Erziehung

73/75

Kapitel 34: Disziplin und Strafe in der Erziehung

“Rede ihnen ins Gewissen, weise sie zurecht,
und ermutige sie, wo es nötig ist.”

2.Timotheus 4,2.

Gehorsam ist uns nicht in die Wiege gelegt, wir müssen ihn lernen — und zwar so früh wie möglich. Noch bevor es alt genug ist für vernünftige Argumente, kann ein Kind Gehorsam lernen, wenn Eltern sich konsequent und liebevoll darum bemühen. ERZ 287.1

Wo das gelingt, können Auseinandersetzungen, die unweigerlich auftreten, wenn der Wille des Kindes und die Autorität der Eltern aufeinanderprallen, entschärft und auf ein Minimum beschränkt werden. Solche Reibereien geraten nämlich schnell außer Kontrolle, wachsen sich zu Konflikten aus und verursachen Bitterkeit und Entfremdung Eltern und Lehrern gegenüber. Im Extremfall kann das dazu führen, daß ein junger Mensch jegliche Autorität ablehnt, sowohl menschliche als auch göttliche. ERZ 287.2

Ziel der Erziehung ist es, Kindern zu einem selbständigen und eigenverantwortlichen Leben zu verhelfen. Sie sollen Selbstvertrauen und Selbstbeherrschung entwickeln. Wenn es ums Gehorchen geht, muß man an die Vernunft des Kindes appellieren, sobald es in der Lage ist, Zusammenhänge zu erkennen. Alles, was man von ihm verlangt, muß zeigen, daß die Forderung nach Gehorsam gerechtfertigt und sinnvoll ist. Kinder müssen erst verstehen lernen, daß auch das Verhalten des Menschen von Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist, und daß Ungehorsam letztlich Unheil und Leid im Gefolge hat. Wenn Gott sagt, “du sollst nicht,” warnt er uns aus Liebe vor den Folgen des Ungehorsams, weil er uns vor Schaden, Gefahr und Verlust bewahren möchte. ERZ 287.3

Helft euren Kindern zu erkennen, daß Eltern und Lehrer Stellvertreter Gottes auf Erden sind — vorausgesetzt natürlich, daß sie in Übereinstimmung mit ihm handeln. Gelingt euch das, werden sie begreifen, daß die Ordnungen in Heim und Schule Gottes Gebote zur Grundlage haben. Und noch eins: So wie Kinder lernen, den Eltern und Lehrern zu gehorchen, lernen sie auch Gott zu gehorchen. ERZ 288.1

Eltern und Lehrer sollten darüber nachdenken, wie sie die Entwicklung ihrer Kinder lenken können, ohne sie zu gängeln. Eine harte und strenge Erziehung ist genauso schlecht wie eine zu lasche und nachgiebige. Einer der schrecklichsten und folgenschwersten Fehler ist der, daß man meint, man müsse einem Kind “den Willen brechen”. Mag sein, daß der Schaden, den man dadurch anrichtet, nicht überall gleich groß ist — schließlich sind die Menschen unterschiedlich veranlagt —, aber mit Gewalt wird man nicht mehr als eine Scheinunterwerfung erreichen, die nur für einige Zeit verdeckt, daß derart gequälte Kinder innerlich nur um so rebellischer sind. Und wenn es wirklich gelingen sollte, ein Kind völlig zu beherrschen, ist das, was dabei herauskommt ein einziges Trauerspiel. ERZ 288.2

Einen Menschen, der zum Ebenbild Gottes geschaffen ist, und den der Schöpfer mit Vernunft ausgestattet hat, darf man nicht wie ein Tier dressieren — auch nicht zu Gehorsam und Wohlverhalten. Haustiere müssen es lernen, sich ihrem Herrn unterzuordnen, weil der für sie denken und die Situation beurteilen muß. Wenn man solche Methoden auf Kinder anwendet, was nicht gerade selten geschieht, macht man sie zu mehr oder weniger unterwürfigen Werkzeugen. Verstand, Wille und Gewissen werden von anderen beherrscht. Gott will nicht, daß so etwas geschieht. Wer es dennoch tut und damit die Persönlichkeit des Kindes zerstört, lädt schwere Schuld auf sich, deren Folgen nicht abzusehen sind. ERZ 288.3

