundsätzen richten und ihrer göttlichen Abstammung und himmlischen Berufung gemäß leben. ERZ 73.3
Gott ließ seinen Sohn Mensch werden, weil es nichts gab, was die Menschheit dringender gebraucht hätte. Als es in der Welt am dunkelsten war, machte er es durch Christus wieder hell. Durch falsche Lehren verführt, hatten sich die Menschen immer weiter von Gott entfernt. Grundlage der Erziehung waren nicht mehr Gottes Weisungen, sondern menschliche Philosophie. Es war so, als würde man das Licht der Sonne ausschalten, um seinen Weg im kümmerlichen Schein einer Fackel zu suchen. ERZ 74.1
Je weiter sich die Menschen von Gott entfernten, desto mehr waren sie auf sich und ihre eigene Kraft angewiesen. Sie versuchten zwar, das Zusammenleben durch menschliche Grundsätze und Richtlinien in den Griff zu bekommen, aber immer wieder stellte sich heraus, daß sie nicht einmal die Kraft hatten, ihre eigenen Regeln einzuhalten. Den Mangel an echter Größe suchten sie durch Äußerlichkeiten zu verbergen, so daß der Schein bald wichtiger wurde als das Sein. ERZ 74.2
Von Zeit zu Zeit standen Lehrer auf, die ihre Mitmenschen wieder zur Quelle der Wahrheit zurückführen wollten. Göttliche Grundsätze wurden neu entdeckt, und es gab immer auch Menschen, die sich daran hielten. Die Veränderungen, die sich in ihrem Leben vollzogen, zeugten für die Kraft der Wahrheit. Aber das waren immer nur Episoden in der Menschheitsgeschichte, die den Strom des Verderbens nicht aufhalten konnten. Menschen, die sich für die Wahrheit einsetzten, waren zwar wie Lichter in der Dunkelheit, aber sie konnten die Finsternis letztlich doch nicht vertreiben, denn “die Menschen hatten die Dunkelheit lieber als das Licht”.1 ERZ 74.3
Zu der Zeit, als Christus Mensch wurde, schien es so, als bewege sich die Welt mit Riesenschritten ihrem bisherigen Tiefpunkt zu. Die Verhaltensweisen der Menschen glitten immer mehr ins Abnorme ab, und die Gesellschaft wurde in ihren Grundfesten erschüttert. Zwar existierte Gottes auserwähltes Volk noch, aber es war längst nicht mehr Licht für die Welt, sondern selbst in religiöse Finsternis abgeglitten. Anstatt Träger und Verkünder der Wahrheit zu sein, hatte Israel der Welt nichts anderes mehr zu bieten als verkrustete Tradition und spitzfindiges Gelehrtengezänk. Die Anbetung Gottes “im Geist und in der Wahrheit” war der Verherrlichung von Menschen zum Opfer gefallen und wurde durch eine endlose Litanei selbst erdachter Zeremonien ersetzt. Außerhalb Israels sah es nicht besser aus. Überall verloren die religiösen Systeme ihre Bedeutung für das Leben der Menschen. Viele fühlten sich von der Religion betrogen und wandten sich von ihr ab. Damit verloren sie aber zugleich die tragende Mitte für ihr Leben. Diesen Verlust überspielten sie durch eine diesseitsorientierte Lebensweise, für die ewige Werte keine Rolle mehr spielten. ERZ 74.4
Das hatte schlimme gesellschaftliche Folgen, denn mit der Ehrfurcht vor Gott ging auch die Achtung vor dem Mitmenschen verloren. Wahrheit, Ehrenhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Vertrauen und Mitgefühl waren weitgehend von der Erde verschwunden. Rücksichtsloses Machtstreben, unstillbare Gier und maßloser Ehrgeiz griffen um sich und schufen ein Klima allgemeinen Mißtrauens. Treue und Pflichterfüllung waren kein Thema mehr, Menschenwürde und Menschenrechte wurden mit Füßen getreten, und wenn jemand darauf hinwies, daß der Stärkere eine Verantwortung für den Schwächeren habe, machte er sich nur lächerlich. ERZ 75.1
