Frühe Schriften von Ellen G. White

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Kapitel 3: Der Erlösungsplan

Der Himmel wurde mit Trauer erfüllt, als bekannt wurde, daß der Mensch verloren sei und die Welt, die Gott geschaffen hatte, mit sterblichen Wesen erfüllt würde, die zu Elend, Krankheit und Tod verurteilt waren. Es gab keinen Ausweg für den Übertreter. Die ganze Familie Adams mußte sterben. Dann sah ich Jesus und bemerkte auf seinem Angesicht einen Ausdruck des Mitgefühls und der Sorge. Bald sah ich, wie er sich dem strahlenden Licht näherte, das den Vater umgab. Mein begleitender Engel sagte: “Er hat eine geheime Unterredung mit seinem Vater.” Während Jesus mit dem Vater redete, schien die Unruhe der Engel auf das höchste gespannt zu sein. Dreimal wurde Jesus vom herrlichen Licht, das den Vater umgab, umschlossen, und als er das dritte Mal vom Vater kam, konnte man seine Gestalt sehen. Sein Angesicht war ruhig, frei von aller Angst und allem Zweifel und strahlte von Wohlwollen und Lieblichkeit, wie es Worte nicht beschreiben können. Dann machte er der Engelschar bekannt, daß für den verlorenen Menschen ein Ausweg bereitet sei. Er sagte ihnen, daß er mit seinem Vater darüber gesprochen und sein eigenes Leben als Lösegeld angeboten habe, daß er das Urteil des Todes auf sich nehmen wolle, damit der Mensch durch ihn Vergebung erlangen könnte. Durch die Verdienste seines Blutes und durch Gehorsam gegen das Gesetz Gottes könne der Mensch wieder die Gunst Gottes erlangen, wieder in den herrlichen Garten gebracht werden und von der Frucht des Lebensbaumes essen. FS 135.1

Zuerst konnten sich die Engel nicht darüber freuen; denn ihr Gebieter verheimlichte ihnen nichts, sondern legte ihnen den Erlösungsplan offen dar. Jesus sagte ihnen, daß er zwischen dem Zorn seines Vaters und der schuldigen Menschheit stehen und Missetat und Verachtung tragen wolle. Aber nur wenige würden ihn als den Sohn annehmen. Fast alle würden ihn hassen und verwerfen. Er würde all seine Herrlichkeit im Himmel verlassen, als Mensch auf Erden erscheinen, sich selbst als Mensch erniedrigen und durch seine eigene Erfahrung mit den verschiedenen Versuchungen bekannt werden, denen der Mensch ausgesetzt sei, damit er denen eine Hilfe sein könne, die versucht würden. Wenn er dann seine Mission als Lehrer beendet hätte, müsse er in die Hände der Menschen überantwortet werden und fast jegliche Schmähung und Qual erdulden, wozu Satan und seine Engel gottlose Menschen anstiften könnten. Er müsse des grausamsten Todes sterben und als ein schuldiger Sünder zwischen Himmel und Erde hängen. Er müsse schreckliche Stunden der Todesangst erleiden, die selbst die Engel nicht mit ansehen könnten, sondern ihre Angesichter vor dem Anblick bedecken würden. Aber er müsse nicht nur die Angst des Leibes erdulden, sondern auch Seelenangst, mit der die körperlichen Leiden in keiner Weise verglichen werden könnten. Die Sündenlast der ganzen Welt würde auf ihm ruhen. Er sagte ihnen, daß er sterben und am dritten Tage wieder auferstehen und zu seinem Vater aufsteigen wolle, um für den widerspenstigen, schuldigen Menschen zu bitten. FS 135.2

Die Engel fielen vor ihm nieder und boten ihr Leben zum Opfer an. Jesus sagte ihnen, daß er durch seinen Tod viele retten, daß aber das Leben eines Engels die Schuld nicht tilgen könne. Sein Leben allein könne vom Vater als Lösegeld für den Menschen angenommen werden. Jesus sagte ihnen auch, daß sie an seinem Werke Anteil haben, bei ihm sein und zu verschiedenen Zeiten ihn stärken sollten. Er würde die Natur des gefallenen Menschen annehmen; ja, seine Kraft würde sogar geringer sein als die ihrige. Die Engel sollten Zeugen seiner Demütigung und seiner großen Leiden sein. Wenn sie dann seine Qualen und den Haß der Menschen gegen ihn sähen, so würden sie mit tiefster Rührung erfüllt werden und wegen ihrer Liebe zu ihm wünschen, ihn von seinen Mördern zu befreien und zu erretten. Sie sollten aber nicht eingreifen, um irgend etwas zu verhindern, was sie sehen würden. Sie sollten aber einen Anteil an seiner Auferstehung haben. Der Erlösungsplan war ausgedacht, und sein Vater hatte diesen Plan angenommen. FS 136.1