Gewiß, solange derart geschädigte Kinder unter Kontrolle sind, “funktionieren” sie einigermaßen, aber wehe, wenn sie “losgelassen” werden. Sobald die Kontrolle aufhört und der lange Arm der Eltern nicht mehr zu verspüren ist, zeigt sich, daß es solchen Kindern meist an Standhaftigkeit, Durchhaltevermögen und Charakterstärke fehlt. Solche jungen Leute haben nie gelernt, sich selbst zu beherrschen, und wenn die “Erzieher” nicht mehr da sind, um Grenzen zu setzen, wissen sie nicht, wie sie mit ihrer Freiheit umgehen sollen, geraten oft außer Rand und Band und rennen ins Verderben. ERZ 288.4

Manchen Schülern fällt es auf Grund ihrer Anlagen besonders schwer, zu gehorchen. Deshalb sollten Eltern und Lehrer es ihnen so leicht wie möglich machen, ihre Forderungen zu akzeptieren. Erzieher sollen den Willen ihrer Schüler formen und lenken, ihn aber nicht mißachten oder gar zerstören. Willensstärke sollte nicht um ihrer selbst willen gepflegt werden, sondern weil sie für das Leben des Menschen unverzichtbar ist. ERZ 289.1

Kinder sollten verstehen lernen, worin wahre Willenskraft besteht und welch große Verantwortung mit dieser Gabe verbunden ist. Der Wille ist die beherrschende Macht im Wesen des Menschen, auf ihm beruht die Fähigkeit zu wählen und zu entscheiden. Jeder vernünftig denkende Mensch hat die Kraft, das Richtige zu wählen. In allen Lebenslagen gilt Gottes Wort: “Entscheidet euch heute, wem ihr ... dienen wollt.”1 Wir können uns frei dafür entscheiden, Gott zu gehorchen und ihm unseren Willen unterzuordnen. Wer das tut, verbündet sich mit dem allmächtigen Gott, und niemand kann ihn zwingen, Böses zu tun. In jedem Kind und in jedem jungen Menschen steckt die Kraft, mit der Hilfe Gottes einen ordentlichen Charakter zu entwickeln und ein nützliches Leben zu führen. ERZ 289.2

Eltern und Lehrer, die Kinder unter solchen Voraussetzungen zur Selbstbeherrschung erziehen, sind auf lange Sicht die erfolgreichsten Erzieher. Für den oberflächlichen Beobachter mag es den Anschein haben, als sei eine autoritäre Erziehung, in der das Kind total beherrscht wird, sinnvoller, weil sie scheinbar schnelle Erfolge bringt. Aber das stellt sich meist nach kurzer Zeit als Trugschluß heraus. ERZ 289.3

Ein kluger Erzieher wird im Umgang mit seinen Schülern versuchen, ihr Vertrauen zu gewinnen und ihr Ehrgefühl zu stärken. Kinder und Jugendliche sollten spüren, daß man ihnen vertraut. Die meisten Kinder, auch schon die ganz kleinen, haben ein ausgeprägtes Ehrgefühl. Sie möchten nicht nur geliebt, sondern auch mit Achtung behandelt werden — und das ist ihr gutes Recht. Sie sollten nicht den Eindruck haben, daß sie ständig beobachtet und in ihrer Bewegungsfreiheit eingeengt werden. Argwohn verletzt und verursacht genau die Übel, die man zu verhindern sucht. Lehrer, die ein gutes Verhältnis zu ihren Schülern haben, merken es, wenn irgend etwas im Gange ist und können geschickt gegensteuern, ohne den Eindruck zu erwecken, daß sie ständig auf der Lauer liegen, um Böses aufzudecken. Wenn junge Menschen spüren, daß man ihnen vertraut, versuchen sie in aller Regel, dieses Vertrauen nicht zu mißbrauchen. ERZ 289.4