Das gewöhnliche Volk galt nur dann etwas, wenn man es wie ein Arbeitstier ausbeuten oder als Sprungbrett für die eigene Karriere mißbrauchen konnte. Was zählte waren: Reichtum und Macht, Bequemlichkeit und Genuß. Typisch für diese Zeit waren körperliche Entartung, geistige Trägheit und geistliche Abstumpfung. ERZ 75.2
Je mehr sich die Menschen von ihren Wünschen und Begierden leiten ließen, desto weiter entfernten sie sich von Gott; und je weniger Berührung sie mit dem Göttlichen hatten, desto tiefer verstrickten sie sich in die Sünde. Schließlich konnten sie nur noch in rein irdischen Kategorien denken und dichteten Gott die gleichen sündigen Eigenschaften an, die sich in ihren Herzen breitgemacht hatten. Weil sie selbst durchweg eigensüchtige Ziele verfolgten, meinten sie, bei Gott könne das nicht anders sein. Sie stellten ihn als ein Wesen dar, das herrschsüchtig und auf seinen Vorteil bedacht ist, dessen Forderungen lediglich der Selbstverherrlichung dienten, und das die Menschen lediglich benutze, um seine fragwürdigen Ziele zu erreichen. Für das einfache Volk unterschied sich Gott kaum von den menschlichen Unterdrückern, nur das er noch mächtiger und damit gefährlicher war. Diese Sicht prägte weitgehend das Gottesbild in allen Religionen. Die Gottheit wurde nicht mehr in positivem Licht gesehen, sondern als bedrohliche Macht empfunden, die es durch Opfergaben und Zeremonien abzulenken oder zu besänftigen galt. Wenn aber Religion nicht mehr imstande ist, das Gewissen der Menschen zu schärfen und ihr Denken und Fühlen zum Guten hin zu verändern, entartet sie zu einem System, das lediglich fromme Rituale und leere religiöse Formen verwaltet. ERZ 75.3
Solange die Menschen sich davon noch Vorteile versprechen, mögen sie es tolerieren, aber je länger desto mehr wird es ihnen zur Last werden, die sie am liebsten abschütteln würden. So schwoll der Strom des Bösen im Laufe der Jahrhunderte immer mehr an, während das Gute in dieser Welt zu einem unbedeutenden Rinnsal verkümmerte. Die Menschen verloren ihre ursprüngliche Gottebenbildlichkeit zusehends und wurden mehr und mehr von dämonischen Mächten beherrscht. Die ganze Welt war in der Gefahr, völlig im Morast der Sünde zu versinken. ERZ 76.1
Deshalb gab es für die Menschheit nur eine Hoffnung: In diese verdorbene Masse mußte — um im Bilde zu sprechen — neuer Sauerteig geknetet werden. Jemand mußte kommen, der den Menschen die Kraft zur Erneuerung vermittelte, der ihnen sagen konnte, wer und wie Gott wirklich ist. ERZ 76.2
Christus wurde Mensch, um genau diese Aufgabe zu erfüllen. Die Welt sollte erkennen, daß sie von Lehrern, die vorgaben, Gott zu kennen, in die Irre geführt worden war. In seinem Leben als Mensch sollte deutlich werden, was es bedeutet und wie es sich auswirkt, wenn Gottes Wille ernst genommen wird. ERZ 76.3
