Erziehung

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Kapitel 32: Vorbereitung

“Setze alles daran, daß du in deiner Arbeit zuverlässig bist
und dich dafür nicht schämen mußt.”

2.Timotheus 2,15.

In der Regel ist die Mutter die erste Lehrerin des Kindes. In den Lebensjahren, in denen die Kinder am empfänglichsten sind und sich am schnellsten entwickeln, liegt die Erziehung überwiegend in ihren Händen. Sie hat die erste Möglichkeit, den Charakter ihres Kindes positiv oder negativ zu formen. ERZ 275.1

Jede Mutter sollte wissen, wie prägend gerade ihr Einfluß für das Leben des Kindes ist. Eigentlich müßte sie für ihre Erziehungsaufgabe besser ausgebildet sein als jeder andere Lehrer. Leider ist das weithin nicht der Fall, im Gegenteil. Auf kaum etwas werden junge Leute weniger vorbereitet als auf die Elternschaft. Obwohl jeder weiß, daß die Mutter den größten erzieherischen Einfluß auf ihr Kind hat, wird so gut wie nichts getan, um sie für diese Aufgabe zu befähigen. ERZ 275.2

Häufig haben junge Mütter nur verschwommene Vorstellungen von den körperlichen Bedürfnissen eines Säuglings oder Kleinkindes. Sie wissen wenig darüber, wie man ein Kind gesund erhält und seine Entwicklung fördert. Genauso wenig Ahnung haben sie von seinen seelischen, geistigen oder geistlichen Bedürfnissen. Sie wissen vielleicht, wie man Geschäfte abwickelt und sich auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegt; möglicherweise haben sie beachtliche literarische oder naturwissenschaftliche Erfolge aufzuweisen, aber Kindererziehung ist für sie ein weißer Fleck. Sie wissen auch nicht, daß eine wesentliche Ursache für die hohe Kindersterblichkeit darin besteht, daß viele Kinder zuwenig Zuwendung und sachkundige Fürsorge empfangen. Und wenn solche Kinder überleben und erwachsen werden, leiden sie ihr Leben lang — vor allem seelisch — an den Folgen dieser frühkindlichen Erfahrungen. ERZ 275.3

Mütter und Väter tragen große Verantwortung für die frühkindliche und spätere Erziehung ihrer Kinder. Deshalb ist es für beide Elternteile wichtig, sich auf diese Aufgabe gründlich vorzubereiten. Bevor sich junge Eheleute zur Elternschaft entschließen, sollten sie sich mit den Gegebenheiten der körperlichen Entwicklung eines Kindes vertraut machen: mit Physiologie und Hygiene, mit der Bedeutung vorgeburtlicher Einflüsse und der Erbanlagen, mit Gesundheitspflege und zweckmäßiger Kleidung, mit Bewegungsübungen und der Behandlung von Krankheiten. Und nicht weniger wichtig: sie sollten etwas über die seelische und geistige Entwicklung eines Kindes wissen. ERZ 276.1

Wie wichtig Kindererziehung für Gott ist, geht aus einer alttestamentlichen Geschichte hervor. Nachdem ein Gottesbote dem Israeliten Manoach und seiner bis dahin kinderlosen Frau die Geburt eines Sohnes, Simson, angekündigt hatte, betete der werdende Vater: “Bitte, Herr, schick doch deinen Boten noch einmal zu uns, damit er uns genau sagt, was wir mit dem Jungen tun sollen, den wir bekommen.”1 Gott reagierte auf diese Bitte prompt, indem er den Engel ein zweites Mal mit detaillierten Anweisungen zu den angehenden Eltern sandte. ERZ 276.2

Erziehung wird nur dann ihr Ziel erreichen, wenn die Eltern diese Verantwortung bewußt übernehmen und sich gewissenhaft auf die Elternschaft vorbereiten. ERZ 276.3

Daß Lehrer eine fundierte Ausbildung brauchen, ist unbestritten, aber über die Frage, welche Lehrinhalte am wichtigsten sind, und worauf angehende Pädagogen am dringendsten vorbereitet werden müßten, gehen die Meinungen weit auseinander. Wenn Lehrer dann im Schuldienst tätig sind, merken sie sehr schnell, daß Fachwissen allein — sei es auf naturwissenschaftlichem oder geisteswissenschaftlichem Gebiet oder in anderen Bereichen — für die Erziehungsarbeit an jungen Menschen nicht ausreicht. Lehrer brauchen nicht nur Geistesschärfe, sondern geistige Weite, nicht nur fachliche Kompetenz und Begeisterung für ihren Beruf, sondern auch ein weites, warmes Herz für ihre Schüler. ERZ 276.4