Es empfiehlt sich auch, jungen Leuten nicht einfach alles vorzuschreiben, sondern sie zu bitten, etwas zu tun oder nicht zu tun. Wer um etwas gebeten wird, hat die Möglichkeit zu beweisen, daß er von sich aus das Richtige tun möchte. Wenn er dann der Bitte entspricht, geschieht das aus freier Entscheidung und nicht unter Zwang. ERZ 290.1

Die Grundsätze, die in einer Schule als verbindlich gelten, sollten selbstverständlich den Geist dieser Institution widerspiegeln. Verhaltensregeln dürfen den Schülern nicht aus der Luft gegriffen erscheinen, sondern müssen für sie nachvollziehbar sein und ihnen im Prinzip als gerechtfertigt erscheinen. Wenn das der Fall ist, entwickeln sie Verantwortungsgefühl und werden selbst dafür sorgen, daß die Regeln, hinter denen sie stehen, auch befolgt werden. ERZ 290.2

Es ist besser, sich auf wenige, gut durchdachte Regeln zu beschränken, als einen endlosen Katalog von Verordnungen aufzustellen. Das Einhalten der einmal festgelegten Ordnungen sollte dann aber konsequent gefordert werden. Wenn man merkt, daß etwas unumstößlich ist, gewöhnt man sich gedanklich daran und lernt, sich danach zu richten. Fehlt diese Konsequenz, schafft das Unsicherheit, provoziert Widerstand und untergräbt die Autorität des Lehrerkollegiums und der Schulleitung. Jungen Leuten muß bewußt werden, daß es dort, wo Gott herrscht, keine Kompromisse mit dem Unrecht geben kann. Deshalb kann Ungehorsam weder in der Familie noch in der Schule einfach hingenommen werden. Natürlich werden Kinder immer wieder versuchen, sich auch gegen gerechtfertigte Forderungen aufzulehnen und sich durch Ausflüchte vor dem Gehorchen zu drücken. Eltern und Lehrer sind gut beraten, in solchen Fällen nicht nach Kompromissen zu suchen. Wer sich auf Diskussionen und Verhandlungen einläßt, obwohl er weiß, daß Unrecht geschieht, wer Gehorsam erkaufen oder durch Schmeichelei sicherstellen will, sich am Ende aber doch auf einen Kompromiß einläßt, der handelt nicht aus Liebe, sondern aus Nützlichkeitserwägungen oder Gefühlsduselei. ERZ 290.3

“Leichtfertigen Menschen ist ihre Sünde gleichgültig — ja, sie spotten darüber ...”1 Sünde darf man nicht leicht nehmen, denn sie hat einen unheimlichen Einfluß auf den, der sündigt. In den Sprüchen heißt es anschaulich: “Wer Gottes Gebote mißachtet, dreht sich selbst einen Strick und ist gefangen in seiner Schuld. Wer sich nicht beherrschen kann, schaufelt sich sein eigenes Grab.”2 Eltern und Lehrer fügen ihren Schutzbefohlenen unendlichen Schaden zu, wenn sie aus falscher Rücksichtnahme tatenlos zuschauen, wie sich die Kinder in den Fallstricken fragwürdiger Gewohnheiten verfangen. ERZ 291.1

Der Drang nach Freiheit ist jungen Menschen angeboren. Sie wollen frei und ungebunden sein. Deshalb fällt es ihnen nicht leicht zu lernen, daß Freiheit zwar ein wertvolles, aber auch ständig gefährdetes Gut ist. Wirkliche Freiheit läßt sich nur im Gehorsam gegenüber Gottes Willen erlangen. Und nur durch Gottes Gebote bleibt uns die Freiheit auch erhalten, denn sie machen die Dinge sichtbar, die uns erniedrigen und versklaven. Deshalb ist Gehorsam der beste Schutz gegen die Macht des Bösen. Der Psalmdichter sagt: “Du gewährst mir großen Freiraum für mein Leben, weil ich deine Ordnungen beständig erforsche.”3 Und: “Über deine Gesetze freue ich mich sehr, denn sie sind hervorragende Ratgeber.”4 ERZ 291.2