Christus kam aus der himmlischen Welt zu uns, um zu zeigen, daß Gottes Herrschaft sich nicht auf Gewalt stützt, sondern von unendlicher Liebe geprägt ist. Er räumte mit allen menschlichen Forderungen auf, die das Gesetz zu einer unerträglichen Last gemacht hatten, und bewies, daß Gottes Gebote ein Ausdruck seiner Liebe und Güte sind. Die Menschen sollten wieder begreifen, daß Gott von ihnen nicht deshalb Gehorsam forderte, weil er seine Macht festigen wollte, sondern um ihres eigenen Wohlergehens willen. Sie sollten wissen, daß persönliches Glück und allgemeines Wohl davon abhängen, ob der einzelne oder die Gesellschaft Gottes Ordnungen zum verbindlichen Maßstab für ihr Handeln machen. ERZ 76.4
Gottes Gebote sind alles andere als willkürliche Forderungen. Sie sollen den Menschen vor Gefahren schützen und ihm helfen, den richtigen Weg zu finden. Wer sich an sie hält, wird vor Bösem bewahrt. Wer Gott zugewandt lebt, kann sich nicht von seinem Mitmenschen abwenden. So gesehen stellt das Gesetz nicht nur Forderungen an den Menschen, sondern schützt ihn zugleich vor Übergriffen anderer, wahrt seine persönlichen Rechte und seine Menschenwürde. Es hindert die Starken daran, Schwächere unter Druck zu setzen und für ihre Zwecke zu mißbrauchen; zugleich hält es aber auch die Untergebenen davon ab, sich ihren Pflichten zu entziehen. Obwohl Gottes Gesetz vor allem die Aufgabe hat, das Verhältnis des Menschen zu Gott und das der Menschen untereinander zu regeln, weist es in seiner prinzipiellen Bedeutung über den menschlich-irdischen Bereich hinaus. Es enthält nämlich überzeitliche und überweltliche Grundsätze, die dem, der sich an Gottes Willen hält, den Weg zur Ewigkeit weisen. ERZ 77.1
Durch Christus sollte auch wieder die erneuernde und umwandelnde Kraft der göttlichen Grundsätze erkennbar werden. Er lehrte, wie Gottes Wille zu verstehen ist und wie seine Weisungen im Leben verwirklicht werden können. ERZ 77.2
In jener Zeit wurde viel Wert auf den äußeren Schein gelegt. In dem Maße, wie der Religion die Kraft echten Glaubens verlorengegangen war, bediente sie sich aufwendiger Rituale und äußerlichen Gepränges, um den Mangel zu überspielen. Lehrer und Erzieher meinten, sie müßten sich beim Volk dadurch ins rechte Licht setzen, daß sie ihre Gelehrsamkeit oder ihren gehobenen Lebensstil zur Schau stellten. Bei Jesus war das alles ganz anders. Sein Leben zeigte, wie wertlos all die Dinge sind, die bei den Menschen seiner Zeit — und nicht nur bei ihnen! — so hoch im Kurs standen. Er war nicht in einem Palast geboren worden, sondern in der Hütte einer einfachen Handwerkerfamilie. Er führte nicht das Leben eines jungen Müßiggängers aus reichem Hause, sondern verdiente seinen Lebensunterhalt als Zimmermann mit seiner Hände Arbeit. Er hob sich nicht durch Herkunft oder Besitz von allen anderen ab, sondern war ganz und gar einer der ihren. Den einfachen Verhältnissen, in denen Jesus aufwuchs, entsprach auch seine Erziehung. Er empfing seine Bildung nicht auf Höheren Schulen, sondern bezog sie direkt aus den Lehrbüchern, die Gott für ihn vorgesehen hatte: aus dem Vorbild seiner Eltern, aus nützlicher Arbeit, aus dem Studium des Wortes Gottes, aus dem Beobachten der Natur und aus den Erfahrungen, die das Leben lehrt. Gerade aus diesen Quellen kann man ungeahnte Erkenntnisse schöpfen, man muß nur fleißige Hände, offene Augen und ein verständiges Herz mitbringen. ERZ 77.3
Die Evangelien berichten nicht viel über diesen Abschnitt im Leben Jesu. Es heißt lediglich zusammenfassend: “Das Kind wuchs heran, erfüllt mit göttlicher Weisheit. Alle konnten sehen, daß Gottes Segen auf ihm ruhte.”1 ERZ 78.1