Mit heiliger Traurigkeit tröstete und ermutigte Jesus die Engel und sagte ihnen, daß nach alldem die, die er erlösen werde, bei ihm sein würden, und daß er durch seinen Tod viele loskaufen und den, der des Todes Gewalt hat, vernichten werde. Sein Vater würde ihm das Reich und alle Gewalt und Macht des Reiches unter dem ganzen Himmel geben, und er würde es für immer und ewig besitzen. Satan und die Sünder würden vernichtet werden, um niemals wieder den Frieden des Himmels oder der gereinigten neuen Erde zu stören. Er gebot der himmlischen Schar, sich mit dem Plan zu befreunden, den sein Vater angenommen habe, und sich zu freuen, daß durch seinen Tod der gefallene Mensch wieder mit Gott versöhnt werden und sich des Himmels erfreuen könne. FS 137.1

Da erfüllte Freude, unaussprechliche Freude den Himmel, und die himmlischen Scharen sangen ein Lied zur Anbetung und zum Preis. Sie spielten auf ihren Harfen und sangen einen Ton höher als zuvor, um der großen Gnade und Herablassung Gottes willen, die den einzig geliebten Sohn für den rebellischen Menschen in den Tod gab. Dann brachten sie Preis und Anbetung für die Selbstverleugnung und das Opfer des Heilandes dar, der bereit war, des Vaters Schoß zu verlassen, ein Leben der Leiden und Angst und einen schmählichen Tod zu wählen, damit er anderen Leben geben möchte. FS 137.2

Der Engel sagte: “Glaubst du, daß der Vater seinen geliebten Sohn ohne Kampf dahingab? — Nein, nein! Es war selbst für Gott im Himmel ein Kampf, ob er den schuldigen Menschen verlorengehen lassen oder seinen geliebten Sohn für ihn in den Tod geben sollte.” Die Engel nahmen solch regen Anteil an der Errettung des Menschen, daß unter ihnen solche gefunden werden konnten, die ihre Herrlichkeit und ihr Leben für den verlorenen Menschen hingegeben hätten. “Aber”, sagte mein begleitender Engel, “das würde nicht genügen! Die Übertretung war so groß, daß das Leben eines Engels die Schuld nicht bezahlen könnte. Nur der Tod und die Fürsprache des Sohnes Gottes können die Schuld bezahlen und den verlorenen Menschen von hoffnungslosem Kummer und Elend erlösen.” FS 137.3

Das Werk aber, das den Engeln zugewiesen wurde, bestand darin, mit stärkendem Balsam aus der Herrlichkeit auf- und abzusteigen, um den Sohn Gottes in seinem Leiden zu trösten und ihm zu dienen. Ferner war es ihre Aufgabe, die Untertanen der Gnade vor den bösen Engeln zu behüten und sie vor der Finsternis, die Satan beständig um sie verbreitete, zu bewahren. Ich sah, daß es für Gott unmöglich war, sein Gesetz zu ändern, um den verlorenen, dem Verderben anheimgefallenen Menschen zu retten; deshalb duldete er, daß sein geliebter Sohn für die Übertretung des Menschen starb. FS 138.1

Satan frohlockte wiederum mit seinen Engeln, daß er durch den Fall des Menschen den Sohn Gottes von seiner erhabenen Stellung herabziehen konnte. Er erklärte seinen Engeln, daß, wenn Jesus die Natur des gefallenen Menschen auf sich nehmen würde, er ihn überwinden und die Ausführung des Erlösungsplanes verhindern könne. FS 138.2

Satan wurde mir gezeigt, wie er einst war: ein glücklicher, erhabener Engel. Dann wurde er mir gezeigt, wie er jetzt ist. Er hat noch eine königliche Gestalt. Seine Züge sind noch edel, denn er ist, obwohl gefallen, doch ein Engel. Aber der Ausdruck seines Gesichts ist voller Angst, Sorge, Unzufriedenheit, Bosheit, Haß, Unheil, Betrug, voll alles Bösen. Diese Stirn, die einst so edel war, betrachtete ich besonders. Sie trat von den Augen an zurück. Ich sah, daß er sich solange mit dem Bösen beschäftigt hatte, bis jede gute Eigenschaft verdorben und jeder böse Charakterzug entfaltet war. Seine Augen waren listig und verschlagen, er hatte einen durchdringenden Blick. Seine Gestalt war groß, aber das Fleisch hing schlaff an seinen Händen und an seinem Gesicht. Als ich ihn betrachtete, ruhte sein Kinn auf seiner linken Hand. Er schien tief in Gedanken versunken zu sein. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, das mich erzittern ließ, so voller Bosheit war es und voll satanischer List. So lächelt er, kurz bevor er sich seines Opfers sicher ist, und wenn er dann seine Schlingen immer fester um das Opfer schnürt, wird dieses Lächeln abscheulich. FS 138.3