Allerdings müssen sich Erzieher in ihrem Bemühen, dem Unrecht zu widerstehen, vor Nörgelei und Kritiksucht hüten. Ständige Kritik verunsichert, ohne wirklich etwas zu verändern. Auf Kinder wirkt eine lieblos kritische Atmosphäre lähmend, vor allem, wenn sie empfindsam sind. Es ist beinahe so wie mit den Blumen, die sich auch nicht richtig entfalten können, wenn ständig ein scharfer, kalter Wind über sie hinwegstreicht. ERZ 291.3

Ein Kind, das dauernd wegen eines bestimmten Fehlers gerügt wird, muß schließlich zu dem Schluß kommen, daß es sinnlos ist, dagegen anzukämpfen, weil es sowieso nichts nützt. Meist sieht es dann so aus, als sei es gleichgültig oder frech, dabei ist es nur entmutigt und hat die Hoffnung aufgegeben. Veränderungen sind nur dann zu erwarten, wenn nicht wild draufloskritisiert, sondern zur Einsicht geführt und an den Willen des Kindes appelliert wird. Wenn das gelungen ist, muß man das Kind an die Quelle der Vergebung und der Kraft heranführen. Es ist wichtig, daß ihm die Selbstachtung erhalten bleibt und daß ihm Hoffnung vermittelt und Mut gemacht wird. ERZ 292.1

Das ist die schönste, aber auch die schwierigste Aufgabe, die Erzieher zu erfüllen haben. Sie verlangt Takt und Einfühlungsvermögen, Einsicht in die Psyche des Menschen und gottgegebene Zuversicht und Geduld. Man muß willens sein, sich einzusetzen, zu wachen und zu warten. Aber es gibt nichts Wichtigeres! ERZ 292.2

Wer andere Menschen leiten will, muß sich zuerst selbst im Griff haben. Wenn man mit Kindern und Jugendlichen unbeherrscht umgeht, hat das bittere Folgen. Eltern oder Lehrer sollten lieber schweigen, als aufbrausend zu reagieren und im Zorn Dinge zu sagen, die sie hinterher bereuen. Im Schweigen liegt eine wunderbare Kraft. ERZ 292.3

Jeder Lehrer hat es auch mit schwierigen Kindern zu tun, die seine Geduld und seinen guten Willen bis zur Schmerzgrenze strapazieren. Im Umgang mit ihnen sollte er nicht vergessen, daß auch er einmal ein Kind war, das erzogen werden mußte und anderen viel Arbeit gemacht hat. Und nicht nur das: Selbst als Erwachsener macht er trotz seines Alters und seiner Erfahrung Fehler und ist auf die Geduld und Barmherzigkeit anderer angewiesen. Wer Jugendliche ausbildet, sollte sich daran erinnern, daß er es mit Menschen zu tun hat, die ähnliche schlechte Neigungen mitbringen wie er. Sie müssen alles erst lernen, und manchen fällt das schwerer als anderen. Mit schwachen Schülern muß er geduldig sein und darf sie nicht als unfähig bloßstellen. Vielmehr sollte er keine Gelegenheit auslassen, sie zu ermutigen. Sensible, nervöse Schüler müssen feinfühlig behandelt werden. Das Bewußtsein seiner eigenen Unzulänglichkeiten sollte den Lehrer veranlassen, gerade denen, die mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, geduldig und liebevoll zu begegnen. ERZ 292.4