So vorbereitet machte sich Christus daran, seine Aufgabe zu erfüllen. Wenn Menschen mit ihm in Berührung kamen und sich ihm öffneten, strömte ihnen Gottes Segen zu, und sie wurden durch die von Jesus ausgehende geistliche Kraft innerlich umgewandelt. Das konnte nicht verborgen bleiben, und viele staunten darüber, denn so etwas hatten sie noch nicht erlebt. ERZ 78.2
Wer Menschen innerlich verändern will, muß sie zuerst verstehen lernen. Wenn man jemanden zum Guten hin beeinflussen will, muß man ihm Mitgefühl und Liebe entgegenbringen und ihn spüren lassen, daß man an ihn glaubt. Bei Jesus waren diese Voraussetzungen in vollkommener Weise erfüllt, deshalb gibt es auch in Sachen Erziehung keinen besseren Lehrmeister als ihn. Im Hebräerbrief heißt es: ERZ 78.3
“Denn wir haben einen Hohenpriester, der vor Gott für uns eintritt. Das ist Jesus, Gottes Sohn, der in das Reich seines Vaters gegangen ist. Doch er gehört nicht zu denen, die unsere Schwächen nicht verstehen und zu keinem Mitleiden fähig sind. Jesus Christus musste mit denselben Versuchungen kämpfen wie wir, auch wenn er nie gesündigt hat.” Und weiter: “Weil er selbst gelitten hat und denselben Versuchungen des Satans ausgesetzt war wie wir Menschen, kann er uns in allen Versuchungen helfen.”1 ERZ 78.4
Christus allein kennt alle Nöte und Versuchungen, mit denen wir es im Laufe unseres Lebens zu tun haben. Niemand wurde von Satan so angegriffen und bekämpft wie er, niemand mußte wie er für die ganze Welt die schwere Last der Sünde und des Leids tragen. Weil er im Prinzip alles, was uns an Leid, Unrecht und Not widerfahren kann, am eigenen Leib erlebt hat, bringt er nicht nur ein bißchen Mitleid für uns auf, sondern echtes Mitgefühl. ERZ 79.1
Jesu Einfluß auf die Menschen war deshalb so groß, weil er nicht nur redete, sondern auch tat, was er lehrte. Darum konnte er auch zu seinen Jüngern sagen: “Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.”2 Oder: “Ich habe meinem Vater gehorcht und mich nicht von seiner Liebe gelöst!”3 Jesus verkündigte nicht nur eine Lehre, sondern er lebte sie. Er sprach nicht nur von der Wahrheit, sondern er verkörperte sie. Das gab seiner Verkündigung die durchschlagende Kraft, denn die Leute spürten, daß Jesus in Vollmacht sprach und handelte. ERZ 79.2
Wenn Jesus predigte, fühlten sich die Menschen auf unerklärliche Weise angezogen — selbst seine Gegner. Dabei redete er den Leuten nicht nach dem Munde, sondern nannte die Sünde beim Namen. Mitunter mußte er nicht einmal etwas sagen, weil seine bloße Gegenwart genügte, daß die Menschen sich ihrer Sünde bewußt wurden. Dennoch mieden ihn die Leute nicht, sondern suchten seine Nähe. Sie spürten wohl instinktiv, daß er sie nicht bloßstellen, sondern ihnen helfen wollte. Er verabscheute zwar das Böse und die Sünde, liebte aber die Sünder. Selbst in dem heruntergekommensten Menschen sah er noch das Kind Gottes, das ins Vaterhaus Gottes zurückkehren konnte. Deshalb heißt es im Evangelium: “Gott hat nämlich seinen Sohn nicht zu den Menschen gesandt, um über sie Gericht zu halten, sondern um sie vor dem Verderben zu retten.”1 ERZ 79.3