Gott hat den menschlichen Verstand geschaffen und die Gesetzmäßigkeiten festgelegt, nach denen er arbeitet. Deshalb weiß er auch am besten, wie man ihn entwickeln und fördern kann. Darum können auch nur die Erziehungsgrundsätze, die er uns vermittelt, eine sichere Richtschnur sein. Sie sind eine Grundvoraussetzung für den Lehrer, und wenn er diese Regeln kennt und akzeptiert, müssen sie zunächst sein eigenes Leben bestimmen. ERZ 277.1

Lebenserfahrung ist wichtig, aber Ordnungssinn und Sorgfalt, Pünktlichkeit, Selbstbeherrschung, ein ausgeglichenes Wesen, Opferbereitschaft, Ehrlichkeit und rücksichtsvolles Verhalten sind ebenso wichtige Eigenschaften. ERZ 277.2

Heutzutage wachsen viele junge Menschen in einer Welt auf, die geprägt ist von Charakterlosigkeit und Heuchelei. An der Einstellung, dem Verhalten und der Sprache ihrer Lehrer sollten die Schüler erkennen, daß ihre Erzieher anders sind: ehrlich, zuverlässig, rechtschaffen und anständig. Junge Leute haben ein feines Gespür dafür, was echt ist oder vorgetäuscht wird, was von Herzen kommt oder aufgesetzt ist. Die beste Art, die Achtung oder gar Zuneigung seiner Schüler zu gewinnen, besteht für den Lehrer darin, sich selbst an die Prinzipien zu halten, die er sie lehrt. Nur so wird er auf die Dauer einen positiven und nachhaltigen Einfluß auf die Schüler ausüben können. ERZ 277.3

Nahezu alle anderen Eigenschaften des Lehrers, die zu seinem Erfolg beitragen, erfordern vor allem körperliche Ausdauer und seelische Spannkraft. Je gesünder er ist, desto mehr kann er leisten. Lehrer tragen eine schwere Verantwortung und haben einen nervenaufreibenden Dienst. Deshalb sollten sie bewußt und gezielt auf ihre Gesundheit achten. Oft sind Lehrer geistig und seelisch so ausgelaugt, daß sie gereizt und abweisend reagieren oder gar depressiv werden. Wenn es erst einmal so weit gekommen ist, gestaltet sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis schwierig. Deshalb sollten Lehrer schon im Vorfeld alles tun, was solch einer Entwicklung vorbeugt. Das heißt: sie müssen auf ihre körperliche, seelische und geistige Gesundheit achten. ERZ 277.4

Auch im Lehrerberuf geht Qualität vor Quantität. Erzieher geraten schnell in die Gefahr, sich zu überfordern und die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit zu überschreiten. Da sie meist beruflich voll gefordert sind, sollten sie sich außerhalb ihres Berufs nicht zu viel Verantwortung aufladen oder aufbürden lassen. Und bei der Freizeitgestaltung sollten sie darauf achten, daß sie sich wirklich erholen können. Erfahrungsgemäß erholen sich Leib, Seele und Geist am besten bei Tätigkeiten an der frischen Luft. Und wenn die Schüler sehen, daß ihr Lehrer auch zupacken kann, werden sie ebenfalls dazu angeregt und lernen auf diese Weise körperliche Arbeit schätzen. ERZ 278.1

Wichtig ist auch, daß der Lehrer in jeder Hinsicht die Regeln einer gesunden Lebensweise beachtet. Er sollte in allen Lebensbereichen ein vernünftiges, ausgeglichenes Leben führen, sei es nun in Sachen Ernährung, Kleidung, Arbeit oder Freizeit. Das ist nicht nur für ihn selber von Vorteil, sondern hat auch Signalwirkung für seine Schüler. ERZ 278.2

Selbstverständlich braucht er neben körperlicher Gesundheit und charakterlicher Reife auch eine gute fachliche Ausbildung. Je umfangreicher sein Wissen ist, desto besser wird sein Unterricht sein. Im Klassenzimmer reichen oberflächliche Kenntnisse nicht aus. Lehrer, die sich mit Halbwissen zufriedengeben und sich nicht weiterbilden, können keine wirklich gute Arbeit leisten. Andererseits nützt großes Wissen wenig, wenn es nicht mit einer klar umrissenen Zielstellung eingesetzt wird. Ein Lehrer sollte nicht meinen, er werde seinem Erziehungsauftrag gerecht, wenn er nichts weiter tut, als seinen Schülern trockenen Lehrstoff einzubläuen. Gute Lehrer wollen nicht nur Wissen vermitteln, sondern ihre Schüler zu geistiger Arbeit anspornen und sie charakterlich formen. Um das zu erreichen, werden sie immer wieder ihre Lehrmethode überprüfen und gegebenenfalls ändern. ERZ 278.3