Alle, die mit der Erziehung von Kindern und Jugendlichen zu tun haben, sollten sich die Weisung Jesu zu eigen machen: “Behandelt jeden so, wie ihr selbst von ihm behandelt sein wollt.”1 Und das gilt nicht nur für die “pflegeleichten” Kinder, sondern erst recht und gerade für diejenigen, die uns Mühe machen. Die einen wie die anderen gehören zur Familie Gottes und sind mit uns gemeinsam Erben des Lebens, das wir alle nur deshalb empfangen werden, weil Gott gnädig mit uns ist. ERZ 293.1

Jesu Lebensregel verbietet es dem Lehrer, einen Schüler wegen irgendwelcher Fehler oder Mängel öffentlich bloßzustellen oder gar lächerlich zu machen. Und wenn eine angemessene Strafe unumgänglich ist, dann sollte sie die Würde des Schülers nicht verletzen und auf keinen Fall als öffentliche “Hinrichtung” zelebriert werden. Ein guter Lehrer wird auch nicht dafür stimmen, daß ein schwieriger Schüler von der Schule verwiesen wird, bevor nicht alles versucht wurde, ihn zur Besserung zu bewegen. Wenn allerdings kein Wandel zum Guten zu erreichen ist, weil der Schüler aufsässig reagiert und seine Mißachtung der Autorität die Schuldisziplin untergräbt, oder wenn er einen schlechten Einfluß auf andere Schüler ausübt, ist es unumgänglich, ihn von der Schule zu entfernen. Dabei sollte aber immer bedacht werden, daß ein “öffentlicher Rausschmiß” gerade junge Menschen so verletzen kann, daß sie danach völlig den Halt verlieren und ins eigene Verderben rennen. Wenn es denn keine andere Möglichkeit mehr gibt als die, einen Schüler von der Schule zu verweisen, dann sollte das nicht an die große Glocke gehängt werden. Es läßt sich fast immer ein Weg finden, daß solch eine Disziplinarmaßnahme nach Rücksprache mit den Eltern und durch gemeinsame Überlegungen ohne großes Aufsehen vollzogen werden kann. ERZ 293.2

Wir leben in einer gefahrvollen Zeit, in der junge Menschen vielen Versuchungen ausgesetzt sind. Mit dem Strom zu schwimmen ist leicht, gegen ihn dagegen schwer. Die Gefahr des Abdriftens ist für gläubige junge Leute allgegenwärtig. Deshalb sollte sich eine christliche Schule als Rettungsinsel für unsere bedrängten Jugendlichen verstehen. Sie sollte ein Ort sein, an dem man auch mit ihren Torheiten klug und geduldig umgeht. Verantwortungsbewußte Lehrer werden sich darum bemühen, daß es in ihrem Wesen und in ihrem Leben nichts gibt, was sie davon abhält, auch mit eigenwilligen und unbotmäßigen Schülern angemessen umzugehen. Liebe und Freundlichkeit, Geduld und Selbstbeherrschung wird ihre Gespräche bestimmen. Ihr Gerechtigkeitssinn wird von Barmherzigkeit und Mitleid geleitet sein. Zurechtweisung wird nicht scharf oder spöttisch geschehen, sondern verständnisvoll und gewinnend. Für einen Lehrer ist es besser, sich in Sachen Barmherzigkeit zu irren als in Sachen Strenge. ERZ 294.1

Im übrigen zeigt die Erfahrung, daß viele junge Leute innerlich gar nicht so unverbesserlich und verhärtet sind, wie es nach außen den Anschein hat. So mancher hoffnungslose Fall war plötzlich keiner mehr, weil ein Lehrer den Panzer der Abwehr durch freundliche Behandlung und kluge Erziehungsmaßnahmen aufbrechen konnte. Deshalb kann man Erziehern nur raten: Versucht das Vertrauen schwieriger Schüler zu gewinnen, kümmert euch um die guten Seiten ihres Charakters und fördert sie, macht den jungen Leuten Mut. Sie werden dann nämlich immer wieder erfahren, daß sich nach und nach positive Veränderungen einstellen und scheinbar unüberwindbare Probleme plötzlich gelöst werden können. Und wir stehen in dieser Hinsicht ja nicht allein. Jesus Christus, der göttliche Lehrer, trägt die irrenden jungen Menschen auch in den rebellischen Phasen ihres Lebens mit Geduld. ERZ 294.2