Wo alle anderen längst aufgegeben hatten und von “hoffnungslosen Fällen” sprachen, sah Christus immer noch Grund zur Hoffnung. Wenn er im Menschen auch nur eine Spur von Reue oder Bedauern erkannte, versuchte er zu helfen. Für ihn war es nicht entscheidend, ob jemand in Sünde gefallen war, sondern daß der Sünder seine Schuld erkannte und sich nach Vergebung sehnte. Selbst denen, die sich bereits selbst aufgegeben hatten, machte er Mut, noch einmal neu anzufangen. ERZ 80.1
In den Seligpreisungen der Bergpredigt brachte er zum Ausdruck, was er der Menschheit insgesamt und seinem Volk im besonderen wünschte. Den satten, selbstzufriedenen und von ihrer Redlichkeit überzeugten Frommen konnte er nicht helfen, wohl aber denen, die sich ihrer Bedürftigkeit bewußt geworden waren und nach seinem Licht und seiner Liebe ausstreckten. Den geistlich Armen, den Leidtragenden und Verfolgten rief er zu: “Kommt alle her zu mir, die ihr euch abmüht und unter eurer Last leidet! Ich werde euch Frieden geben.”2 ERZ 80.2
Er sah die Menschen nicht nur wie sie waren, sondern wußte schon, was aus ihnen werden konnte, wenn sie sich der verändernden Kraft Gottes öffnen würden. Weil er noch Hoffnung für sie hatte, begannen auch sie wieder zu hoffen, und weil er ihnen Vertrauen schenkte, vertrauten sie auch ihm. Er war so, wie die Menschen sein sollten und weckte dadurch bei ihnen den Wunsch, auch so zu werden wie er war. So manches Herz, das im Blick auf die Beziehung zu Gott längst tot zu sein schien, erweckte Jesus zu neuem geistlichen Leben. ERZ 80.3
Seine Liebe und Hingabe zogen viele Menschen unwiderstehlich an, und er lehrte sie, daß Liebe und Hingabe das Band sei, das sie mit ihren Mitmenschen verbinden sollte. Alles, was Jesus tat, vollzog sich auf dem Hintergrund der Liebe. Deshalb bestand sein Leben nicht darin, sich selbst zu verwirklichen, sondern für andere da zu sein. Von seinen Jüngern erwartete er dieselbe Gesinnung: “Umsonst habt ihr alles bekommen, umsonst sollt ihr es auch weitergeben.”1 ERZ 80.4
Nicht erst am Kreuz opferte sich Christus für die Menschheit auf, sondern vom ersten Tag seines Wirkens an. Deshalb heißt es auch: “Er hat überall Gutes getan ...”2 ERZ 81.1
Wir fragen vielleicht, wie sich ein Mensch so an andere verströmen kann, und das über Jahre hin bis zur Selbstaufgabe. Die Antwort heißt: Jesus vertraute bedingungslos Gott und lebte in ständiger Verbindung zum himmlischen Vater. Bei uns Menschen ist das in der Regel anders. Unsere Beziehung zu Gott ist Schwankungen unterworfen. Es gibt Zeiten, in denen wir ihm sehr nahe sind, und das spiegelt sich auch in unserem Glaubensalltag wider. Dann gelingen uns Dinge, zu denen wir sonst nicht fähig sind. Meist bleibt uns diese vertraute Beziehung zu Gott für einige Zeit erhalten, verflacht dann aber leider wieder. Der Glaube hat nicht mehr die Kraft wie früher, und unser Glaubensleben nimmt Schaden. ERZ 81.2
Bei Jesus war das anders. Er lebte hier auf Erden in ungebrochener Gemeinschaft mit Gott. Das war das Geheimnis seiner Vollmacht und seines erfolgreichen Wirkens für Gott und die Menschheit. Er schöpfte die Kraft dazu nicht aus sich selbst, sondern erflehte sie immer wieder neu vom Allmächtigen. Auf diese Weise flossen ihm jene übernatürlichen Kräfte zu, die ihm als Mensch von Natur aus nicht zur Verfügung standen. So empfing er Leben aus Gott und gab es an andere weiter. ERZ 81.3