Keine Frage, ein Lehrer sollte pädagogisch begabt sein. Er braucht Weisheit, Einfühlungsvermögen und psychologisches Geschick, denn sein “Werkstoff” sind Menschenseelen. Wir brauchen Lehrer, die rasch erkennen, wo sie Gutes bewirken können, die begeisterungsfähig sind und eine Ausstrahlung haben, die den Schülern Respekt abverlangt, Lehrer, die über natürliche Autorität verfügen und fähig sind, den Lehrstoff so zu vermitteln, daß er zu selbständigem Denken anregt, die in den Schülern verborgene Kräfte wecken und ihnen Mut zum Leben vermitteln. ERZ 278.4

Es gibt Lehrer, denen es aus verschiedenen Gründen nicht vergönnt war, sich das wünschenswerte Fachwissen anzueignen. Doch in vielen Fällen hat sich gezeigt, daß dieser Mangel mehr als ausgeglichen werden kann durch eine gute Menschenkenntnis, durch Liebe zum Beruf und den Schülern, durch Verantwortungsbewußtsein, geistige Beweglichkeit, vollen Einsatz und die Bereitschaft, sich weiterzubilden. ERZ 279.1

Lehrer haben es mit jungen Leuten zu tun, die von ihrer Veranlagung, ihren Gewohnheiten und ihrer häuslichen Erziehung her ganz unterschiedlich sind. Manche sind fleißig und wissen genau, was sie wollen. Anderen fehlt die Zielstrebigkeit, und sie haben auch keine festen Grundsätze. Die müssen behutsam dahin geführt werden, daß sie sich ihrer Verantwortung und Möglichkeiten bewußt werden. Es ist traurig, das sagen zu müssen, aber leider ist es so, daß nur wenige Kinder von zu Hause aus eine wirklich gute Erziehung mitbekommen. Manche werden verwöhnt und wissen deshalb gar nicht, was Erziehung ist. Sie dürfen tun, was ihnen gerade einfällt und brauchen keine Verantwortung zu übernehmen. Belastungen kennen sie nicht, weil ihnen alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt werden. Kein Wunder, daß sie später haltlos sind, keine Ausdauer haben und auf nichts verzichten können. Meist betrachten solche Kinder Regeln, Ordnungen und Verbote als unzumutbare Einengung. ERZ 279.2

Andere Kinder werden übermäßig streng erzogen und fühlen sich dadurch gedemütigt und entmutigt. Willkürliche Verbote und Härte haben sie widerspenstig und trotzig gemacht. In vielen Fällen ist es die Aufgabe des Lehrers, solchen charakterlichen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Das verlangt ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Verständnis sowie einen erheblichen Zeitaufwand. ERZ 279.3

Bevor er helfen und korrigieren kann, muß der Lehrer erst einmal die Ursachen für die charakterliche Fehlentwicklung des Schülers herausfinden. Dann sind Feingefühl, pädagogisches Geschick, Geduld und Festigkeit vonnöten, dem Schüler die Hilfe zu geben, die er braucht. Unentschlossene und träge Schüler muß er anspornen und zur Mitarbeit bewegen, den entmutigten muß er Verständnis entgegenbringen, Mut machen und zeigen, welche Fähigkeiten in ihnen stecken. ERZ 279.4

Vielen Lehrern fällt es schwer, mit ihren Schülern freundlichen Umgang zu pflegen und so ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Sie halten mehr Abstand als nötig wäre, pochen auf ihre Autorität und sind eher zum Tadel als zum Lob geneigt. Ein Lehrer muß zwar entschieden und manchmal auch unnachgiebig sein, aber er darf seine Schüler auch nicht überfordern oder unter Druck setzen. Sich seinen Schülern gegenüber hart, streng, distanziert oder gleichgültig zu verhalten heißt: sich die Zugänge zu versperren, durch die man sie zum Guten beeinflussen könnte. ERZ 280.1

Bestimmte Schüler vorzuziehen, ist eine pädagogische Todsünde. Wer die liebenswerten und “pflegeleichten” Schüler begünstigt, den problematischen dagegen kritisch, ungeduldig oder lieblos begegnet, verrät damit, daß er eine völlig falsche Auffassung vom Beruf des Lehrers hat. Gerade im Umgang mit unbequemen oder schwierigen Schülern werden die charakterlichen Eigenschaften des Lehrers erprobt, und es zeigt sich, ob er für seinen Beruf geeignet ist oder nicht. ERZ 280.2