Seine Liebe erkaltet nicht. Mit offenen Armen wartet er auf die Verirrten, die Aufbegehrenden — sogar auf die, die sich von ihm abgewandt haben — und nimmt sie wieder bei sich auf. Es berührt ihn zutiefst, wenn er sieht, daß ein hilfloses Kind schroff und lieblos behandelt wird. Kein Notschrei verhallt bei ihm ungehört. Christus liebt alle Menschen, aber den unfertigen, ungestümen, halsstarrigen und verlorenen ist er besonders zugetan, weil er die Ursachen für ihr Verhalten kennt. Um sie sorgt er sich am meisten. ERZ 294.3

Und wenn Jesus die Sache der Traurigen, Leidenden und Angefochtenen zu seiner eigenen macht, dann gibt es keinen Grund dafür, daß wir das nicht auch tun sollten. Wir sollten ebenso wie er “mit den unwissenden und irrenden Menschen fühlen und sie verstehen”.1 Wie steht es denn mit uns? Behandelt uns Jesus nicht weitaus besser als wir es verdienen? Deshalb sollten wir mit anderen so umgehen, wie er es mit uns tut. Jede erzieherische Maßnahme, die nicht dem entspricht, was Christus unter den gleichen Umständen getan hätte, ist fragwürdig. ERZ 295.1

Wenn der Mensch den Kinderschuhen entwachsen und dem Einfluß der Eltern und Lehrer entzogen ist, hört die Erziehung ja nicht auf. Nun erzieht ihn das Leben — und dessen Erziehungsmethoden sind nicht selten hart und unbequem. Ziel der Erziehung in Elternhaus und Schule muß es deshalb sein, die jungen Leute auf die mitunter recht rauhe Wirklichkeit vorzubereiten. Es ist wahr, daß Gott uns liebt, und daß er uns glücklich sehen möchte. Wenn wir uns stets nach seinem Willen richten würden, bliebe uns viel Leid erspart. Aber das ist ja leider nicht der Fall. Deshalb müssen wir immer wieder am eigenen Leibe erfahren, wieviel Schmerz, Mühsal und Belastung durch die Sünde in die Welt und unser eigenes Leben eingedrungen sind. Wenn wir die Kinder lehren, das alles auf sich zu nehmen, geben wir ihnen etwas unschätzbar Wichtiges mit auf den Lebensweg. ERZ 295.2

Wenn Kinder in Schwierigkeiten geraten, sollten wir Mitgefühl zeigen. Allerdings darf das nicht in einer Art geschehen, die sie in der Neigung bestätigt, sich selbst zu bemitleiden. Selbstmitleid hilft nicht weiter. Wir dürfen sie nicht verhätscheln und jeden Windhauch von ihnen fernhalten, sondern müssen ihnen Mut und Kraft vermitteln, auch in unbequemen und schwierigen Lebenslagen durchzuhalten. Unser Leben ist nämlich kein Ort, an dem Paraden oder Scheingefechte abgehalten werden, sondern ein Kriegsschauplatz, auf dem es um Leben oder Tod geht. Jeder muß Härten ertragen und mit Ungerechtigkeiten leben. Da wird Stärke und Durchhaltevermögen verlangt. Junge Leute müssen lernen, daß wahre Charakterstärke in der Bereitschaft besteht, Belastungen auf sich zu nehmen, nicht den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und die Arbeit zu tun, die gerade dran ist, auch wenn sie keinen weltlichen Lohn und keine Ehre einbringt. ERZ 295.3