Eines Tages sandte der Hohe Rat von Jerusalem Tempelpolizisten aus, um Jesus zu verhaften. Doch die kamen unverrichteter Dinge zurück. Als sie gefragt wurden, warum sie Jesus nicht festgenommen hatten, antwortete einer von ihnen: “Noch nie hat ein Mensch so geredet wie dieser Mann!”3 Diese Beurteilung wäre auch richtig gewesen, wenn Jesus über rein menschliche Dinge gesprochen hätte wie: Bildung, Kunst, Wissenschaft oder Philosophie. Er hätte den Menschen schon damals Erkenntnisse vermitteln können, zu denen sie später erst nach Jahrhunderten mühsamen Forschens gelangten. Er hätte wissenschaftliche Zusammenhänge darlegen können, die selbst heutigen Forschern noch genügend Denkanstöße geben und wissenschaftliche Streitfragen klären würden. Doch ihm ging es nicht um Wissenschaft oder Kunst, auch nicht um abstrakte Theorien oder philosophische Lehrgebäude. Er wollte nicht menschliche Neugier befriedigen oder ehrgeizige Pläne vorantreiben. Ihm ging es vielmehr um Gotteserkenntnis und Charakterbildung. ERZ 81.4
Jesus wollte, daß die Menschen Gott aus erster Hand kennenlernten: anhand seiner Werke, seines Wortes und durch ihre persönliche Erfahrung. Sie sollten sich nicht zufriedengeben mit dem, was andere — zum Beispiel Rabbiner und andere Gelehrte — über Gott, sein Wort und sein Tun lehrten. Was Jesus predigte, kam nicht aus zweiter Hand, sondern er stellte durch seine Botschaft eine direkte Verbindung zwischen den Gedanken seiner Zuhörer und denen des ewigen Gottes her. Und die Leute spürten das. Im Evangelium heißt es ausdrücklich: “Die Zuhörer waren tief beeindruckt; denn er redete wie einer, den Gott dazu ermächtigt hatte.”1 ERZ 82.1
Nie zuvor war jemand imstande gewesen, sie innerlich so wachzurütteln, sie in ihrer gesamten Persönlichkeit zu packen und ein so starkes Verlangen nach dem Guten in ihnen zu wecken. ERZ 82.2
Christi Lehren waren nicht einseitig auf bestimmte Gebiete beschränkt, sondern umfaßten die gesamte Breite menschlichen Lebens. Sie bieten bis heute Hinweise für jede Lebenslage und Lösungsansätze für alle Krisen, in die der Mensch geraten kann. Er ist der beste Lehrer, den es je gab, und seine Mitarbeiter finden in seinen Worten bis ans Ende der Zeit Anleitung für ihre Aufgabe. ERZ 82.3
Anders als für uns, waren für Jesus Gegenwart und Zukunft eins. Wir sehen immer nur was ist, und können über das, was kommt, lediglich spekulieren oder Vermutungen äußern. Vor Jesu Augen lagen Gegenwart und Zukunft gleichermaßen offen da. Er sah im Geiste voraus, worum sich die Menschen bemühen und was sie erreichen würden. Er kannte die Gefahren und Wirrungen, mit denen sie es zu tun haben würden. Er kannte ihre Herzen, ihre Freuden und Sehnsüchte, aber auch ihre Anfechtungen. ERZ 82.4
Er wollte nicht nur für die Menschen sprechen, sondern zu ihnen. Und seine Botschaft galt und gilt allen: den Kindern, die ihren Weg noch ganz unbefangen und unbeschwert gehen, der ungestüm vorwärtsdrängenden Jugend, den Menschen, die in der Blüte ihrer Jahre stehen und große Verantwortung tragen, und auch den alternden Menschen, deren Lebenskraft immer mehr abnimmt. Sie alle wollte er mit seiner Botschaft des Friedens erreichen, unabhängig davon, in welchem Land und zu welcher Zeit sie leben. Seine Lehren befassen sich mit irdischen und ewigen Dingen gleichermaßen und verbinden so das Sichtbare mit dem Unsichtbaren, die Belange des täglichen Lebens mit Fragen, die das zukünftige, ewige Leben betreffen. ERZ 83.1