Menschenführung bringt eine große Verantwortung mit sich. Besonders Mütter und Väter nehmen in dieser Beziehung eine Vertrauensstellung ein, der sie sich ihr Leben lang nicht völlig entziehen können. Jeder Mensch wird vom Anfang bis zum Ende seines Lebens spüren, daß die Bindung an seine Eltern ein schier unzerreißbares Band ist — gleichgültig, ob sie positiv oder negativ zu werten ist. Wie die Eltern handeln, reden oder mit ihnen umgehen, wird die Kinder für immer beeinflussen. Lehrer tragen eine vergleichbare Verantwortung. Sie sollten sich dessen bewußt sein, daß auch sie prägend wirken, und daß dies ein göttlicher Auftrag ist, der auf ein ganz bestimmtes Ziel ausgerichtet ist. ERZ 280.3

Ein Lehrer kann seine Arbeit nicht nur so machen, daß sein Arbeitgeber zufriedengestellt und der gute Ruf der Schule gewahrt bleibt. Seine Berufung ist es vielmehr, junge Menschen auf dem Weg ins Leben zu begleiten und jeden einzelnen so zu fördern, daß er später seinen Aufgaben in Familie und Gesellschaft gerecht werden kann. Der Einfluß, den Lehrer und Erzieher auf ihre Schüler ausüben, reicht weit über die direkte Lehrer-Schüler-Beziehung hinaus. Denn jeder Schüler beeinflußt seinerseits wieder andere Menschen und die wiederum andere, so daß sich letztlich eine Einflußkette bildet, die in irgendeiner Form bis ans Ende der Zeit weiterwirkt. Für die Früchte seiner Arbeit muß schließlich jeder Mensch — zwar nicht nur Eltern und Lehrer, aber sie gerade — an jenem Tag einstehen, wenn jede Tat und jedes Wort von Gott beurteilt wird. ERZ 280.4

Wenn sich ein Lehrer das bewußt macht, wird er nicht mehr sagen können, seine Aufgabe sei erfüllt, wenn er sein tägliches Unterrichtspensum hinter sich gebracht hat und die Schüler für den Rest des Tages seiner direkten Einflußnahme entzogen sind. Er wird sich vielmehr über das Unterrichtsgeschehen hinaus fragen, inwieweit er dazu beitragen kann, daß seine Schüler in der bestmöglichen Weise auf ihr späteres Leben vorbereitet werden. Dafür wird er alles tun, was in seinen Kräften steht. Vor allem wird er sich bemühen, das, was er seine Schüler lehrt und was er von ihnen verlangt, im eigenen Leben zu verwirklichen. ERZ 281.1

Da wird es nicht ausbleiben, daß er eigene Mängel erkennt und spürt, wo er trotz allen guten Willens an seine Grenzen stößt. Vielleicht wird er dann wie der Apostel Paulus fragen: “Wer ist für diese große Aufgabe geeignet?”1 ERZ 281.2

Lieber Lehrer, wenn dir bewußt wird, wie nötig du Christi Kraft und Führung brauchst, weil du von keinem Menschen wirklich Hilfe erwarten kannst, denke an seine wunderbaren Verheißungen. Es gibt keinen besseren Ratgeber als ihn. Er sagt: “Siehe, ich habe dir eine Tür geöffnet, die niemand verschließen kann. Deine Kraft ist klein; doch du hast an meinem Wort festgehalten und dich unerschrocken zu mir bekannt.”2 Oder: “Rufe zu mir, dann will ich dir antworten und dir große und geheimnisvolle Dinge zeigen, von denen du nichts weißt!”1 Und in den Psalmen läßt Gott dir sagen: “Ich sage dir, was du tun sollst und zeige dir den richtigen Weg. Ich lasse dich nicht aus den Augen.”2 Und darüber hinaus sagt Jesus: “Ihr dürft sicher sein: Ich bin immer und überall bei euch, bis an das Ende dieser Welt!”3 ERZ 281.3

Wenn du wissen willst, wie du deiner hohen erzieherischen Verantwortung am besten gerecht werden kannst, dann schaue auf Jesus — auf seine Worte, sein Leben und seine Arbeitsweise. Die Erkenntnisse, die du dabei gewinnst, werden nicht ohne Rückwirkung auf deine Arbeit bleiben, denn es ist so, wie der Apostel Paulus sagt: “Wir alle sehen ... die Herrlichkeit des Herrn. Dabei werden wir selbst in das verwandelt, was wir sehen, und bekommen mehr und mehr Anteil an seiner Herrlichkeit.”4 ERZ 282.1

Hier liegt das Geheimnis, wie du deine Schüler gewinnen kannst: Bewege dich selbst im Einflußbereich Christi, und du wirst erfahren, wie sich sein Wesen in deinem Leben widerspiegelt. ERZ 282.2