Prüfungen darf man nicht aus dem Wege gehen — das gelingt ohnehin nicht auf die Dauer —, sondern man muß sich ihnen stellen und mit ihnen so umgehen, daß sie einem noch zum Segen werden können. Es ist gut, wenn junge Leute so früh wie möglich an diese Sicht der Dinge gewöhnt werden. Wer die Erziehung der Kleinen schleifen läßt, sorgt dafür, daß sich negative Neigungen vertiefen und falsche Verhaltensweisen festigen. Das macht notwendige Korrekturen in späterer Zeit nur um so schwieriger und qualvoller, zumal Erziehung an sich schon ein schmerzhafter Prozeß ist, weil er sich oft gegen unsere natürlichen Wünsche und Neigungen richtet. ERZ 296.1

Unsere Kinder müssen lernen, daß jeder Fehler, jedes Versagen und jede Schwierigkeit eine Sprosse auf der Leiter sein kann, die zu Höherem und Besserem führt. Diese Erfahrung mußten alle machen, deren Leben lebenswert und erfolgreich war. ERZ 296.2

“Zur Höhe, die die Großen einst erklommen,
gelangten niemals sie in schnellem Flug.
Bei Nacht, mit Mühe wurde sie genommen,
als andre süß der Schlaf ins Traumland trug.
ERZ 296.3

Wir wachsen nur an dem, was wir bezwingen;
die Sucht, im Kampf gemeistert, schafft Gewinn.
Indem wir Stolz und Lüste niederringen
und jedes Übel, reift der Edelsinn.
ERZ 296.4

Was heute und auch morgen mag geschehen,
was mit dem Augenblick entsteht, verrinnt.
Des Alltags Freuden und die Kummerwehen
nur Stufen auf dem Weg zur Höhe sind.”
ERZ 296.5

Wir sollten nicht auf das bauen, “was man sieht, sondern auf das, was jetzt noch keiner sehen kann. Denn was wir jetzt sehen, besteht nur eine gewisse Zeit. Das Unsichtbare aber besteht ewig.”1 ERZ 297.1

Die Veränderung, die in uns vorgeht, wenn wir selbstsüchtige Wünsche und Neigungen aufgeben, ist kein schlechter Tausch, denn, indem wir auf Unbeständiges und Vergängliches verzichten, wächst uns das Beständige und Unvergängliche zu. Das ist kein Verlust, sondern Gewinn. ERZ 297.2

Das “Zauberwort” der Erziehung heißt: Besseres anbieten! Wenn Christus uns auffordert, etwas aufzugeben, bietet er uns dafür stets etwas Besseres an. Junge Leute beschäftigen sich häufig mit vordergründigen Dingen, schmieden unbedacht Pläne oder nehmen an Vergnügungen teil, die sie von ihrer eigentlichen Aufgabe abhalten und vom Ziel wegführen. Man mag das bedauern, aber das ist einfach so. Wir sollten uns auch nicht vormachen, man könne sie auf dem “Verordnungsweg” durch Ermahnungen und Verbote von dem abbringen, was ihnen Spaß macht. Die einzige Chance, die wir haben, heißt: ihnen etwas Besseres anbieten als Äußerlichkeiten, die Erfüllung ihrer materiellen Wünsche, die Befriedigung ihres Ehrgeizes und die Pflege ihres Ichs. ERZ 297.3

Sie müssen wahre Schönheit, sinnvolle Grundsätze und eine bessere Lebensweise kennenlernen. Führt sie zu Christus, der uneingeschränkt liebenswert ist. Wenn sie ihn erkennen, finden sie den Mittelpunkt ihres Lebens. Die Begeisterungsfähigkeit, die kompromißlose Hingabe und die leidenschaftliche Einsatzbereitschaft der Jugend findet in ihm ein lohnendes Ziel. Wo Christus die Mitte des Lebens ist, wird Pflicht zur Freude und Opfer zum Bedürfnis. Ihn zu ehren, ihm ähnlicher zu werden und sich für ihn einzusetzen, wird ihr wichtigstes Bestreben und ihre größte Freude sein. ERZ 297.4

“Was wir auch tun, wir tun es aus der Liebe, die Christus uns geschenkt hat.”2 ERZ 297.5