Zwar betonte er immer wieder, daß den Dingen, die von überzeitlicher, ewiger Bedeutung sind, der Vorrang gebühre, wertete dadurch aber keineswegs das irdische Leben des Menschen mit seinen vielfältigen Bedürfnissen und Beziehungen ab. Aus seiner Sicht sollte das Leben des Menschen nicht von den Extrempositionen bestimmt sein: entweder irdisch oder himmlisch. Er lehrte vielmehr, daß Irdisches und Himmlisches eng miteinander verbunden sind, einander sozusagen bedingen, ergänzen und durchdringen. Etwa in dem Sinne, daß Erkenntnis der göttlichen Wahrheit den Menschen befähigt, den Anforderungen des täglichen Lebens wirklich gerecht zu werden. ERZ 83.2
Deshalb war ihm nichts von dem, was das irdische Leben des Menschen bestimmt, unwichtig: weder das Spiel des Kindes noch die Arbeit des Erwachsenen; nicht die Freude und das Glück des Menschen, aber auch nicht seine Sorgen, sein Leid und seine Schmerzen. Er wußte, daß alles dazu dienen kann, daß Gottes Heilswille offenbar wird und der Mensch dem von Gott gesteckten Ziel näherkommt. ERZ 83.3
Wenn Jesus mit den Menschen redete, erreichte er ihre Herzen. Meist sahen sie dann Gottes Wort in einem völlig neuen Licht, und schöpften daraus eine Kraft, die ihnen nie zuvor zugänglich gewesen war. Auch die Dinge um sich herum begannen sie neu zu sehen. Zwar verschwanden die Schatten, die durch die Sünde über die Natur und die Menschenwelt gefallen waren, nicht völlig, aber es schien doch wieder für alle, die es sehen wollten, ein Stück der einstigen Herrlichkeit Gottes hindurch. Die Menschen mußten sich nicht mehr alleingelassen fühlen in einer von Sünde geprägten Welt, sondern konnten wieder die ausgestreckte Hand erkennen, die ihnen Gemeinschaft mit Gott verhieß. In Christus war Gott sichtbar auf die Erde zurückgekehrt, die Trennung zwischen Himmel und Erde war endlich überwunden. Und die Menschen spürten in ihren Herzen, daß sie all das nur einem zu verdanken hatten: “Immanuel, Gott mit uns.” ERZ 83.4
Deshalb muß sich alle Erziehung an diesem gottgesandten Lehrer orientieren. Seine Lehren und Prinzipen sind heute noch genauso zeitgemäß wie vor zweitausend Jahren. Sein Ausspruch: “Ich bin der Erste und der Letzte, und ich bin der Lebendige”1 trifft auch voll auf den Komplex Erziehung zu. ERZ 84.1
Es wäre töricht, den göttlichen Lehrer zugunsten menschlicher Erzieher und Erziehungskonzepte links liegen zu lassen. Das hieße nämlich: Weise werden zu wollen unter Ausschluß der Weisheit! Nach Wahrheit zu suchen, sie aber zugleich zu verschmähen! Dort nach Erleuchtung zu suchen, wo es gar kein Licht gibt! Leben zu wollen und doch am Leben vorbeizugehen! Erziehung ohne Christus heißt, sich von der lebendigen Quelle abzuwenden und Brunnen zu graben, in denen das Wasser letztlich versickert. ERZ 84.2
Damit das nicht geschieht, lädt Christus alle ein, die guten Willens sind: “Wer Durst hat, der soll zu mir kommen und trinken! Wer an mich glaubt, wird erfahren, was die Heilige Schrift sagt: Wie ein Strom wird lebenschaffendes Wasser von ihm ausgehen.”2 Und weiter heißt es: “Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, der wird nie wieder Durst haben. Dieses Wasser wird in ihm zu einer Quelle, die bis ins ewige Leben hinein fließt.”3 ERZ 84.3